Back
Kinder glauben, was wir ihnen erzählen.
Sie vertrauen uns vollständig.

Sie glauben, daß es einer Familie Unglück bringen kann,
wenn man in einem Garten eine Rose pflückt.

Sie glauben, dass die Hände eines menschlichen Ungeheuers
zu rauchen beginnen, wenn er jemanden tötet und
dass dieses Ungeheuer beschämt wird,
wenn ihm ein junger Mann gegenübersteht.

Sie glauben, an tausend andere solche Kleinigkeiten.

Ich verlange von Euch etwas von diesem einfachen Kinderglauben,
und damit es uns Glück bringt,
lasst mich die magischen Worte sprechen,
das Sesam-öffne-Dich der Kindheit:

"Es war einmal ..."



Der Schöne und das Tier
Remix von Jean Cocteau's La Belle et la Bête

Es war einmal zu jener Zeit, als die Wälder noch unendlich waren, bevölkert von seltsamen Geschöpfen, und die Nächte noch wahrhaft dunkel, nur vom Schein des Mondes und der Sterne erhellt, da befanden sich ein Kaufmann und sein Sohn auf dem Heimweg von der Küste.
Mit großen Hoffnungen waren sie an jenem Tag aufgebrochen. Zwei Schiffe des Kaufmanns, reichlich beladen mit Waren, seien angekommen, hatte es geheißen. Doch als sie im Hafen eintrafen, hatten sich bereits die Gläubiger des Kaufmanns aller Güter bemächtigt und so mussten sie mit leeren Händen umkehren. Nichts war es mit den Geschenken, die er seinen beiden Töchtern versprochen hatte, seidene Gewänder, Perlen, Fächer und Straußenfedern. Nun konnten sie es sich nicht einmal leisten, in einer Herberge zu übernachten.

"Ach, Orlando," sagte der Vater. "Was soll jetzt nur aus uns werden? Diese beiden Schiffe waren unsere letzte Hoffnung. Wir sind ruiniert."

"Verzweifelt nicht, mein Vater," sprach der Sohn. "Ich bin sicher, daß ich Arbeit finden kann und meine Schwestern sind schon froh, wenn wir beide nur wohlbehalten zurückkehren."

"Aber die Geschenke, die ich Ihnen versprach," begann der Vater aufs Neue. "Wie gerne gäbe ich Ihnen eine Mitgift, die ihrer Schönheit würdig wäre. Und Ihr solltet leben können wie ein Prinz, anstatt Euch als Hauslehrer zu plagen."

"Vielleicht wird sich doch noch alles zum Guten wenden," entgegnete der Sohn hoffnungsvoll. "Vielleicht gelingt es uns, das Unheil abzuwenden. Laßt uns erst einmal nach Hause zurückkehren."

Doch dies war leichter gesagt als getan. Schon senkte der Abend seine Schatten über den Wald. Zwischen den Bäumen wurde es dunkler und dunkler und der Pfad verlor sich im Dämmerlicht. Bald mußten sie feststellen, daß sie vom Weg abgekommen waren.

"Ach, wären wir doch nur schon zu Hause," seufzte der Vater. "Seit heute morgen sind wir schon unterwegs. Ich bin so müde."

"Laßt uns noch ein wenig weiterreiten, Vater. Mir ist, als könnte ich da vor uns einen hellen Schein sehen. Vielleicht lichtet sich dort der Wald und wir können leichter feststellen, wo wir uns befinden."

So ritten Sie weiter und tatsächlich, der Sohn hatte Recht gehabt, bald teilte sich der Wald und sie standen auf einer Lichtung. Vor Ihnen erhob sich, geheimnisvoll im Mondlicht schimmernd, ein prächtiges Schloß.

Der Vater runzelte die Stirn. "Von diesem Schloß habe ich noch nie gehört. Wir haben uns verirrt. Und ich fürchte, wir sind noch weiter von zu Hause entfernt als vermutet."

"Vielleicht gewährt uns der Herr dieses Schlosses Unterkunft. Bei Tageslicht finden wir sicher den Weg zurück. Kommt, laßt ihn uns fragen."

Der alte Mann stimmte sofort zu, die Strapazen des langen Ritts hatten ihm doch sehr zugesetzt.

Links und rechts von der Auffahrt, die sie entlang ritten, erhoben sich Rosenbüsche und dahinter sorgsam gepflegte Hecken. Die Türen der Pferdeställe standen offen. Doch nirgendwo waren Bedienstete zu sehen und auch von den Bewohnern des Schlosses fehlte jede Spur.

Dennoch sattelten sie ihre Pferde ab und führten sie zu den Ställen, wo reichlich Wasser und Stroh für die Tiere vorhanden waren. Als ob man auf sie gewartet hätte.

Zögernd stiegen sie die breiten Stufen empor, die zum Haupteingang führten. Über dem Portal erhob sich ein steinernes Wappen auf dem ein Fabelwesen abgebildet war, mit einem langen Schweif und einem mächtigen Löwenkopf, den Körper zum Sprung gespannt.

"Merkwürdig," brummte der alte Mann. "Was mag das für ein Adelsgeschlecht sein, das hier seinen Sitz hat?"

Auch der Sohn war seltsam befangen; die Stille, die über dem gesamten Anwesen lag war unheimlich – es war, als sei die Zeit an diesem Ort stehengeblieben. Angespannt blickte er hierhin und dahin. Sicher würde jeden Augenblick jemand erscheinen, um sie in Empfang zu nehmen.

Das Schloßportal stand weit offen, doch kein Diener war zu sehen. Schweigend traten sie ein. Vor ihnen erstreckte sich ein langer Korridor, erhellt von Kerzenleuchtern an den Wänden. Mit Staunen bemerkten sie, daß dies keine normalen Kandelaber waren. Nein, es schien als hielten lebendige Arme die sechsarmigen Leuchter und geschickte Finger entzündeten vor ihren Augen eine Kerze nach der anderen. Zwischen den Säulen konnte man im Halbdunkel schemenhaft Gemälde erkennen und weitere Türen und Ausgänge, die hinter schweren, roten Samtvorhängen verborgen waren.

Langsam schritten Sie den Gang entlang, unsicher, ob sie noch doch lieber wieder umkehren sollten. Doch da fiel das Portal hinter ihnen mit einem dumpfen Schlag zu. Unwillkürlich erschraken sie beide.

"Es scheint, man wünsche, daß wir bleiben," bemerkte der Sohn mit gedämpfter Stimme.

"Und ich wünsche mir, daß endlich jemand käme, um uns zu begrüßen. Diese Stille gefällt mir nicht."

Alsbald betraten sie die weite Schloßhalle. Auch hier waren wieder Kerzenleuchter entzündet und im Kamin brannte munter ein Feuer. Doch nicht genug, vor dem Kamin war ein Tisch gedeckt, mit feinem Porzellan und Silbergeschirr. Einladend standen zwei Sessel davor.

"Eine seltsame Gastfreundschaft ist das," sprach der alte Mann. "Der Tisch ist gedeckt, doch anscheinend nur für zwei. Aber ich will mich nicht beklagen, selbst wenn es unserem Gastgeber an Höflichkeit fehlt, an Großzügigkeit mangelt es ihm nicht." Und wirklich, der Tisch bog sich beinahe unter der Last der vielen Speisen, die auf silbernen Tellern angerichtet waren.

Da überlegten der Kaufmann und sein Sohn nicht mehr lange. Entschlossen nahmen sie Platz und griffen herzhaft zu. Die Speisen waren köstlich und auch für einen edlen Tropfen war gesorgt. Das wunderbarste aber war, daß sich, sobald ihre Teller leer waren, magische Arme und Hände aus dem Tisch erhoben und ihnen von neuem auftaten und ihre Gläser wieder füllten.

Je mehr sie sich an Speis und Trank erfreuten, desto mehr besser wurde ihre Stimmung.

"Dieses Zaubertischchen könnte mir gefallen," lachte der alte Mann. "Ich wünschte, so eines besäßen wir auch. Was würden Deine Schwestern staunen."

Bald plauderten sie von alten Zeiten und waren guter Dinge und fühlten sich fast, als ob sie hier zu Hause wären. Die Blicke, die auf sie gerichtet waren, bemerkten sie nicht. Die Statuen links und rechts des Kamins folgten jeder ihrer Bewegungen.

Doch so lebhaft die Unterhaltung zwischen Vater und Sohn war, irgendwann wurden ihre Lider immer schwerer und schließlich schliefen sie in den bequemen Lehnsesseln ein. Tief und fest war ihr Schlaf und die nächtlichen Geräusche von draußen, schnelle Schritte und unheimliches Heulen, drangen nicht bis in ihre Träume.

Vogelgesang weckte sie am nächsten Morgen und hell fiel das Sonnenlicht durch die hohen Fenster.

"Wacht auf, Vater," rief der Sohn und erhob sich schnell. "Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Wir wollen doch zusehen, daß wir wieder nach Hause gelangen."

"Ja, Ihr habt recht. Laßt uns rasch aufbrechen."

Hastig liefen sie zurück zum Ausgang der großen Halle und den langen Korridor entlang. Wie am Abend zuvor war niemand zu sehen und auch dieses Mal stand das Schloßportal weit offen. Schnellen Schrittes eilten sie die Schloßtreppe hinab und waren schon fast an den Ställen, da fielen dem Vater die Rosen ein, die er seiner jüngsten Tochter versprochen hatte.

"Ein Augenblick noch, Orlando," sprach er und gab seinem Sohn die Zügel beider Pferde in die Hand. Verwundert bemerkte der Sohn, daß die Pferde bereits gesattelt waren, gestriegelt und gebürstet.

"Nun, geht es nach Hause," flüsterte er ihnen ins Ohr und fütterte sie mit Äpfeln, die er von der abendlichen Tafel für sie mitgebracht hatte.

Da kam auch schon der Vater, mit einer herrlichen weißen Rose in der Hand. "Und los geht's," rief er.

Plötzlich erhob sich ein schreckliches Gebrüll hinter ihnen. Erschrocken drehten sie sich um und in diesem Moment erblickten sie ihn endlich, den Herren des Schlosses. In edle Kleider war er gehüllt und eine prächtige Kette mit edlen Steinen trug er um den Hals. Aber sein Haupt war das eines Löwen, von einer mächtigen Mähne umrahmt. Und auch seine Haut war nicht eines Menschen, er war über und über behaart, ganz wie ein wildes Tier. Sein entsetzliches Gesicht war vor Wut verzerrt. Er fletschte seine Reißzähne und knurrte laut.

"So, mein Herr. Ihr stehlt also meine Rosen, ausgerechnet das, was mir am teuersten ist. Alles hättet ihr aus meinem Schloß davontragen können, aber nicht meine Rosen. Auf dieses Verbrechen steht die Todesstrafe."

Der Kaufmann fiel zitternd auf die Knie. "Mein Herr, das wusste ich nicht. Ich dachte, es würde niemanden stören. Ich wollte doch nur eine Rose für meine Tochter pflücken."

"Man nennt mich nicht mein Herr. Man nennt mich die Bestie. Spart Euch die Mühe, ich schätze keine Komplimente. Ihr habt fünfzehn Minuten, und nicht mehr, um Euch auf Euren Tod vorzubereiten."

"Mein Herr," rief der Sohn voller Verzweiflung und warf sich vor seinen Vater.

"Schon wieder. Die Bestie befiehlt Euch zu schweigen." Er packte den Kaufmann am Kragen. "Ihr stahlt eine meiner Rosen und dafür werdet Ihr sterben. Es sei denn … es sei denn, Euer Sohn hier erklärte sich einverstanden, an Eurer Stelle hierzubleiben.

"Aber, aber …", stammelte der Kaufmann.

Da wurde die Bestie wütend. "Versucht nicht, mit mir zu handeln. Dies ist Eure einzige Chance."

"Geht, Vater, reitet schnell davon," rief der Sohn und half seinem Vater auf's Pferd. "Ich möchte lieber von der Hand dieses Untiers sterben, als daß ich mir ein Leben lang Vorwürfe mache, Euch hier zurückgelassen zu haben."

Mit Tränen in den Augen ritt der Vater davon. "Lebt wohl, mein Sohn."

Ohne ein Geräusch schlossen sich hinter ihm die mannshohen Hecken, die das gesamte Anwesen umgaben und nichts war von ihm mehr zu sehen noch zu hören.

"Geht zurück ins Schloß, Ihr kennt ja bereits den Weg," sprach das Tier und der Jüngling erhob sich.

Wie betäubt stieg er die breiten Stufen empor und ging durch das Portal, das sich, wie am Abend zuvor, wie von Geisterhand öffnete. Er schritt den langen Gang entlang und kam wieder durch die Schloßhalle. Danach stieg er eine weitere Steintreppe hinauf und kam durch eine lange Gallerie mit vielen Fenstern. Die weißen Vorhänge wehten im Wind und umhüllten ihn wie Schleier.

Schließlich gelangte er zu einer Tür, über der sich links und rechts jeweils ein Arm mit einem Kerzenleuchter erhob.

Leise vernahm er eine Stimme, "Orlando, ich bin die Tür zu Eurem Zimmer."

Voller Staunen betrat er das Zimmer und sah sich um. Es war ein geräumiges Zimmer das elegant eingerichtet war. Überall standen Blumen.

Neugierig lief der junge Mann zum Fenster, als ob da draußen etwas von der Freiheit erblicken könnte, derer er hier drinnen wohl für immer entbehren würde. Doch schnell begriff er, wie sinnlos dies war. Entmutigt sank er auf einem Sessel vor dem Ankleidetisch nieder.

Da hörte er wieder eine Stimme. "Orlando, ich bin Euer Spiegel, ich bin nur für Euch da."

Der junge Mann streckte seine Hand nach dem Spiegel aus und sah hinein. Zunächst war er ganz schwarz, doch dann sah er seinen Vater zu Hause krank darniederliegen. Verzweifelt stand der Jüngling wieder auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

Draußen vor den Fenstern raschelte der Wind in den Bäumen und es war ihm als hörte er Stimmen. "Wer ist da?" rief der Jüngling. Doch niemand antwortete ihm, statt dessen wurde die Felldecke auf dem breiten Lager von unsichtbarer Hand beiseite gezogen. Da wurde es dem jungen Mann zuviel. Er lief aus dem Zimmer, die Gänge entlang und die Stufen hinunter bis zum Schloßhof, nichts wie nur fort.

Plötzlich sprang eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Schloßhofs auf und das Tier erschien. Der Jüngling erschrak.

"Was soll das?" knurrte die Bestie. "Du weißt doch, du wirst dieses Schloß nie mehr verlassen." Gebieterisch hob er die Hand als ob er den Lauf des Jünglings aufhalten wollte. Und tatsächlich, wie von geheimnisvollen Kräften geschlagen, hielt der junge Mann inne und sank mit einem Seufzer zu Boden.

Eine Weile blieb das Tier vor ihm stehen und betrachtete in aufmerksam. Mehrmals schüttelte die Kreatur ihr mächtiges Haupt, als ob sie nicht so recht wüßte, was sie nun tun sollte, und knurrte leise vor sich hin. Schließlich beugte sich das Tier über den jungen Mann und hob ihn vorsichtig empor. Und als sein Blick auf den bewußtlosen Jüngling in seinen Armen fiel war es fast, als ob sich so etwas wie Zärtlichkeit auf seinem wilden Gesicht spiegelte.

Als die Bestie den Jüngling schließlich über die Schwelle seines Zimmers trug verwandelten sich dessen Kleider in Gewänder aus kostbarer Seide, reich bestickt und mit Perlen gesäumt. Selbst ein Prinz hätte keine feinere Aufmachung haben können. Behutsam legte das Tier den jungen Mann aufs Bett. In jenem Augenblick erwachte der junge Mann und öffnete die Augen. Voll Abscheu wand er sich ab. Das Tier wich scheu zurück.

"Sieh mich nicht so an," murmelte das Tier und wand sich zur Tür um. Und fürchte Dich nicht. Du wirst mich den ganzen Tag lang nicht zu Gesicht bekommen. Nur abends, wenn Du in der große Halle speist, komme ich zu Dir." Ohne den Blick von seinem Gefangenen wenden, schickte er sich zum Gehen an. "Du darfst mir nicht in die Augen sehen."

Ohne ein Geräusch schloß sich die Tür hinter der Bestie; ermattet sank der Jüngling aufs Bett und im Nu war er eingeschlafen.

                                                               ***

Die Kaminuhr in der großen Halle schlug sieben Uhr. In einen dunklen juwelenbesetzten Anzug gekleidet, saß Orlando am Tisch. Immer neue Gerichte wurden vor seinen Augen aufgetragen und jedes Mal, wenn sich sein Glas leerte schenkten ihm die Zauberhände nach. Eine Weile aß und trank er, doch ohne rechten Genuß. Schließlich lehnte er sich voller Überdruß zurück und schloß die Augen.

In jenem Augenblick öffnete sich die Tür hinter ihm und das Tier trat ein. Lautlos stellte es sich hinter den Sessel des Jünglings und blickte auf ihn herab.

"Hab' keine Angst."

Unwillkürlich fuhr der junge Mann zusammen. "Ich habe keine Angst".

"Macht es Dir etwas aus, wenn ich Dir beim Essen zusehe?"

"Ihr seid der Herr," entgegnete der Jüngling.

"Nein," antwortete das Tier und hielt einen Moment inne. "Es gibt keinen anderen Herren hier außer Dir."

Langsam trat er vor den Jüngling. "Du ekelst Dich vor mir. Du findest mich abstoßend, nicht wahr? "

Der junge Mann senkte den Blick. "Wie soll ich antworten ohne Euch zu belügen?"

"Ist denn alles zu Deinem Gefallen?"

"Ich fühle mich nicht wohl, so fein ausstaffiert und ich bin es auch nicht gewohnt, bedient zu werden. Aber ich weiß, Ihr tut Euer Bestes um mich vergessen zu lassen, wie häßlich Ihr seid."

Mit gebeugtem Haupt schritt das Tier zum Kamin. "Mein Herz ich freundlich, aber ich bin ein Untier."

Der junge Mann schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. "Es gibt Männer, die weitaus schrecklicher sind, aber sie verbergen es geschickter als Ihr."

"Und darüber hinaus fehlt es mir an Klugheit."

"Doch Ihr seid klug genug, dies zu erkennen."

Lange musterte die Bestie den Jüngling – und furchtlos hielt der junge Mann den Blicken stand. Das Knistern des Feuers war das einzige Geräusch im Raum, selbst die Marmorstatuen links und rechts des Kamins schienen den Atem anzuhalten. Schließlich räusperte sich das Untier und verbeugte sich mit einer knappen Geste.

"Alles im Schloß soll Dir gehören. Jeder Wunsch soll Dir von den Augen abgelesen werden."

Der Jüngling wollte etwas einwenden, doch die Bestie gebot ihm, zu schweigen.

"Ich werde mich jeden Abend um sieben Uhr hier einfinden. Und jedes Mal bevor ich Dich wieder verlasse, werde ich dir eine Frage stellen."

"Welche Frage?" entgegnete der Jüngling schnell.

Das Untier schlug die Augen nieder. Für einen Augenblick zögerte es, dann fuhr es mit rauher Stimme fort:

"Orlando, willst Du mein Gefährte werden?"

Entschlossen schüttelte der Junge den Kopf. "Nein, Herr."

Die Bestie seufzte und wandte sich ab. "Ich habe keine andere Antwort erwartet. Nun, gehab dich wohl. Bis morgen."

                                                              ***


Am nächsten Abend machte der Jüngling einen Spaziergang durch den Schloßpark. Schließlich kam er zu einer Mauer mit einer Tür. Neugierig öffnete er die Tür und gelangte in einen weiteren Teil des Parks mit üppigen Hortensiensträuchern und einem stillen Teich. Am gegenüberliegenden Ufer sah er die Kreatur. Sie lag auf den Knien und trank wie ein wildes Tier. Mit einem Mal, fühlte der junge Mann sich wie ein Eindringling, als ob er etwas Verbotenes beobachtete. Schnell wich er zurück und schloß die Tür wieder hinter sich.

Anschließend ging der Jüngling weiter durch den Park. Es dämmerte bereits. Da trat das Tier zwischen eine Reihe von steinernen Hundestatuen auf ihn zu.

"Ich dachte, Du wärst schon beim Essen?"

"Ich bin nicht hungrig. Ich würde lieber mit Euch im Park spazierengehen."

Da wurden die Züge des Untiers mit einem Mal sanfter. "Du erweist mir eine große Ehre damit, Orlando. Eine sehr große Ehre."

Aufmerksam betrachtete der junge Mann die Bestie. "Ihr scheint verändert heute abend."

Das Tier antwortete nicht; schweigend schritten sie die lange Allee hinab. Nahe einem Pavillon hielten sie schließlich an.

"Ich hoffe, die Tage werden Dir nicht zu lang?"

Der Jüngling streckte sich, er hatte viele Stunden mit Lesen in der Schloßbibliothek verbracht. Es war es nicht gewohnt, die Tage nur mit Nichtstun und Warten zu verbringen.

"Ja, die Tage sind in der Tat sehr lang. Und ich gebe zu, heute abend konnte ich es kaum erwarten, daß es endlich sieben Uhr wird."

Fast so etwas wie ein Lächeln huschte über das Gesicht der Bestie.

"Ach, du bist heute abend so freundlich zu mir, ich kann es kaum übers Herz bringen, dir die Frage zu stellen, die mir am meisten am Herzen liegt."

"Fragt ruhig, ich werde Euch immer das Gleiche antworten. Laßt uns Freunde bleiben. Verlangt nicht mehr von mir."

Das Tier schüttelte sein Haupt und wand sich ab.

Der Jüngling ignorierte das leise Knurren. "Sagt mir," begann er aufs neue, "wie verbringt Ihr die Tage?"

In diesem Augenblick brach vor ihnen ein Reh mit einem Satz brach durchs Unterholz. Mit kaum verhülltem Verlangen blickt ihm das Tier nach.

"Habt Ihr mich gehört? Ich spreche mit Euch."

Mit leiderfülltem Blick sah das Tier den Jüngling an. "Vergebt … vergebt mir."

Der Jüngling legte seine Hand auf den Arm der Kreatur. "Was habt Ihr denn?"

Die Bestie senkte ihr Haupt und wand den Blick ab. "Es ist nichts."

Zögernd reichte der Jüngling seine Hand der Bestie. Die Kreatur hielt inne, schließlich ergriff sie vorsichtig die Hand des jungen Mannes und führte ihn tiefer in den Park hinein bis sie schließlich zu einem Brunnen kamen. Das Tier sank auf die Knie und bedeckte das Haupt mit seinen tatzenartigen, dicht behaarten Händen.

Verwirrt blickte der Jüngling auf die Bestie herab. "Was ist mit Euch?"

"Ich habe Durst."

Der junge Mann kniete neben dem Tier nieder und tauchte seine Hände ins Wasser. "Hier trinkt aus meinen Händen."

Die Bestie trank mit lautem Schlabbern und sah dabei den Jüngling unverwandt an. "Stößt es Dich nicht ab, mir zu trinken zu geben?"

Der junge Mann erwiderte den Blick tapfer. "Nein, es macht mir Freude. Ich würde Euch nie etwas Böses wünschen."

"Und dennoch wünschst Du Dir nichts mehr, als weit weg von hier zu sein."

                                                               ***

Am darauffolgenden Abend fand sich der Jüngling wieder in der Großen Halle ein, dieses Mal in einen dunkelgrünen Anzug gekleidet. Aber es hielt ihn nicht auf seinem Platz. Immer wieder stand er auf, lief hierhin und dorthin, und immer wieder sah er zur Uhr auf dem Kaminsims.

Die Marmorstatuen links und rechts des Kamins wandten ihre Köpfe und blickten einander fragend an. Als es schließlich acht Uhr schlug, blickte der Jüngling auf und sah im Spiegel über dem Kamin die Bestie die Treppe herunterschreiten. Er lief dem Schloßherren entgegen.

"Ihr kommt spät heute abend."

"Es freut mich, daß Du das bemerkt hast."

"Ja, ich habe schon ungeduldig auf Euch gewartet."

Mit einem Mal warf er sich dem Tier zu Füßen und griff nach dessen Umhang. "Ich muß mit Euch sprechen.

"Aber was ist denn?" fragte die Bestie verwundert.

"Ich halte es keinen Tag länger mehr aus hier ohne zu wissen, wie es meinem Vater und meinen Schwestern geht. Bitte laßt mich gehen. Ich flehe Euch an."

Das Tier schüttelte den Kopf. "Aber Orlando, steh' auf."

Das Untier zog den jungen Mann hoch und führte ihn zum Tisch, dort setzte es sich neben den Jüngling.

"Eigentlich sollte ich vor Dir knien und Befehle von Dir erhalten."

Ungestüm ergriff der junge Mann die Pranken der Bestie. "Dann laßt mich gehen, ich verspreche Euch zurückzukehren."

Die Bestie musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. "Und wenn Du zurück bist, wirst Du dann meine Bitte erfüllen?"

Ernüchtert ließ der Jüngling die Hände sinken und schüttelte den Kopf. "Ihr quält mich."

"So wie Du mich quälst", entgegnete das Tier und verließ die Halle."

                                                              ***

Später in der Nacht hörte der Jüngling Geräusche vor seiner Tür. Schnell erhob er sich und lief zur Tür, die sich vor ihm auftat. Unter einem Türbogen stand reglos das Tier.

"Was macht Ihr zu dieser Stunde vor meiner Tür?"

Langsam trat die Bestie aus dem Schatten ins Licht.

"Um Himmelswillen," stieß der Jüngling aus und unterdrückte einen leisen Schrei. "Ihr seid ja über und über mit Blut bedeckt."

"Bitte vergib mir," murmelte das Tier mit gesenktem Blick.

"Wofür?"

Die Bestie stöhnt leise auf. "Dafür daß ich ein Tier bin."

Der Junge blickte der Kreatur fest in die Augen. "Es schickt sich nicht, daß Ihr so sprecht. Schämt Ihr Euch nicht? Verlaßt mich, wascht Euch und geht schlafen."

Da wand sich die Bestie kleinlaut ab. Voller Scham und Abscheu blickte sie auf ihre monströsen Pranken. Die Augen des Jünglings weiteten sich vor Schreck und Entsetzen, als er sah, wie Rauch von diesen Händen aufstieg.

"Schließ' Deine Tür. Schließ die Tür." Das Tier fletschte die Zähne und seine Stimme überschlug sich fast.

Der Jüngling bewegte sich nicht von der Stelle, obwohl ihm das Herz bis zum Halse schlug.

"Schnell, schließ' die Tür," zischte die Bestie. "Ich kann Deinen Anblick nicht länger ertragen."

Da drehte sich der Jüngling schließlich um und ging in sein Zimmer zurück. Leise schloß sich die Tür hinter ihm. Mit sorgenvoller Miene legte er sich wieder zu Bett.

                                                              ***

Am nächsten Tag geht der Jüngling wieder im Schloßpark spazieren. Schließlich kommt er zu einer weiten Lichtung auf der ein uralter Lindenbaum steht. Die Äste des Baums reichen fast bis zur Erde und die Krone ist mächtig und breit.

Am gegenüberliegenden Waldrand kann Orlando Bauern erkennen und andere Leute aus dem Dorf. Das ist das erste Mal seit langer Zeit, daß er wieder andere Menschen erblickt. Er winkt und läuft auf sie zu, doch sie verschwinden unter den Bäumen, bevor er sie erreichen kann.

Da erscheint auf einmal seine Schwester vor ihm. Ihr Gesicht ist voller Kummer. "Oh, Orlando!"

"Was ist? Bleib stehen, Vianne, sag' mir, was los ist?"

Aber anstelle ihm zu antworten, öffnet sich ihr Mund zu einem lautlosen Schrei und auch sie läuft vor ihm davon.

Mit einem Mal findet sich der Junge unter dem Lindenbaum, seine Hände sind über seinem Kopf an einem Ast festgebunden.

"Was soll das?" ruft er und wendet sich zu den anderen um, doch es ist niemand mehr da, der ihm helfen könnte. Verzweifelt versucht er seine Hände zu lösen, doch es geht nicht. Die Knoten sind zu fest gebunden.

Plötzlich spürt er, dass jemand hinter ihm steht.

"Seid Ihr das?" ruft er und versuchte den Kopf zu drehen.

Zunächst hört er nur ein leises Schnauben.

"Wer sonst sollte es sein."

Der Atem des Tiers ist heiß auf seinem Nacken.

"Bitte löst meine Fesseln. Ich verstehe nicht …"

"So, du verstehst nicht."

"Ihr habt mich stets freundlich behandelt."

"Und wie hast Du es mir gelohnt? Du hast mir zu Trinken gegeben, aber ansonsten hast mich darben lassen, wie einen Gefangenen, den man im Anblick einer üppigen Tafel verhungern lässt."

"Ich bitte Euch ..."

"Nichts da, es sind bereits genug Worte gewechselt worden. Jetzt nehme ich mir einfach was mir zusteht!"

Orlando zuckt zusammen als die Krallen des Tiers sein Hemd am Rücken zerteilen. Die Luft ist kühl und warm rinnt ein Tropfen Blut von seiner Schulter.

"Wenn Ihr mich tötet, dann tut es schnell. Bitte."

"Ach, Orlando," flüstert das Tier und seine Stimme ist auf einmal ganz rau, ganz nah bei Orlando. Feuer auf seiner Haut. "Wie könnte ich Dich töten?"

Langsam, ganz langsam leckt er die Wunde auf Orlandos Schulter. Weich schmiegen sich die Pranken um den Oberkörper des Jünglings, und gleiten vorsichtig tiefer.

Orlando weiß nicht, wie ihm geschieht. Wie kann es sein, daß die Bestie ihn auf einmal küsst? Küsse zwischen seinen Schulterblättern, so zärtlich, daß er glaubt, seine Knie würden nachgeben. Seine Handgelenke schmerzen, so fest gräbt sich das Seil in seine Haut. Doch hielte ihn nicht das Seil, er wüsste nicht, wie er noch länger aufrecht stehen könnte.

Sein Kopf fällt nach hinten, die Fell des Tiers und seine Mähne fühlen sich ganz weich an. Und als die Bestie ihn fest an sich drückt, merkt er daß deren seidenen Kleider fehlen. Sein Atem stockt.

"Findest Du mich immer noch abstoßend?"

Das Blut rauscht so laut in Orlandos Ohren, dass er die Worte kaum versteht.

"Ich ... ich ..." Die Stimme versagt ihm, als die Bestie ihn gänzlich entblößt. Er schließt die Augen und fühlt, wie ihm Röte in die Wangen steigt vor Scham. Denn es ist zu offensichtlich, wie sehr ihn die Berührungen des Tiers erregen.

Wie unabsichtlich hat die Kreatur ihn zunächst gestreift, doch selbst diese Ahnung einer Berührung war genug, um Orlandos Verlangen immer weiter anschwellen zu lassen. Die Innenseiten der Hände des Tiers sind samtweich und seine Finger langgliedrig und, man kann es kaum glauben, überaus geschickt. Orlando stöhnt auf, als diese Finger ihn ganz und gar umschließen.

Doch damit nicht genug. Ganz deutlich fühlt er, wie sehr in die Bestie begehrt, denn seit ihn das Tier umschlungen hält, fühlt er dessen Glied, schwer und drängend, zunächst an seinen Rücken gepresst und dann zwischen seinen Schenkeln.

Der Jüngling windet sich hin und her, vor und zurück, nach oben und nach unten, als ob ihm dies irgendwie Erleichterung bringen könnte. Allmählich weicht das Blut aus seinen Händen, aber er spürt den Schmerz nicht mehr. Er bäumt sich auf, als das Tier seine Hand immer schneller auf- und abgleiten lässt. Die andere Hand schiebt sich zwischen seine Pobacken, die Finger sind feucht und gleiten ganz leicht in ihn hinein.

Orlandos Atem geht immer schneller, seine Bewegungen werden immer heftiger. Gleichzeitig scheint es ihm, als ob er ganz still wäre, gespannt wie eine Bogensaite kurz bevor der Pfeil in die Luft schießt. Ihm ist schon fast schwarz vor Augen. Jeden Augenblick wird die Bestie ihn in eindringen und ganz und gar von ihm Besitz ergreifen. Der Gedanke macht ihm Angst und gleichzeitig erregt er ihn über die Maßen. Sein Atem ist nur noch ein hastiges Keuchen und schließlich geschieht, was er erwartet, gefürchtet, ersehnt hat. Heiß ergießt er sich über Finger und Hände der Bestie und alles verschwimmt vor ihm.

Wie aus weiter Ferne hört er eine Stimme ...

Da erwachte der Jüngling. Vor dem Fenster hörte man vereinzelt Vögel zwitschern, dazwischen ist nichts als Stille und das Rauschen des Waldes. Es dämmert bereits. Verwirrt rieb sich der junge Mann die Augen. Was war geschehen? Hatte er alles nur geträumt?

Schlaftrunken blickte er um sich. Er lag in seinem Zimmer, in seinem Bett, doch die Decke war zu Boden geglitten.

An der gegenüberliegenden Wand, direkt neben der Tür stand die Bestie, wie immer in feinste Gewänder gehüllt. Regungslos musterte ihn das Tier. Orlando schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Beschämt stellte er fest, daß sein Hemd ihm über die Knie noch oben gerutscht war und seine Hand immer noch zwischen seinen Beinen lag. Schnell richtete er sich auf.

"Was ist? Was macht Ihr hier in meinem Zimmer?"

Die Bestie blickte ihn unverwandt an, die nachtgrauen Augen funkeln unergründlich.

"Ich wollte Dir eine Nachricht überbringen, aber mir scheint, der Zeitpunkt ist schlecht gewählt. Komm' heute Abend zum Pavillon in den Garten und ich werde Dir alles erklären."

Ohne ein weiteres Wort drehte sich das Tier um und verließ den Raum.

Orlando war zu verstört, um weiter nachzufragen. Zu wirklich war ihm der Traum erschienen. Und was ihn noch weiter verwirrte, war, daß er sich beim dem Wunsch ertappte, es sei kein Traum gewesen. Was konnte dies bedeuten? Er lag noch lange wach und versuchte, sich über alles klar zu werden. Doch dann war ihm plötzlich wieder, als fühle er die Lippen des Tiers auf seiner Schulter, seine zärtlichen Berührungen. Und vor allem das harte Geschlecht zwischen seinen Schenkeln und tief in ihm.

Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand, schlief er schließlich wieder ein. An die unruhigen Träume in diesem Dämmerschlaf konnte er sich später nicht mehr erinnern.

                                                            ***

Als Orlando am Abend am Pavillon erschien, wartete das Tier schon auf ihn.

"Du bist blaß, was fehlt Dir? Bist Du krank, Orlando?"

Der Jüngling schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. "Ich weiß es nicht."

Das Bestie legte ihr mächtiges Haupt ein wenig zur Seite und betrachtete den jungen Mann eine Weile lang schweigend. Wie in Gedanken wollte das Tier eine Hand auf den Arm des Jünglings legen, aber als es sich dessen bewusst wurde, zog es sofort die Hand zurück. Die Kreatur seufzte leise.

"Ich habe erkannt, daß es falsch ist, Dich gegen Deinen Willen hier zu behalten. Du darfst nach Hause zurückkehren."

Orlando hob den Kopf, er konnte kaum glauben was er da hörte.

"Und was verlangt Ihr dafür?"

Das Tier sah ihm in die Augen.

"Daß Du versprichst, nach einer Woche wieder zurückzukehren."

"Ich verspreche es."

Das Untier reichte ihm seine Hand. "Komm mit Orlando, ich will Dir etwas zeigen. Siehst Du diesen Pavillon? Es ist der Pavillon der Diana. Der einzige Ort auf meinem Anwesen, den niemand betreten darf, nicht einmal ich selbst. Alles was ich besitze verdanke ich Zauberkräften. Und all meine Reichtümer sind in diesem Pavillon verschlossen. Ein goldener Schlüssel öffnet die Tür. Hier ist der Schlüssel ..."

Das Tier legte ihm den Schlüssel in die Hand und umschloß die Finger des Jünglings mit seiner Pfote.

"Hier, nimm diesen Schlüssel. Ich könnte Dir keinen größeren Beweis meines Vertrauens geben. Wenn Du nicht zurückkehrst, werde ich sterben. Nach meinem Tod besteht keine Gefahr mehr. All mein Reichtum wird Dir gehören."

Orlando sah die Bestie erstaunt an. "Und Ihr schickt mich wirklich nach Hause?"

"Du wirst noch in dieser Stunde dort sein. Hier, nimm auch diesen Handschuh, schlüpfe hinein und er wird Dich tragen, wohin Du es wünschst. Aber wundere Dich nicht, wenn Du zurückkehrst. Die Zeit in Deiner und meiner Welt sind nicht dieselbe."

Die Bestie verneigte sich und blickte den jungen Mann noch einmal durchdringend an.

"Denk' an Dein Versprechen. Lebwohl, Orlando."

Ohne zu zögern stülpte Orlando den Handschuh über und im fast im gleichen Augenblick befand er sich zu Hause in seinem Zimmer.

Schnell lief er die Treppe hinunter. Der Kaufmann saß in einem Sessel in der Wohnstube und machte ein Nickerchen. Sein Haar war schlohweiß und er schien um viele Jahre gealtert. Orlando kniete vor ihm nieder.

"Vater, wacht auf."

Mit einem Mal öffnete der Vater die Augen. "Träume ich? Oder bist du es, Orlando?

Der junge Mann lächelte. "Nein Vater, das ist kein Traum. Ich bin es wirklich."

"Wir haben Dich für tot gehalten. Ach, mein Sohn, Du kannst Dir nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, Dich wohlbehalten wiederzusehen. Die Schuld, Dich dort an meiner Stelle zurückgelassen zu haben lag schwer auf mir. Ich konnte meines Lebens nicht mehr recht froh werden."

Der alte Mann legte seine Hände auf die Schultern des Jünglings und musterte ihn aufmerksam. "Wie ist es Dir denn gelungen zu entkommen?"

"Die Bestie hat mir erlaubt, Euch zu besuchen."

Der Kaufmann nickte bedächtig. "Also hat selbst das Untier ein Herz."

"Vater, er leidet schrecklich. Er liegt ständig im Zwiespalt mit sich selbst. Ich glaube, er ist zu sich selbst am grausamsten."

"Aber Orlando, ich habe ihn doch gesehen, er ist abscheulich."

"Ja, er ist furchteinflößend, aber zu mir war er immer freundlich. Und manchmal sind seine Augen so sanft und traurig, daß ich mit ihm fühle."

Der Vater schüttelte ungläubig den Kopf. "Mein Sohn, du willst mir doch nicht erzählen, daß Du bei diesem Untier bleiben willst?"

"Ich muß es. Wenn ich nicht zurückkehre, würde ich ein Verbrechen begehen, an ihm und auch an Euch."

"Hat er Dir gedroht?"

"Nein, er zeigt sich mir nur dann, wenn er weiß, dass er keine Gefahr für mich ist. Manchmal erscheint er mir wie ein König im Exil so majestätisch ist sein Auftreten. Dann wieder schleppt er sich dahin, als ob er selbst das Opfer eines bösen Zaubers wäre."

"Wie kommt es, daß Du Mitleid mit ihm hast?"

"Ich kann seine Anwesenheit ertragen, weil ich ihn vergessen lasse, wie hässlich er ist. Und eigentlich ... " er hielt inne.

Der Kaufmann seufzte. "Du zahlst einen hohen Preis dafür, daß Du ein so guter Mensch bist."

Der junge Mann dachte an die Träume der vergangenen Nacht und schüttelte den Kopf. "Nein, die Bestie ist gut. Ich nicht."

Eine Träne rann über die Wange des Jünglings und fiel auf die Hand des Vaters. Auf wundersame Weise verwandelte sie sich in einen Diamanten.

"Gute Güte! Ein Diamant!" rief der Vater und legte seine Hand auf die Wange des Jünglings, wo eine weitere Träne schimmerte. "Und noch einer."

Orlando lächelte. "Das zeigt, wie mächtig der Zauber ist der hier wirkt. Denn als ich weinte, dachte ich an ihn."

Der Kaufmann schnaubte unwillig. "Vielleicht hat der Teufel diese Diamanten geschickt."

"Nein, Vater, behaltet sie ruhig. Sie sind ein Geschenk von ihm. Ihr könnt sie sicher gut gebrauchen. Nun erzählt mir, wie es Euch allen ergangen?"

                                                             ***

Sobald Orlandos Schwestern die vertraute Stimme in der Stube gehörte hatten, kamen sie herbeigeeilt.

Die Augen des jungen Mannes leuchteten, als er die beiden wieder und wieder umarmte und an sich drückte. "Vianne, Mirande – ich glaubte schon, ich würde Euch nie wieder sehen."

Er trat ein paar Schritte zurück. "Und Ihr seid noch schöner geworden. Ihr müsst Euch doch vor Verehrern kaum retten können."

Vianne, die jüngere der beiden, schlug die Augen nieder. "Ach, Orlando, wir sind arm. Was hilft uns da unsere Schönheit?"

Mirande, die ältere der beiden, lebhaft und mit goldblonder Mähne, hakte sich bei Orlando unter. "Alles zu seiner Zeit, im Augenblick kommen wir auch so zurecht. Hauptsache, du bist nun wieder da."

"Ja," stimmte Vianne fröhlich ein und schlang die Arme um ihren Bruder. "Du musst uns alles erzählen, Orlando. Wie ging es Dir denn all die Zeit?"

Orlando holte den goldenen Schlüssel aus seiner Westentasche. "Hier, seht. Die Bestie gab mir den Schlüssel zu all seinen Reichtümern. Er vertraut mir. Ich wäre ein Ungeheuer, wenn ich mich seines Vertrauens nicht würdig erwiese."

"Wie lebst Du denn auf seinem Schloss? Hat er viele Diener?"

"Nein, wir sind ganz allein. Unsichtbare Hände bedienen mich und kleiden mich an. Die Türen öffnen und schließen sich durch Zauber."

Mirande runzelte die Stirn. "Und diese Bestie, sag, spricht sie wie ein Mensch?"

"Ja, er spricht wie Du und ich. Seine Stimme ist tief und melodisch."

"Kriecht er etwa auf allen Vieren? Was frisst er? Was trinkt er?"

Orlando lächelte verstohlen. "Manchmal gebe ich ihm aus meinen Händen zu trinken. Und ich weiß, dass er mir kein Leid zufügen wird."

                                                               ***

Die Tage vergingen wie im Flug. Am Nachmittag des letzten Tages saßen die beiden Schwestern zusammen im Garten.

Vianne ließ ihre Stickarbeit sinken und sah ihre Schwester verzweifelt an. "Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß Orlando morgen wieder zu der Bestie zurückkehrt. Was können wir nur tun, um das zu verhindern?"

Mirande sprang auf. "Ich wünschte, ich wäre ein Mann. Dann würde ich ausziehen und die Bestie töten. Orlando müsste nie wieder zu ihm zurückkehren und alle Reichtümer, die das Untier auf seinem Schloß angehäuft hat, würden uns gehören."

"Aber was ist mit dem Zauber? Glaubst Du denn nicht daran?"

Mirande schüttelte entschlossen den Kopf. "Ich glaube nicht an Zauber und Magie. Ich bin überzeugt, die Bestie hat Orlando hypnotisiert. Und Orlando glaubt all das, was die Bestie ihn glauben lassen will."

Vianne seufzte. "Ich habe Angst."

"Du brauchst keine Angst zu haben." Orlando war stand auf einmal hinter ihnen. "Mir wird nichts geschehen."

"Aber, Orlando, warum willst Du denn wieder zurück?"

"Ja," stimmte Vianne lebhaft ein. "Er ist doch nur ein Tier. Eine grausame Bestie. Aber wir sind Deine Familie. Du kannst uns nicht noch einmal verlassen."

"Denkst Du er wird kommen, um Dich zu holen?"

Orlando schüttelte den Kopf. "Nein, er vertraut mir."

"Aber was soll denn dann groß geschehen, wenn Du nicht zurückkehrst?"

Orlando sah seine Schwestern an. Sie verstehen es nicht.. Aber er sagte nichts, sondern seufzte nur leise.

Die Bestie wird sterben dachte er. Und wenn er stirbt, ist es allein meine Schuld.

                                                            ***

Schnell verging der Rest des Tages mit Lachen und langen Gesprächen unter blühenden Apfelbäumen.

"Bleib' doch noch. Nur noch eine Woche," sagte Vianne als die Nacht sich schon senkte. Sie hatten ein Feuer im Garten entzündet, Vianne hatte auf der Mandoline gespielt und sie alle hatten dazu gesungen. Der Vater war einfach nur dabei gesessen und hatte zugehört. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen.

"Siehst Du denn nicht, wie glücklich wir alle sind, wenn Du bei uns bist," sagte Mirande und ergriff die Hand ihres Bruders. "Ich bitte Dich, bleib."

"Nun gut," erwiderte Orlando. "Aber nur noch für ein paar Tage."

Die Bäume im Garten schimmerten weiß im Mondlicht und sein Herz war schwer.


                                                            ***


Auch die nächste Woche flog dahin und mehr und mehr erschien es Orlando, als ob seine Zeit bei der Bestie nur ein Traum gewesen wäre.

Um Morgen des siebten Tages stand ein wundervolles weißes Pferd auf ihrem Hof. Mirande sprang hinaus, dicht gefolgt von Orlando.

"Was für ein herrliches Pferd, gesattelt und fein aufgeputzt. Wo mag nur der Reiter sein?"

Vianne war ihnen gefolgt – sie sah sofort den Lederbeutel, der vom Sattelknauf herabhing." Und was haben wir hier?"

Als sie das Wappen mit dem Löwenkopf sah, reichte sie Orlando den Beutel. "Ich glaube, das ist für Dich."

Schnell öffnete Orlando den Lederbeutel und fand darin … einen Spiegel.

Er nickte und ließ den Kopf hängen. "Ja, das ist für mich. Und welche Botschaft damit verbunden ist, steht auch fest. Blick' in den Spiegel, dann siehst Du das hässliche Gesicht eines Jünglings, der sein Wort gebrochen hat."

Die Schwestern sahen einander betroffen an. Orlando stürzte ins Haus zurück, die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Er legte den Spiegel aufs Bett und sah hinein. Zunächst erblickte er darin nur sein eigenes Spiegelbild, dann wurde der Spiegel dunkel und er erkannte die Bestie. Das Tier sah ihn mit einem unendlich traurigen Gesichtsausdruck an. Dann griff sich die Kreatur schweratmend an die Brust und sank zu Boden.

"Nein!" rief Orlando. Doch schon verblasste die Bestie und der Spiegel zeigt ihm nur noch sein eigenes Bild.

Ohne zu zögern, lief er zu seiner Kommode, holte den Handschuh hervor und stülpte ihn über.

Mit einem Schlag fand er sich in seinem Zimmer im Schloß wieder. Schnell eilte er zur Tür, die sich wie gewohnt, lautlos vor ihm öffnete. In fliegender Eile rannte er die Treppe hinunter in die große Halle. Alles war still und nirgendwo war auch nur eine Spur von der Bestie zu sehen. Er lief hierhin und dorthin und sein Herz schlug immer schneller.

"Wo seid ihr?" rief er verzweifelt. "Antwortet mir."

Der Jüngling rannte weiter, die breite Schloßtreppe hinunter und in den Park hinein. Schließlich kam er zu dem Teich, wo er das Tier einmal beim Trinken beobachtet hatte. Dort sah er Kreatur am Boden liegen. Er lief auf die Bestie zu und sank neben ihr auf die Knie.

"Tier, mein liebstes Tier, vergebt mir!"

Das Tier rührte sich nicht. Orlando legte einen Arm um die Bestie und zog die Kreatur zu sich heran.

"Antwortet mir, bitte. Seht, ich bin wieder da. Hier ist der goldene Schlüssel, den Ihr mir gabt, und hier ist Euer Handschuh. Er wird Euch mit seinen Zauberkräften wiederbeleben."

Hastig stülpte er der Bestie den Handschuh über. "So helft mir doch und erwacht."

Er beugte sich über die Bestie und umarmte die Kreatur. "Bitte verlasst mich nicht, bitte. Ich bin das Ungeheuer und nicht ihr. Ihr sollt leben."

Da schlug das Tier endlich die Augen auf und murmelte kaum hörbar, "Es ist zu spät".

Orlando schlang die Arme fest um das Tier und wiegte es sanft hin und her.

"Ich weiß doch wie stark Ihr seid. Streckt Eure Klauen nach dem Leben aus und kämpft. Richtet Euch auf, brüllt und verjagt den Tod. Ich weiß, Ihr könnt es!"

Die Bestie lächelte matt. "Mein Orlando …"

Zitternd erhob er seine Pranke und berührte zaghaft die Wange des Jünglings. "Wenn ich ein Mensch wäre, würde ich das sicherlich tun, aber ich bin nur ein Tier, das nichts vom Leben und von der Liebe versteht. Ich kann mich nur hinlegen … und sterben."

Die Bestie blickte den jungen Mann ein letztes Mal zärtlich an und schloß die Augen.

"Nein, nein, Ihr dürft nicht sterben," rief der Jüngling verzweifelt aus. Er beugte sich über das Tier und küsste es liebevoll auf den Mund.

Plötzlich gab es einen lauten Knall, blitzschnell geschah etwas, ohne das Orlando genau erkennen konnte was, er wurde zurückgeschleudert und fiel zu Boden. Als er die Augen wieder öffnete, erschrak er.

Von dem Tier war nichts mehr zu sehen, aber neben dem Teich stand ein gutaussehender, prächtig gekleideter Mann. Er lächelte und breitete seine Arme aus.

"Die Bestie gibt es nicht mehr. Ich war es, der Euch gefangen gehalten hat, Orlando. Meine Eltern wollten einst nicht an Magie und Zauberei glauben. Und dafür haben die Feen sie bestraft, indem sie mich in eine Bestie verwandelten. Nur ein Kuss von jemandem der mich liebt, konnte mich retten."

Orlando erhob sich verwundert.

"Ist es denn möglich, daß solche Wunder geschehen?"

Der Prinz ergriff die Hand des Jünglings. "Ja, wir sind der Beweis dafür. Die Liebe kann aus einem Mann eine Bestie machen. Aber sie kann auch ein hässliches Untier in ein liebenswertes Geschöpf verwandeln."

Unwillkürlich seufzte Orlando auf.

"Was ist mit Dir? Tut es dir etwa leid, daß ich kein Tier mehr bin?"

Orlando sah ihm tief in die Augen. Die Augen des Prinzen waren die der Bestie, nachtgrau und unergründlich.

"Ich liebte das Tier."

Der Prinz lächelte. "Du bist seltsam, fürwahr, Orlando."

Orlando lächelte scheu zurück. "Es wird eine Weile dauern, bis ich mich an Euch gewöhne."

Behutsam legte der Prinz seine Hände auf das Gesicht des Jünglings. "Willst Du mit mir in mein Königreich kommen? Wir werden dort herrlich und in Freuden leben. Und Dein Vater und Deine Schwestern werden auch willkommen sein."

"Ist es weit weg?" Orlandos Atem setzte einen Augenblick lang aus, seine Lider flatterten, als ihn der Prinz langsam zu sich heranzog und küsste.

"Wir werden schneller da sein als Du es für möglich hältst."

Der goldene Schlüssel gleitet aus der Hand des Jünglings, der Handschuh des Prinzen fällt zu Boden, und wenig später auch die kostbaren Gewänder des Prinzen und des jungen Mannes. Der Wind raschelt in den Bäumen und treibt die toten Blätter durch den Park. Im Teich spiegeln sich Himmel und Wolken und das Bild der Liebenden.

Die Feen blicken herab von den Bäumen und lächeln.


                                                     *** Ende ***


Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute .....