Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern brechen seit Monaten die Börsenkurse immer tiefer ein. Oder, um das Bild zu wechseln: Die Spekulationsblase platzt nicht auf einmal, wie es die Physik gebietet, sie gleicht einem Ballon, der aus einem Loch pfeifend Luft abgibt und ruckweise hinabtrudelt. Dass eine sanfte Landung daraus wird, glaubt kaum noch einer. Hektisch werfen die Ballonfahrer Geldsäcke ab, um den Sturz zu verzögern.

Ist das die berühmte „Rationalität der Märkte“, welche die Ideologen des Kapitalismus in den großen Wirtschaftsteilen immer wieder beschwören? Es gibt diese Rationalität, ohne Frage. Sie zeigt sich in anschaulichen, hartleibigen Verhältnissen und beginnt historisch, wenn ein Stück Tierfell nach langer Abwägung gegen einen Tontopf voller Honig getauscht wird; oder wenn ein schrundiges Stück Käse gegen einen Kupferpfennig den Besitzer wechselt, nicht ohne dass zehn Eier obendrauf gelegt werden müssen. What you see is what you get. Das erklärt auch, warum der Versuch einiger Einzelhändler, Friseure und Kneipenbetreiber, bei der Euro-Umstellung mit einer frivolen Preispolitik Kapitalismus zu spielen, sich zu einem ernsten ökonomischen Störfaktor auswuchs.

Die schwarzen Schafe – angeblich sollen es nur wenige sein –, haben die größte Konsumverweigerungswelle der deutschen Nachkriegsgeschichte ausgelöst. Man kocht erst mal zu Hause. Auf nichtkapitalistischem Boden, in Ost-Berlin, sind die schwarzen Schafe übrigens mit bloßem Auge zu erkennen. Auch bei tropischen Temperaturen bleiben ihre einst vollbesetzten Tische leer, selbst wenn sie inzwischen mit Billigangeboten locken. Die in einer ethisch gesteuerten Wirtschaftordnung sozialisierten Mitbürger sind gegen Durchstechereien besonders empfindlich. Die Orte des abendlichen Zusammenseins sollen keine Profitcenter sein, sie dienen einem gesellschaftlichen Bedürfnis. Auf Teuro hat man da keine Lust – weniger aus Geldmangel, eher weil er die Atmosphäre ruiniert.

Lieber in den Massage-Club

Das ist Marktwirtschaft, der Kapitalismus der Börsen ist etwas anderes. Dieser Kapitalismus ist phantastisch, er lebt von Visionen, ist Science Fiction. Die amerikanische Kultur hat ein einprägsames Bild dafür gefunden: jene Dollarzeichen, die in Onkel Dagoberts weit aufgerissenen Augen an Stelle der Pupillen blinken. I have a dream, ich habe eine Geschäftsidee. Ein solcher Traum, von Gier befeuert, kann eine schier unwiderstehliche Gewalt gewinnen. Sein Medium ist nicht die besonnene Kalkulation, sondern die Übertreibung. Wer glaubt, es sei dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, ist für solchen Kapitalismus schon verloren. Historische Erfahrungen können nur stören, und es ist nicht überraschend, dass die wunderbarsten Gewinne immer in geschichtslosem Land erzielt werden.

Dass noch auf jeden Run zu neuen Technologien der Crash folgte, dass jeder Hauptstadtumzug den Zyklus von Immobilienhausse und -baisse auslöste (wobei die Baissen Jahrzehnte währten), das ist Nebbich im dynamischen Kapitalismus, um so mehr, wenn es nicht mehr um Eisenbahnen, sondern um Datenautobahnen geht, also um etwas, das man nicht mehr sieht. Wie der phantastische Kapitalismus und die archaische Marktwirtschaft zusammenstoßen, ist übrigens zuweilen schon sichtbar: Man stelle sich einen stabil in seinen Cat-Schuhen stehenden Bauarbeiter vor, der die Bierpreise in seinem Kiez fest im Blick hat, wenn er am Monatsende seine Handy-Rechnung studiert. Sein verdutztes Staunen wird irgendwann auch die Aktienmärkte erreichen und dort manchen Traum beenden.

Doch der Weg dahin ist erst einmal weit. An der Börse wird spekuliert auf der Basis von Informationen, Einschätzungen, Vermutungen – im Klartext: von Gerüchten. Das ist die berühmte Psychologie, aus der die Wirtschaft zur Hälfte bestehen soll. Schon deshalb verbot es sich für einen halbwegs skeptischen Anleger von vornherein, in so genannte „Volksaktien“ zu investieren. Aktien, die massenweise von Menschen gekauft werden, die kurz zuvor noch gar nicht wussten, was Börse ist, haben eine fatale Ähnlichkeit mit Meinungsumfragen. Hier werden nicht einmal mehr Phantasien gehandelt, sondern schon bald die puren Hysterien. Eine Aktie, die von Boulevardzeitungen propagiert wurde, zu kaufen, musste für jeden denkenden Nichtökonomen heißen, sich auf hohe See zu begeben. Dann lieber noch mal in den Massage-Club!

Erwachsene Säuglinge

Der phantastische, fiktionale Zug des Kapitalismus – die galaktisch anmutende Entfernung der flimmernden Zahlenkolonnen von der wirtschaftlichen Normalsprache des Warenverkehrs – vollendet sich in der Manipulation jenes Instruments, das normalerweise Rationalität, Berechenbarkeit, Glaubwürdigkeit sichern soll: der Bilanz. Auf einmal erweist sich, dass große Firmen reihenweise ihre Bilanzen gefälscht haben, und der moralische Aufschrei ist laut. Dabei wurden doch nur die Firmenzahlen den Börsenkursen angepasst, teilweise sogar „behutsam“!

Solche Bereinigungen müssen im digitalen Kapitalismus eine überwältigende Verlockung darstellen. Das Wunderbare daran ist: Wenn man daran glaubt, kann solche Phantastik sehr lange erfolgreich sein. Im manisch depressiven Zyklus der Konjunkturen kann das Wünschen durchaus noch helfen, und der Unternehmertypus, der sich dabei besonders bewährt, gleicht einem spielenden Kind, das seine Borderline-Problematik noch nicht in den Griff bekommen hat. Solche erwachsenen Säuglinge haben ein plastisches Verhältnis zur Wirklichkeit, ein imperatives Wollen, das einen beachtlichen Sog auf die Umwelt auszuüben vermag. So lange dieser Sog wirkt, kann er einen gleichsam selbsttragenden Erfolg erzeugen und vermag selbst altgediente Aufsichtsräte zu bezaubern.

Die Idee, von einer Garage aus die Welt umzukrempeln, hat ein paar Mal funktioniert. Dass sie so schnell nicht noch mal funktionieren würde, eben weil sie schon zu oft gelungen war, wäre Lebensweisheit, also unzugänglich für solche sieggewohnten Kinder. In Kalifornien soll es Spekulationsmillionäre geben, die so wenig von ihren Gewinnen realisierten, dass sie nun, nach dem Einbruch, nicht einmal ein Haus besitzen. Es war ihnen psychisch unmöglich, das Medium zu wechseln. Dass solche Leute heute zuweilen im Gefängnis landen, wirkt wie ein unbegreifliches Missverständnis. Schuld daran ist nicht ein Vergehen, sondern der Misserfolg. In jeder Schulklasse gibt es den charismatischen Bandenchef, der wochenlang den Traum hegt, wie im Film den ganz großen Coup zu wagen und die Bank an der Ecke auszurauben; und daneben den Geizkragen, der auf dem Schulausflug Cola in Dosen zum doppelten Preis verkauft. Der eine ist Kapitalist, der andere simpler Marktwirtschaftler. Meist hassen sie einander recht aus Herzensgrund.