Reflexe und Reaktionen
Reflexe sind unwillkürlich und regelhaft ablaufende Vorgänge als physiologische Reaktion eines Erfolgsorgans auf einen adäquaten Reiz. Die strukturelle Grundlage ist der Reflexbogen.
Wir unterscheiden in monosynaptische Reflexe oder Muskeleigenreflexe (Reizort und Erfolgsorgan sind identisch, der entsprechende Reiz ist hierbei die Dehnung der Muskelspindel und führt zur Muskelkontraktion als Reflexantwort) und polysynaptische Reflexe oder Fremdreflexe (hierbei sind Reizort und Erfolgsorgan verschieden).
In der Neuropädiatrie sind die frühkindlichen Reflexe - oder treffender als Reaktionen bezeichnet (primitive R.) relevant, die in der Zeit der ersten Lebenswochen und -monate physiologisch auftreten und mit zunehmender Ausreifung der stammesgeschichtlich jüngeren Strukturen des Zentralnervensystems (Putamen, Nucleus caudatus, Großhirnrinde und Pyramidenbahn) allmählich verschwinden. Das Fehlen, Bestehenbleiben (verlängert oder dauernd) oder Seitenasymmetrie weist diagnostisch auf eine zerebrale Störung hin. Hierbei ist dringend zu beachten, daß voreilige Schlüsse zu vermeiden sind, da nicht immer von eindeutig-beobachtbarem Reaktionsverhalten auszugehen ist. Darüberhinaus erkennt man beim Vergleich der Übersichten verschiedener Autoren über Zeiträume von Reflexauftreten und -verschwinden durchaus unterschiedliche Zeitangaben. Die Reize werden hauptsächlich von den Hautrezeptoren und vom Labyrinth aufgenommen, der Reflexbogen läuft über den Thalamus und Globus pallidus (im Zwischenhirn befindlicher Teil des extrapyramidalen Systems und Zentrum der Trieb- und primitiven Reaktionsbewegungen und des unmittelbaren motorischen Ausdrucks) ohne eine Beteiligung des Großhirns. |
In der Literatur werden die Begriffe Reflexe und Reaktionen häufig synonym verwendet. Hierbei sollte beachtet werden, daß eine Differenzierung dennoch Sinn macht, denn Reflexe bleiben unveränderbar, Reaktionen werden sich verändern. "Reaktionen sind variabler als ein Reflex" (B.Bobath). |
Wir unterscheiden:
Angeborene Reflexe, die dem Ernährungsvorgang dienen (als tonische Mundreaktionen) und i.d.R im 3. Lebensmonat verschwinden: Schluckreflex : Beim Trinken auslösbar. Saugreflex: Saugbewegungen bei Berühren der Lippen Suchreflex: Bei Wangenberührung wendet sich der Kopf zum Reiz und der Mund wird geöfffnet. |
Schutzreflexe: Schutzreflex für die Atmung: Bei Bauchlage wird der Kopf zur Seite rotiert. Er ist Voraussetzung für die gefahrlose Einnahme der Bauchlage. Nies-, Husten-, Würge- und Blinzelreflex |
Tonische Reflexe (sie überwachen die Lage des Körpers im Raum, bestimmen die Stellung der Körperteile zueinander und regulieren die Tonusverteilung der gesamten quergestreiften Muskulatur): Schreitreaktion: Bei Berührung der Fußsohlen mit der Unterlage wird eine "Schreitbewegung" mit Spitzfuß ausgelöst (bis etwa 3. Monat). Placing- Reaktion der unteren Extremitäten: Bei Streichen des Fußrückens unter einer Tischkante erfolgt ein scheinbares Überschreiten durch Flexionsauslösung (bis etwa 5/6 Monat). Galant-Reaktion (Rückratreflex): In Bauchlage erfolgt bei Bestreichen des Rückens neben der Wirbelsäule eine seitliche Krümmung des Rumpfes auf der stimulierten Seite (bis etwa 5/6 Monat). Handgreifreflex: Bei Berühren der Innenhand erfolgt Faustschluß mit eingeschlagenem Daumen (bis zum Handstütz etwa 4 - 6. Monat) Fußgreifreflex: Bei Stimulation im Bereich des mittleren Fußballens erfolgt Einkrallen der Zehen (bis zur Fähigkeit des Stützens, etwa 10.- 12. Monat) gekreuzter Streckreflex : Bei passiver Beinflexion (Knie/Hüfte) erfolgt kontralaterale EXT (bis etwa 2.Monat). Eine überschießende Extension ist pathologisch.
ist immer physiologisch bis Ende des 2. Monats, (kann in einigen Fällen länger [bis zum Ende 4. Monat] wirksam sein, allerdings immer auflösbar !) Er wird durch die Nackenrezeptoren ausgelöst (Nicht zu verwechseln mit der physiologischen Fechterstellung). RL: Der Kopf ist rotiert (liegt in SL), rekliniert und geneigt . Die Hinterhauptsseite ist konvex, die Gesichtsseite konkav. Die Extremitäten der Hinterhauptsseite sind in den Schlüsselgelenken mehr in Beugung, lockere Faust . Die Extremitäten der Gesichtsseite sind mehr in Streckung und IR, leicht offene Hand Persistiert der ATNR, ist keine Hand - Augen - Mund - Koordination möglich. Seine tonisch fixierte Haltung macht eine Aufrichtung gegen die Schwerkraft unmöglich, verhindert Symmetrie, Drehen, Stützen. Der ATNR tritt häufig bei Tetraplegikern auf.
ist immer physiologisch bis 3. Monat Bei Beugung des Kopfes sind die Arme im Ellbogengelenk flektiert und die Beine in Extension. Bei Streckung des Kopfes werden die Arme total gestreckt und die Beine gebeugt. Persistiert der STNR, verhindert er den Vierfüßlerstand und damit die Aufrichtung zum Sitzen. Er findet sich häufig bei Diplegikern auf.
ist physiologisch bis 6. Monat Phase I. Kopf geht nach hinten , Arme nach außen, Hände auf (Mund öffnet), Rumpfstreckung Phase II. Umklammerung, Beugung, Tonussenkung, Arme nach vorne Pathologisch: Wegbleiben der II. Phase; fällt nach hinten beim Sitzen, kein Unterarmstütz
Bei Extension der HWS erfolgt eine Extension des gesamten Körpers Bei Flexion der HWS erfolgt eine Flexion des gesamten Körpers In Bauchlage besteht eine totale Beugung, der Kopf wird nicht zur Seite gelegt, die Atemwege werden nicht freigehalten. In Rückenlage besteht eine Streckung des Rumpfes und der Beine, die adduziert und innenrotiert sind. Die Arme sind gebeugt, die Hände gefaustet, die Schultern sind retrahiert. Der Kopf liegt in Opistotonus-Haltung (immer pathologisch!)= krampfartige Reklination des Kopfes und Überstreckung von Rumpf und Extremitäten; Vorkommen: v. a. bei intrazerebraler Blutung, Einklemmung des Hirnstamms, Dezerebration, Meningitis, Tetanus. Beim zerebral bewegungsgestörten Kind häufigst sichtbarer Reflex (Tetraspastiker). Das Aufrichten aus der Rückenlage ist verhindert, keine Kopfkontrolle, mangels Hüftbeugung ist ein Sitzen mit Gleichgewicht unmöglich. |
Stellreaktionen lösen im
allgemeinen die tonischen Reflexe ab, mit ihrer Hilfe wird das Kind befähigt,
Lage und Bewegungen des Kopfes, des Rumpfes und der Extremitäten der Schwerkraft
entsprechend einzustellen. Sie sind Voraussetzung für die Entwicklung der
aufrechten Körperhaltung und der Fortbewegung. Diese automatischen
Richtreaktionen werden vom Mittelhirn gesteuert. Labyrinth-Stellreaktion: Sie dient der
Aufrichtung des Kopfes gegen die Schwerkraft, d.h. bei Veränderungen der Kopf-
und Körperstellung im Raum wird reflektorisch der Kopf in Normalstellung =
Mittelstellung, der Scheitel zeigt nach oben, Mundspalte und Augenlinie stehen
waagerecht. Diese Kopfkontrolle ist wesentliche Voraussetzung für die
Entwicklung der Aufrichtung. (ab dem ersten
Lebenstag) Hals-Stellreaktion : Sie bewirkt eine
Ausrichtung des Rumpfes an der Kopfstellung oder eine Korrektur des Kopfes bei
Rumpfdrehung. Dreht man den Kopf z.B. in Rückenlage zur Seite, folgt der gesamte
Körper dieser Drehbewegung bis zur Seitlage. Dieser Reflex ergibt sich aus der
propriozeptiven Stimulation der Nackenmuskulatur. Körper-Stellreaktion: Bei allen seitlichen
Rollbewegungen kommt es zur schraubenförmigen Bewegung des Körpers. So bewirkt
z.B. Übereinanderschlagen und Rollen der Beine das Nachkommen der Schulter. Ein
Andeuten einer Rumpfdrehung aus der Rückenlage durch Rumpffixierung im
Gabelgriff und leichter Druck in Richtung der Unterlage bei leichtem Schub in
Rotationsrichtung bewirkt Drehung des Kopfes, Drehen des Armes und schließlich
folgen schraubenförmig die Wirbelsäule, das Becken und (mit Flexion) das Bein.
(bildet sich ab dem 7. Monat aus) Optische Stellreaktion: Sie bewirkt (wie die
Labyrinth-Stellreaktion) unter Augenkontrolle die Einstellung des Kopfes. Das
Gesicht wird unabhängig von der Körperhaltung in eine vertikale Position
gebracht. Landau- Reflex: Wird das Kind in
Bauchlage am Rumpf frei schwebend horizontal gehalten, so hebt es zuerst den
Kopf, dann folgt eine tonische Streckung der Wirbelsäule und der Beine. Wird nun
der Kopf passiv gebeugt, so beugen sich auch Rumpf und Beine. (ab dem 5. Monat
erste Anzeichen) Positive Stützreaktion der Beine: Bei
Berührung des Fußballens mit der Unterlage verwandelt sich das Bein in eine
starre, belastungsfähige Säule, ein Teil des Körpergewichts kann übernommen
werden = Stehbereitschaft. (bildet sich ab dem 6. Monat
aus) Aufziehreaktion: Aus der Rückenlage
werden die distalen Unterarmabschnitte und ggf. die Handgelenke so umffaßt, daß
die Daumen in der Innenhand liegen, Mittelhand und Fingergrundgelenke aber frei
bleiben. Dann ist abzuwarten, bis die Arme in Flexionsstellung gehen, dann wird
ein Zugimpuls in Richtung Sitz gesetzt (Gegenspannung muß vorhanden sein). Es
bewirkt das Abheben des Kopfes und des Oberkörpers von der Unterlage. Die
Kopfbewegung und das Freiliegen der Beine muß beachtet werden. (bildet sich ab
dem 6. Monat aus) Statokinetische
Reflexe sind
während des ganzen Lebens auslösbar. Sie bewirken die Aufrechterhaltung des
Gleichgewichtes, wenn der Körper passiv aus der Mittelstellung verlagert wird,
indem der Stütztonus zunimmt, der der einwirkenden Kraft entgegenwirkt. Sie
bilden sich ab dem 7. Monat aus und sollen ab dem 12. Monat voll vorhanden
sein. Sprungbereitschaft: Das Kind wird
freischwebend in Bauchlage gehalten. Wird es der Unterlage angenähert, so
streckt es seine Arme schützend und stützend dieser
entgegen. Stützreaktion: Sie wird im Stand
durch Stoß von vorn, von hinten oder von der Seite ausgelöst. Die reaktive
Sicherung erfolgt durch Aufsetzen des meist gestreckten Beines in
Druckrichtung. Stemmreaktion: Das Kind stemmt sich
im Sitzen mit dem Rumpf gegen den von vorne, hinten oder von der Seite
einwirkenden Druck. Schunkelreaktion: Das Kind sitzt mit
freihängenden Beinen. Beim seitlichen Anstoßen am Rumpf werden Kopf und Beine in
die Gegenrichtung bewegt. Ebenso kann hierbei die Stützreaktion für die Arme
ausgelöst werden. Abbildungen zu den verschiedenen
Reflexen und
Reaktionen