Kindererziehung
Ich
werde älter, und ich merke das, weil ich mir immer häufiger vorstelle,
wie es wäre, einen Sohn zu haben. Habe ich früher nie gemacht. Ich frage
mich, wie wie wir ein Wochenende verbrächten. Was wir so täten.
Vermutlich wird das keine leichte Zeit werden, vor allem für ihn nicht.
Ich schaue am Wochenende gern Snooker auf Eurosports oder eine alte Folge
Space Night oder La Ola auf DSF und würde das nur ungern ändern. Ich
kann für den Kleinen nur hoffen, dass er Fernsehen mag.
Auf den Spielplatz werde ich mit ihm jedenfalls nicht gehen, damit sollte man gar nicht erst anfangen. Auf Spanisch sagt man, Auge, das nicht sieht, Herz, das nicht leidet. Wenn mein Sohn nichts von der Existenz von Spielplätzen weiß, dann wird er sie auch nicht vermissen. Ich weiß nicht, wie es heute ist, aber die Spielplätze von früher waren voll von drei Arten von Menschen, die ich als Kind nicht ausstehen konnte. Omas mit kleinen Hunden, ältere Kinder, die mich bei Widerrede verprügelten und – die Schlimmsten – Mütter, die mitspielen wollten. Mitspielenwollende Mütter sind die perfideste Form der Überwachung, und Kinder wissen das. Nein, später, wenn mein Sohn größer wird, und ich mein Erziehungsmonopol an MTV abgegeben habe, wird er Spielplätze schon früh genug entdecken. Diese kleinen Holzhäuschen, zum Beispiel, die immer ein wenig nach Hunde- urin riechen, weil die Omas zu faul sind, ihre Hunde in den Park zu führen, diese kleinen Häuschen sind die besten Orte, um Mädchen zu küssen. Dafür sind Spielplätze gut, nur dafür, aber das muss er selbst lernen. Er muss das meiste ohnehin selbst lernen. Ich finde, es reicht vollkommen aus, wenn er sich später nicht für mich schämen muss. Ich habe Leute im Bekanntenkreis, junge Väter, wenn ich mir die anschaue, finde ich, dass meine Haltung noch die Normalste ist. Einer hat sich nackt mit seinem Kind fotografieren lassen. Für später, sagt er. Ich möchte nicht wissen, was sein Sohn später sagen wird, was er für Ausreden erfindet, um diese Fotos zu rechtfertigen. Mein Vater wollte das gar nicht! War nur so ’ne Wette! Er war ja total besoffen! Ich auch! Mein Sohn soll meinetwegen nicht lügen müssen, wenn mir das gelingt, ist vieles erreicht. Das Klassische wäre ja, ich nehme ihn mit zum Fußball. Tun Väter gern, was ich für falsch halte, weil ich mir vorstelle, wie er zu seinen Kumpels sagt, ich bin Union-Fan, weil mein Papi auch Union-Fan ist. Natürlich ist Union Berlin der einzige Verein, der in Berlin in Frage kommt. Aber das muss er selbst lernen. Ein Mann muss wissen, was für einen Verein er sich aussucht – und sein Vater muss das akzeptieren. Wenn er irgendwann zu mir kommt und sagt, Papa, ich möchte, dass Du mich zum Abstiegsspiel von Wacker Burghausen fährst, hey, werde ich antworten, sag’ mir, wo das ist, und wir fahren hin. Ich werde mich sehr freuen, weil er kein Hertha-Fan geworden ist. So wie viele andere Jungen in Berlin. Er hat seinen Kopf, weil er seinen eigenen Verein gefunden hat, und wer seinen Verein findet, findet auch seinen Weg. Vielleicht fragt er mich: Papi, sahen zu deiner Zeit die meisten Hertha-Spieler auch schon so aus, als würde sie der Zeugwart frisieren? Ich werde lächeln, an Alves und Marcelinho denken und antworten: Ja, mein Sohn. Das war schon immer so. Es ist der Moment, in dem ich zu mir sage, wenn er jetzt noch mit einem Mädchen in einem Spielplatzhäuschen knutschst, ist alles, alles gut.
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Was
ist Kuschelpädagogik? Wohl nichts Gutes, denn nach der Pisa-Blamage
wissen wir, dass Schluss sein muss damit. Schluss mit Lehrern, die Stühle
und Tische aus dem Klassenraum schaffen und sich mit ihren Zöglingen
sowie kuscheligem Steiff-Getier auf Matratzenlagern wälzen, beschallt vom
kuschelrockenden John Bon Jovi. Klar, dass da kaum ernsthafte
Kurvendiskussionen aufkommen, von Sprachkompetenz und Musikgeschmack ganz
zu schweigen.
Schuld an der Kuschelpädagogik, die schuld an der großen allgemeinen Dummheit ist, ist der 68er mit seinem antiautoritären Quatsch, der Sozi sowieso und natürlich, allen voran, der Kuschelpädagoge, der ja ein 68er-Sozi ist. Was tut der eigentlich, außer auf Matratzenlagern in Klassenzimmern lümmeln? Unseren Nachwuchs verweichlichen, weil er keine Leistung fordert, keinen Druck macht, keinen Respekt einflößt, keine Ordnung schafft, sich stattdessen gemein macht mit dem Feind … äh, Schüler. Dein Stündlein hat geschlagen, Kuschelpädagoge! Wenn man sich umsieht in der natürlichen Behausung des Kuschelpädagogen, der Gesamtschule, fällt als Erstes auf, dass der gemeine Kuschelpädagoge sich geschickt tarnt. Keine Matratze, kein Kuscheläffchen, kein Fusselbart, keine Jesuslatschen, keine Latzhosen, nur Klagen über schülerische Dummheit, Faulheit und Ignoranz. Kein Statement für das Kuscheln, keine Buttons wie "Ich bin Kuschelpädagoge" oder "Kuscheln fürs Abi", kein fröhliches oder entspanntes Schülergesicht im Unterricht, dafür jede Menge Hausaufgaben - kurz: keinerlei Kuschelverdacht, allerorts kuschelfreie Zonen. Eigentlich ist alles so wie früher, in einer Schulzeit, als die 68er noch Terroristen waren und noch nicht unsere Kinder erzogen - oder besser: nicht erzogen haben. Eine Katastrophe. Wird der Kuschelpädagoge doch dringend von der gesamten Nation gebraucht, zumindest für den Tritt in seinen Arsch. Weil er nämlich Schuld an der Bildungsmisere ist und man sich seiner so entledigen kann. Wenn es ihn nun aber gar nicht gäbe? Wie dann die Bildungskatastrophe abwenden? Doch dann entdeckt man bei der Recherche doch den Kuschelpädagogen: in einem Gymnasium einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt. Der Unterricht ist schon vorbei, als er sich vom Rad schwingt, in seiner lila Latzhose, mit seinen Sandalen, seinen langen Haaren, Kuschelfaktor zehn. Das ist er also, der uns so tief in die Scheiße geritten hat, dass Finnen, Japsen und Koreaner uns auslachen. Er zieht den Schraubendreher aus der Latzhose und - oje, es ist der Hausmeister.
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Der Schritt zur Krone der SchöpfungMeine Tochter lernt laufen. Leider erwirbt sie damit eine Qualifikation, die sie in ihrem Leben kaum brauchen wirdNiemand kann das Monster stoppen. Als es die Stadt betritt, zerbrechen Eisenbahnschienen unter seinem schweren Tritt. Häuser fliegen durch die Luft. Autos krachen aufeinander. Seine Krallen knicken einen Leuchtturm wie ein Spielzeug. Näher und näher kommt das Ding mit den weit aufgerissenen Augen. Aus dem Mund läuft gierig der Speichel. Dann fällt das Monster mir mit einem Jubelquietschen um den Hals. Tina kann laufen. Jedenfalls beinahe. Mit einem Ächzen stemmt sie sich aus der Hocke, balanciert ihr Gewicht aus, guckt, ob auch alle zuschauen, und tappt los. Mit Vorliebe mitten hinein in das Lego-Land, das Jonas gerade mühsam aufgebaut hat. Godzilla verwüstet Tokio. Und strahlt dabei über alle Backen. Tina hat ja auch allen Grund zum Stolz. Immerhin bewegt sie sich in die nächsthöhere Daseinsform: Bisher war sie eine Zimmerpflanze, die nur am Ort sitzen konnte, mit den Blättern raschelte und flehentlich die Hände erhob, um sich transportieren zu lassen. Sonne, Regen und andere Nahrung mussten zu ihr kommen. Dann wurde sie zum Reptil, das sich am Boden wand, über den Teppich robbte und durch den Flur kroch, die Nase dicht am Boden, um Mamas Witterung (Chanel No. 5 mit einem Hauch erbrochener Babymilch) aufzunehmen. Bevor sie mit dem Sprechen anfängt und damit zum Homo sapiens aufsteigt, hat Tina sich nun endlich aufgerichtet und bevölkert die Sphäre der Haustiere. Völlig selbstständig kann sie die Töpfe aus dem Schrank poltern und sich ganz eigenständig ihre Finger in der Schublade einklemmen. Der Fortschritt ist ein Schritt. Und dann noch einer und noch einer. Aber wozu all die Qualen? Weil man ohne das Laufen ein Wurm bleibt, wie es unter www.bio kinematik.de heißt? "Die Fußsohle ist eine Spiegelung sämtlicher denkbarer Aktivitäten des restlichen Körpers." Also ist mein Leben platt, riecht streng und ist mit Hornhaut überzogen? Aber da steht auch, dass Naturvölker "mit ihren Zehen ebenso geschickt sind wie mit den Fingern" - wahrscheinlich, weil sie nicht schreiben können. Außerdem monieren die strengen Biokinematiker, dass wir unsere Fußsohlen sträflich vernachlässigen - wahrscheinlich haben sie noch nichts vom neuesten Schrei der "Lauflernschuhe" gehört, die bei jedem Schritt quietschen wie ein Quietscheentchen. Das soll die Kinder für jeden Schritt belohnen. Bei Tina würde dieser Schwachsinn nur dazu führen, dass sie sich an ihren Schuhsohlen festbeißt. In einem haben die Fußfetischisten allerdings Recht. Sie sprechen von der "Logik der Schmerzen". Wenn Tina hintenüber in die Heizungsrippen kippt, mit dem Kinn in die Tischkante stolpert und mit der Nase bremst, weil der Puppenwagen wegrutscht - dann würde ich sie gern damit trösten, dass sie schließlich etwas fürs Leben lernt. Aber das stimmt ja nicht einmal. Denn Laufen ist total out. Die Menschen laufen immer weniger und lassen sich immer mehr fahren. Noch 1972 legten die Deutschen 41 Prozent ihrer Wege auf der Fußsohle zurück. Heute sind es gerade noch 20 Prozent. Geht das so weiter, nehmen wir in 50 Jahren den Elektroroller zum Klo. Im Durchschnitt läuft jeder Berliner zielgerichtet täglich 750 Meter, sagt der Fußgängerschutzverein Fuß e. V. Dass es den Verein überhaupt gibt, ist wieder ein Indiz dafür, dass Fußgänger zur bedrohten Art werden. Denn natürlich joggen, spazieren, schlendern und bummeln die Leute, bis die Sohle brennt. Aber sie gehen nicht mehr zu Fuß, wenn sie was zu erledigen haben. Meine amerikanische Freundin Raylene war da schon vor fünfzehn Jahren auf der Höhe der Bewegung. "Laufen macht man zum Spaß und als Sport", sagte sie und schwang sich in ihren riesigen Campingbus, um die Briefe zum Briefkasten zu bringen, "aber man läuft nicht, um irgendwohin zu kommen." So sitze ich im Kinderzimmer und sehe hilflos zu, wie meine Tochter eine offenbar völlig überflüssige Qualifikation erwirbt. Als ob sie lernte, per Bleisatz eine Zeitung zu layouten. Als ob sie Kohlekumpel im Ruhrgebiet würde oder Webdesigner bei einer Dot.com-Firma. Es bricht mir das Vaterherz, zu sehen, wie sie ihre Jugend vergeudet. Wenigstens hat sie ihren Spaß. Und es gibt ja auch noch Hoffnung. Jonas jedenfalls hat mit seinen vier Jahren entdeckt, dass es zwar toll ist, wenn die kleine Schwester laufen lernt. Aber für ihn ist das schon lange nichts mehr. Ins Bett will er getragen werden. Zur Kita will er Rad fahren. Zum Einkaufen will er Auto fahren. Zu Oma will er Zug fahren. Beim Fußball will er auf Händen getragen werden. Laufen? "Ich hab so schwache Beine", sagt er dann. Denn Jonas hat nach Pflanze, Reptil, Tier und Mensch schon wieder die nächste Stufe erreicht. Das Faultier.
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