SEYMOUR MARTIN LIPSET: American Exceptionalism. A Double-Edged Sword. W.W. Norton & Company, New York und London, 1997, 352 Seiten, 27,50 US-Dollar.
Viele Züge des amerikanischen Lebens erscheinen dem Europäer schwer verständlich: Christliche Fundamentalisten, die Ärzte ermorden, weil diese Abtreibungen vornehmen. Das Außenministerium rügt die deutsche Regierung wegen der "Diskriminierung" von Scientologen, unvergessen ist Präsident Reagans Verdammung der Sowjetunion als "Reichs des Bösen". Was unterscheidet die Vereinigten Staaten von den Industriegesellschaften Europas und Japans, mit denen sie doch andererseits so vieles teilen?
Seymour Martin Lipset, vielleicht der Nestor der amerikanischen Soziologie, sieht die Antwort in der amerikanischen Außergewöhnlichkeit, im Sinne des statistischen Konzepts des "Ausreißers". Tatsächlich sind Amerikaner religiöser, optimistischer, patriotischer, individualistischer und mehr an der Durchsetzung ihrer Rechte orientiert als Europäer. In den Vereinigten Staaten ist die Verbrechensrate höher, ein höherer Anteil der Bevölkerung sitzt im Gefängnis als in Europa; es gibt mehr Anwälte (umgerechnet auf die Bevölkerung) als sonst irgendwo auf der Welt. Doch sind die USA auch das reichste Land (pro Kopf), das mit der höchsten Produktlvität und das mit dem höchsten Anteil der Bevölkerung mit Hochschulreife und Hochschulausbildung. Nirgendwo ist die vertikale Mobilität so hoch, aber kein "entwickeltes" Land hat eine so ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung . Für Lipset entspringen die positiven wie ne- gativen "Ausreißerwerte" denselben Wurzeln.
Die Wurzeln sind religiöser Natur. Es waren die englischen Puritaner, die als Siedler nach Nordamerika kamen und dort ihren Glauben ohne kirchlichen Zwang, ohne Dogma und Hierarchie, ohne staatliche Einflußnahme, praktizierten. Tiefe Frömmigkeit in ihrer puritanischen Ausprägung hat das gesamte amerikanische Leben durchdrungen und geprägt. Alexis de Tocqueville bat schon beobachtet, daß "Amerika in der Welt der Ort ist, wo die christliche Religion am meisten wirkliche Macht über die Seelen bewahrt". Oder wie Henry Coswell, ein englischer Beobachter im 19. Jahrhundert, schrieb: In den Vereinigten Staaten gelte die religiöse Manie als die vorherrschende Geisteskrankheit. Auch heute noch ist der christliche Glaube -- oft ein rigider Fundamentalismus -- gelebte Wirklichkeit. In Europa ist seit der Aufklärung und der daraus entsprungenen Kritik der Religion im 19. Jahrhundert das Christentum kaum mehr als eine erstarrte und ritualisierte Tradition, ohne Verbindlichkeit für die Lebensführung. Im Unterschied zu Europa, wo die Kirchen nach wie vor eng mit dem Staat liiert sind, ist das Christentum in den Vereinigten Staaten in eine Vielzahl unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse -- Sekten -- zersplittert, die allesamt staatlicher Förderung und Einflußnahme entraten. Von ihren Mitgliedern wird erwartet, daß sie ihr Leben an moralischen Standards orientieren. So haben diese Standards schließlich weit über das Religiöse hinaus das gesamte Leben der Amerikaner durchdrungen.
Kern dieser Bürgerreligion, der amerikanischen Ideologie schlechthin, ist der Glaube an die Außergewöhnlichkeit der USA sowie ein Auftrag, die Welt nach diesen Vorstellungen zu formen. Die aktivistische Haltung war ja stets ein Kennzeichen des Protestantismus in seiner Ausprägung als Calvinismus und Puritanertum, denn Erfolg oder Mißerfolg im Leben entscheiden auch über die Gnade Gottes danach.
Lipset konkretisiert die Essenz der amerikanischen Ideologie in fünf Begriffen: Freiheit, Gleichheit, Individualismus, politische Partizipation (also die Auffassung, daß nicht die Politiker, sondern die Bürger den politischen Prozeß soweit wie möglich bestimmen sollten) und Laissez faire. Dabei wird Gleichheit nicht als das Ergebnis gleicher Lebensbedingungen (eine eher europäische Auffassung) verstanden, sondern als Gleichheit der Chancen: jeder kann etwas "unternehmen", wenn er es will. All das sind antifeudale, bürgerliche Werte: die Werte der Moderne. Nirgendwo haben sie sich so radikal durchgesetzt wie in den Vereinigten Staaten. Nicht ohne Grund schauen ja Soziologen nach Amerika, wenn sie herausfinden wollen, wie sich moderne Gesellschaften -- vermutlich -- entwickeln werden.
Seit Max Webers Untersuchungen über den Geist der protestantischen Ethik und den Kapitalismus wissen wir, wie eng innerweltlich gewendete religiöse Normen und wirtschaftlicher Erfolg zusammenhängen. Auch Lipset arbeitet die Verbindungen zwischen der puritanischer Erfolgsethik und den Normen der Wettbewerbsgesellschaft einerseits und dem überragenden wirtschaftlichen Erfolg der Vereinigten Staaten andererseits heraus. Erfolg wird in den USA in allererster Linie als wirtschaftlicher Erfolg definiert. Doch die Kehrseite der innerweltlichen Erfolgsorientierung und einer Wettbewerbsgesellschaft, in der harte Arbeit und wirtschaftlicher Ehrgeiz als angemessener Ausdruck moralischer Uberzeugungen wahrgenommen und akzeptiert werden, ist eben auch, daß die Amerikaner weit eher als andere Nationen (auch als die Japaner!) workaholics sind und daß die Vereinigten Staaten -- hier schlägt erneut das hohe Bildungsniveau durch -- mit deutlichem Abstand das produktivste Land der Welt sind. Eine nach wie vor nur schwer zu vermittelnde Einsicht der Volkswirtschaftslehre ist, daß die Produktivität den entscheidenden Bestimmungsgrund bildet für den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen wie von Volkswirtschaften unter Wettbewerbsbedingungen.
Das Konzept der amerikanischen Außergewöhnlichkeit hat Lipset nicht erfunden. Doch seine Untersuchung machen deutlich, in welchem AusmaB diese Vorstellung das gesamte amerikanische Leben bestimmt. Ohne Zweifel ein wichtiges Buch, wenn man die Vereinigten Staaten verstehen will -- auch deshalb weil Lipset seine Untersuchungen in einen interkulturell vergleichenden Rahmen stellt: "Wer nur sein eigenes Land kennt, kennt kein Land"
Auffällig ist allerdings, daß das Buch nach seinem ersten Teil an intellektueller Stringenz und Überzeugungskraft verliert. Zwar hat es noch seine Berechtigung, wenn Lipset die Schwarzen und die Juden als "Ausreißergruppen" Gesellschaft analysiert: Die Schwarzen, die gemessen an den amerikanischen Kriterien -- die wirtschaftlich am wenigsten erfolgreiche ethnische Gruppe bilden. Und die Juden (jedenfalls in der Form der in den USA vorherrschenden Reformjuden. die der Orthodoxie entronnen waren und deren Affinität zu den Puritanern schon Max Weber auffiel) als diejenige ethnische Minderheit, die von den Werten des Puritanismus am stärksten profitierte einer modernen Gesellschaft ohne überkommene Judenfeindschaft und traditionell bestimmte soziale Barrieren. Doch wenn Lipset dann noch linke und rechte amerikanische Intellektuelle und ihre Beziehung zur amerikanischen Ideoldogie untersucht, gelingt es ihm nicht immer die Fäden der Untersuchung säuberlich auseinanderzuhalten. Noch weniger erhellend ist der dritte Teil der Untersuchung, der die amerikanische Außergewöhnlichkeit mit der japanischen "Einzigartigkeit" in Beziehung setzt.
Wenn das, was oft als "Amerikanisierung" der Welt mißverstanden wird, die gesellschaftliche Durchsetzung der Moderne und die normale Lebensweise der Massendemokratie ist, so blicken wir in den Spiegel unserer eigenen Zukunft, wenn wir die Gesellschaft der Vereinigten Staaten analysieren. Doch je mehr wir uns "amerikanisieren", also den Werten der Moderne zur Durchsetzung verhelfen, desto mehr nimmt die Außergewöhnlichkeit der USA im Vergleich ab.
GERNOT VOLGE??
Der Autor ist Publizist in Berlin.
Süddeutsche Zeitung, 17.November 1997