Die Zeit, Wirtschaft, Seite 38, 12.9.97
Terrorisiert die Wirtschaft die Politik? Untergräbt die Globalisierung die Demokratie? Der zweifel am Kapitalismus wächst. Eine ZEIT-Serie
Das große Unbehagen
welweit formiert sich eine neue Bewegung gegen den Neoliberalismus. Ihr Motto: Der freie Markt besiegt sich selbst
von Uwe Jean Heuser
Endlich
revolutionieren die Briten ihre Gesellschaft. Die traditionelle Oberklasse
hat abgewirtschaftet und wird abgesetzt. Einzig geistige Brillanz soll
künftig über Status und Einkommen bestimmen, die Klasse der Wissensarbeiter
tritt als neue Elite an. Jedem steht künftig genau das zu, was er
mit seinen Fähigkeiten erreichen kann.
Die Sozialparabel des britischen Soziologen Michael Young aus den fünfiiger Jahren scheint mit dem globalen Kapitalismus der späten neunziger Jahre rund um den Erdball Wirklichkeit zu werden. Froh bis überheblich feiern die Protagonisten freier Märkte den endgültigen Sieg des Kapitalismus. Von der Chicago-Schule um Nobelpreisträger Milton Friedman bis zu Francis Fukuyama, der gar das "Ende der Geschichte" proklamiert, glauben sie allesamt, daß sich die Leistungsgesellschaft endlich weltweit durchsetzt. In Deutschland können weder Industriepräsident Hans-Olaf Henkel noch FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle ihre Genugtuung über den angeblich historischen Wandel verbergen, für den sie ihr Land fit machen wollen.
Bei so viel Selbstzufriedenheit war es nur eine Frage der Zeit, daß sich eine Gegenbewegung formiert. Daß John Kenneth Galbraith, Aushängeschild der linken Ökonomen in den Vereinigten Staaten, diesen Angriff seiner Erzrivalen kontern muß, ist klar. Der ungehemmte Markt dreiteile die Gesellschaft, schimpft er in Artikeln und Interviews: die an den Rand gedrückten Armen, die Mittelkiasse, die den Großteil der Steuerlast trägt, und die Reichen, die den Mittelstand vorschicken, wenn der Staat weiter zurückgedrängt werden soll. Gehe das so weiter, zerbreche die Gesellschaft, sagt Galbraith -- und mit ihr auch der scheinbar so siegreiche Kapitalismus.
Daß der Papst den Kapitalismus in die Schranken weisen will, ist schon erstaunlicher. Aber ein echter Erzkapitalist verschaffte sich mit Parolen wider den globalen Markt noch weit mehr Gehör: Mit dem erfolgreichsten Devisenspekulanten derWelt, George Soros, fanden die Kapitalismuskritiker Anfang des Jahres plötziich einen Toprepräsentanten des verhaßten Weltfinanzsystems in ihren Reihen. Der "Laissez-faire-Kapitalismus", so ließ der Milliardär wissen, könne die Zivilisation zerstören. Auf Feinheiten seiner Analyse und auf seine Kritik an der Wirtschaftslehre achtete kaum jemand: Er war gegen den reinen Kapitalismus, das reichte. Mittlerweile haben die Antikapitalisten auch in Europa aufgetischt -- vor aliem jenseits des Rheins.
So beschuldigt die französische Publizistin Viviane Forrester in ihrem Buch vom "Terror der Ökonomie" die Kapitalisten, die Massen nicht mehr benötigter Arbeitnehmer heimlich ins Elend abzuschieben. Immer brutaler verfolgten die selbsternannten Eliten ihr einziges Lebensziel, den Profit. Das dramatische Fazit der Frau, die bereits zur modernen Jeanne d'Arc verklärt wird: "Nie zuvor war das Überleben der gesamten Menschheit so bedroht."
Der Pariser Soziologe Pierre Bourdieu wettert schon länger gegen den "Ökonomismus". Das ständige Deregulieren und Privatisieren sei zum Selbstzweck geraten. Seine Botschaft: Eine Welt, der es nur auf Wachstum, Wettbewerb und Produktivität ankommt, hat bereits abgewirtschaftet. Europa soll dem "Modell Tietmeyer" entfliehen, wie er die neoliberale Weltanschauung nach dem in Frankreich nicht gerade beliebten Bundesbankpräsidenten nennt.
Weil sich das Kapital mittels Globalisierung von allen gesellschaftlichen und humanen Geboten befreit hat, müssen die Europäer mit vereinten Kräften dagegenhalten: Bourdieus Kollege André Gorz will die Kapitalisten zwingen, in der Heimat durch höhere Steuern die Wohlfahrtssysteme zu bewahren, wie er der Frankfurrer Allgemeinen anvertraute. Dabei baut er auf den Euro als Grundstein für einen supranationalen EU-Staat, der seinen Handelspartnern Verträge gegen den Billiglohnwettbewerb aufnötigen kann. Die Kapitalisten hingegen, glaubt Gorz, wollen den Euro durch überkorrekte Regelauslegung und falsche Logik gar benutzen, um den Sozialpakt in den Mitgliedsländern ganz zu zerstören. Die Linke beschwört mit alter Rhetorik einen neuen Klassenkampf und findet Beifall. In Kanada ist der Literat John Saul als Kapitalismuskritiker populär geworden. Die Marktideologie findet er so absolutistisch wie Faschismus oder Marxismus: Alle drei werden von einigen elitären Interessengruppen getrieben und huldigen der ungehemmten Technologie. Heute teilen Manager, Banker und Berater immer mehr Macht unter sich auf und führen eine "Antistaatlichkeitskampagne, die in allen Fragen von Privatisierung und Leistungskürzung eine Atmosphare panisch galoppierender Dringlichkeit geschaffen hat". Sie unterlaufen die Demokratie -- und das ohne viel Gegenwehr, weil die Politiker reflexhaft ihre Rezepte nachbeten und die Globalisierung einfach hinnehmen. So können die Multis die Staaten im Standortwettbewerb genüßlich gegeneinander ausspielen. "Noch nie stand so viel Geld zur Verfügung, und doch ist kein Geld für das Gemeinwesen da", schimpft Saul. Sein Fazit: Statt mit hängender Zunge im Steuersenkungswettlauf mitzurennen, müssen die Industrieländer die Finanzspekulanten vereint in ihre Schranken weisen.
Seit Karl Marx gaben sich die Kritiker des Kapitalismus progressiv. Sie wollten das System umstürzen, notfalls mit Gewalt. Jetzt nicht mehr: Weil der Fortschritt die eigene Position bedroht, sind die Kritiker konservativ geworden. Während die Neoliberalen die Welt aus den Angeln zu heben scheinen, wollen ihre Gegner das Alte bewahren: eine stabile Arbeitswelt, den Sozialstaat, die alte Einkommensverteilung. Es sei furchtbar schwer, noch ein echter Sozialist zu sein, sagt der altlinke New Yorker Ökonorn Robert Heilbroner. Heute würde es ihm schon reichen, "den Belangen der Arrnen wieder mehr Geltung zu verschaffen".
Und anders als die Marxisten früherer Tage spielen viele Kritiker auch nicht mehr die Internationale, sondern verteidigen vor allem den Wohlstand der eigenen Nation. Das Kapital soll wieder zu Hause Steuern bezahlen und Jobs schaffen. So beklagen die Skeptiker, daß die -- einst so beschimpfte -- Industriegesellschaft in ihren Ländern auseinanderbricht, und vergessen dabei ganz gegen ihre eigene Tradition den Rest der Welt. Vielen Staaten in Südostasien und Südamerika hat der Kapitalismus mehr Wohlstand und politischen Frieden gebracht. Zwar nehmen auch dort die Einkommensunterschiede zu, absolut ist aber der Lebensstandard der allermeisten Menschen in den Schwellenländern gestiegen. Und wo Wachstum zu erwarten ist, will kaum jemand mehr in Bürgerkriege ziehen
An der Stelle greift indes die Gruppe von Lissabon in den Streit ein: Der Globalmarkt schaffe nicht nur eine neue Armenklasse, sondern werde auch Wirtschaftskriege auslösen, warnt die Runde um den italienischen Wirtschaftsprofessor Riccardo Petrella. Im vergangenen Jahrhundert, nach der industriellen Revolution, habe der Kapitalismus schon einmal die Alleinherrschaft beansprucht, heißt es in ihrem Manifest. Damals hätten die Nationen die Macht des Kapitals mit Sozial- und Kartellgesetzen bekämpft. Weil der Kapitalismus heute aber keine nationale, sondern eine weltweite Bedrohung sei, müsse sich auch die ganze Menschheit wehren. Die Gruppe verlangt eine globale Bürgerversammlung, machtiger als die Vereinten Nationen heute, die die Multis zwingt, sich dem Gemeinwohl unterzuordnen. Bildung und Familienpolitik, Umwelt- oder Sozialkonzepte sollen dann nicht mehr im Dienst der Investoren stehen. sondern umgekehrt. Die antikapitalistische Koalition wächst. In Madrid hat sich die links-alternative Szene gerade wieder zum "Alternativen Weltgipfel für die Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus" getroffen. Sie kämpft gegen ein System, in dem Aktionäre über Massenentlassungen jubeln. Vergangenes Jahr fand das Treffen in Mexiko statt, jenem Land, das die Finanzmärkte Anfang 1995 über Nacht hatten fallenlassen. Der Aufruf der Organisatoren kursiert noch heute im Internet: "Das moderne Heer des Finanzkapitals und der korrupten Regierungen schreitet voran und erobert in der einzigen Art und Weise, in der es zu erobern weiß: durch Zerstorung. Die Neuverteilung der Welt zerstort die Menschheit."
Neue Argumente beziehen die Kapitalismusgegner auch von Sozialkritikern wie dem Amerikaner Jeremy Rifkin, der in seinem Bestseller "Das Ende der Arbeit" behauptet, daß "die Wirtschaft bald kaum noch rnenschliche Arbeitskräfte brauchen wird". Lasse man den Markt regieren, entstehe eine gigantische Unterklasse der Arbeits- und damit quasi Rechtlosen -- möglicherweise das Ende der Zivilisation. Oder vom ehemaligen Militärstrategen Edward Luttwak: Der Amerikaner bezeichnet die völlig überdrehte freie Marktwirtschaft als "Turbokapitalismus". Viele Arbeiter könnten, so fürchtet Luttwak, die ständige Furcht um Job, Haus und Hof nicht mehr ertragen, würden krank und griffen zu Drogen. Gerade die Familie und das Gemeindeleben, in Amerika wieder als Keimzellen der kapitalistischen Gesellschaft hochgehalten, würden so zerstört.
Die Kritiker verlangen neue staatliche Regeln und Verträge gegen die zerstörerische Kraft der freien Globalmärkte: Kapitalkontrollen und höhere Steuern für Auslandsinvestoren, europäische oder gar globale Sozial- und Umweltstandards sollen den Machtkampf zwischen Kapital und Arbeit wieder ausgleichen. Aber gibt es diesen Machtkampfüberhaupt noch?
Der kalifornische Managementdenker Peter Drucker nennt die modernen Volkswirtschaften Iängst "postkapitalistisch". Die Kapitalisten selbst verlieren nämlich immer rnehr Einfluß. weil das wichtigste Produktionsmittel gar nicht mehr ihnen gehört, sondern ihren hochqualifizierten Mitarbeitern oder jungen Selbständigen: die Kombination von Ausbildung, Erfahrung und Wissen. Sie ist an Individuen gebunden und kann auch nicht in das Eigentum anderer übergehen. Deshalb will der britische Wirtschaftsphilosoph Charles Handy, der diese okonomische Revolution schon früh beschrieb, gar ein neues Wort für das gewandelte System finden. Und der französische Ökonom Rene Passet zieht aus dem Wandel neue Argumente gegen das Privatkapital: Die Produktion wird in der vernetzten Zukunft "zu einem kollektiven Phänomen", schreibt er "Just zu dieser Zeit möchte man uns dann auch noch als einziges und allgemeingültiges Kriterium für Initiative und Effizienz die Logik des Privatunternehmens und des persönlichen Profits aufiwingen."
Jedenfalls hat eine solche Welt mit dem Kapitalismus von Karl Marx wenig zu tun. Er beklagte ja gerade, daß die Arbeiter vom Besitz der Produktionsmittel ausgeschlossen seien und deshalb ausgeblutet würden. Heute tritt an die Stelle dieses alten Klassengegensatzes ein neuer Konflikt zwischen der Minderheit der Wissensarbeiter mit ihrer knappen und daher teuren Qualifikation -- Softwareentwickler, Berater, Aktienanalysten -- und der Mehrheit normaler Arbeitnehmer, deren Fähigkeiten im Überfluß zu haben sind.
Derzeit sind die Finanzmarktjongleure der Deutschen Bank in London nicht von den Aktionären der Bank abhängig, sondern die Bank ist es von ihnen. Sie braucht die Talente und zahlt dafür horrende Preise: Einer der Spekulationskünstler hat in einem Jahr schon mehr verdient als der Vorstand der größten deutschen Bank zusammengenommen.
Die Spezialisten können über Nacht woanders anheuern oder sich selbständig machen. So dreht sich das Verhältnis zwischen der Ideenarbeit und dem Kapital; der einzelne erzielt den aktuellen Marktwert für seine Leistung, ist aber auch den Risiken des Marktes voll ausgesetzt.
Kapitalismuskritiker, die diesen Wandel ernst nehmen, kommen zu anderen Forderungen als die Traditionalisten -- und werden auch wieder progressiver. Lester Thurow, links-liberaler Ökonom aus Neuengland, glaubt, daß unter dern Druck der radikalen Veränderung die Sozialstrukturen in den Industrieländern zerbrechen werden. Gerade deshalb nimmt er den Staat mit neuen Aufgaben in die Pflicht. Weil auf Dauer nur noch Wissen und Qualifikation Einkommensunterschiede begründen, dürften gleich gute Arbeiter in Indien und Deutschland bald auch gleich viel verdienen.
Die Ungleichheit zwischen den Staaten mag dadurch zurückgehen, innerhalb der Staaten nimmt sie zu. Das Dilemma dabei: Weil die neue Elite sich mit ihrem Wissen den Kapitalisten immer entziehen kann, müssen diese kurzfristiger rechnen und stecken daher weniger in die Ausbildung der Mitarbeiter. Wenn sie überleben will, muß die Gesellschaft daher Staat und Unternehmen zu höheren Bildungsinvestitionen zwingen.
Ist die neue kapitalistische Elite zum Schmarotzer der Nationalstaaten geworden? Ja, sagt Charles Handy. Ob bei der Bildung oder beim Umweltschutz: Viele auf kurzfristigen Profit erpichte Firmen lebten heute auf Kosten der Allgemeinheit. Denjenigen, die sie in die Arbeitslosigkeit abschöben, hätten sie weder die Ausbildung noch die innere Einstellung vermittelt, um auf dem veränderten Arbeitsmarkt als neue Selbständige noch einmal anzufangen. Von den Politikern erwartet Handy wenig. Der Kapitalismus sei zu stark für Regierungen. Nur die Bürger und die Unternehmer selbst könnten das System in seine Schranken weisen und die Vorherrschaft des kurzfristigen Eigeninteresses brechen. Ohne Orientierung am Gemeinwesen würde dem Kapitalismus die Grundlage entzogen.
Da ist er wieder, der rote Faden, der die so unterschiedlichen Kapitalismuskritiker und -skeptiker heute wie vor hundert Jahren doch verbindet: Ein entfesselter Kapitalismus zerstort sich selbst. Er ist kein Wertesystem an sich, sondern nur durch andere Werte in Schach zu halten. Denn falls der einzelne Privatmann und das einzelne Unternehmen alle Möglichkeiten ausreizen und den Staat als Ordnungshüter hoffnungslos überfordern, geht schließlich die Marktwirtschaft selbst kaputt. Karl Marx hoffte auf diese Entwicklung, der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter fürchtete sie.
Der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer wundert sich über die Anhänger des reinen Kapitalismus: Es müsse doch jedem klar sein, daß eine Gesellschaft, wie diese sie wollten, unanständig wäre. Je länger die Gegenbewegung auf sich warten läßt und je mehr Menschen sich ausgestoßen und ohnmächtig fühlen, "desto häßlichere Formen kann die Korrektur annehmen". Der Denker aus Princeton zweifelt nicht daran, daß sie kommt und daß der Gemeinsinn der Menschen am Ende den Ultraliberalismus immer wieder in die Schranken weist, Die Frage ist nur, wie.
In der alten Parabel des Briten Michael Young wird übrigens nichts aus der gesellschaftlichen Reform: Ihre Lenker schaffen mehr Probleme, als sie lösen. Früher hatte jede Klasse ihre hochtalentierten Führer. Nun gehören diese auf einmal zu der neuen Wissenselite. Damit fehlt den anderen jede Entschuldigung, wenn ihnen der Erfolg versagt bleibt. Populisten lehnen sich auf und zerstören das System schließlich wieder: Die Leistungsgesellschaft pur, in ihrer Effizienz nicht zu schlagen, verwehrt den Menschen den Wunsch nach mehr Gleichheit -- und scheitert daran.
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