Offenbarungseid der Abgeordneten

Man nannte ihn Rechtsstaat / SZ vom 15./16. Dezember

Ein Hauch von Weimar weht durch das Land. Aber auch die unangenehme Erinnerung an die DDR. Zur Erinnerung: Das war der Staat, der die Freiheit seiner Bürger einschränkte, der sie überwachen und bespitzeln ließ, weil er Angst hatte vor der freien Meinung seiner Bürgerinnen und Bürger. In der Bundesrepublik, dem bisher freiesten Staatswesen der deutschen Geschichte, hat ein Parlament trotz der Geschichte des Landes, trotz der zahlreichen Opfer, die gerade die politische Linke beim Kampf um Freiheit zu erleiden hatte, das Grundrecht in bisher unvorstellbarer Weise eingeschränkt. Die meisten Abgeordneten des Bundestages haben damit nicht nur einen politischen Offenbarungseid geleistet, sie haben sich als rückgratlos und opportunistisch erwiesen.

Das Problem unserer Parlamentarier ist, dass sie sich auf der Seite der Guten wähnen, aber sie reflektieren nicht, dass aus den Guten sehr schnell die Bösen werden können. Es macht Angst anzusehen, dass George W. Bush in den USA, Tony Blair in Großbritannien und hier zu Lande Gerhard Schröder weiträumig die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger demontieren. Nachdem damit kein einziger Terrorist zu fangen ist, stellt sich die Frage, ob hier nicht der beginnende und befürchtete Widerstand gegen die weitere Neoliberalisierung der Gesellschaft gebrochen werden soll.

Vielerorts haben die Bürgerinnen und Bürger begriffen, dass der versprochene Umbau der Gesellschaft ein Umbau in

eine weitere Privatisierung, der Abbau von sozialen Grundrechten und sozialer Sicherheit ist. In den USA ist dieser Zusammenhang offensichtlich. Nur die Stammtischbrüder werden applaudieren, die – von Bier- und Zigarettenrauch vernebelt – immer schon gelallt haben: „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“ In der Tat, wer nicht denken kann, lässt eh alles mit sich machen. Am vergangenen Freitag hat das Parlament nicht Schaden vom Volk genommen, sondern die Demokratie, die Grundrechte, die Freiheit und die Würde des Parlaments beschädigt. Heribert Prantl ist zu danken für sein engagiertes Eintreten für den Rechtsstaat.

 

Schilys Gesetze sind notwendig

Man nannte ihn Rechtsstaat / SZ vom 15./16. Dezember

Jeder Satz Heribert Prantls in diesem Meinungsartikel wäre rückhaltlos zu unterschreiben, wenn die von ihm stets aufs Neue angemahnten Grundsätze nicht missbraucht würden, und zwar von Gesetzesbrechern jeglicher Art. Der freie Bürger ist nur so lange frei, wie er ohne Gefahr für Leib, Leben und Vermögen in einer von Anstand, Sitte und Toleranz geprägten Gemeinschaft leben kann. Diese gilt es mit allen rechtmäßigen Mitteln zu schützen.

Prantl aber sieht in der Verbrechensprävention eine Entrechtung der Bürger. Das mag vielleicht seiner Auffassung von Liberalität entsprechen, nicht aber der einer schweigenden Mehrheit. Und wenn die sich einmal äußert, wird dieses oft als Stammtischgeschwätz abgetan. Zitat: „Der Geist des Präventionsstaates sieht so aus: Jeder Bürger ist potenziell gefährlich.“ Leider ist es aber Tatsache: Jeder Bürger ist potenziell gefährdet! Nicht, weil er den normalen Risiken des Alltags ausgesetzt ist, sondern weil unser Gemeinwesen von politischen und religiösen Fundamentalisten unterwandert und in Frage gestellt wird und weil mafiose Strukturen unsere liberale Wirtschaft für ihre Zwecke missbrauchen. Die Grenzen beider Gruppen sind fließend, manchmal überkreuzen sich ihre Aktivitäten.

Ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit ist es ein außergewöhnlicher Glücksfall, dass Otto Schily das Amt des Bundesinnenministers innehat. Denn außer seiner hohen Intelligenz und seinem

brillanten fachlichen Wissen hat er noch einen großen Vorteil: Als Verteidiger

einer damals in Stammheim einsitzenden Top-Terroristin der Baader-Meinhof- Gruppe hatte er Gelegenheit, das Netzwerk einer terroristischen Vereinigung kennen zu lernen. Dieses war, von Ausnahmen abgesehen, auf Deutschland beschränkt; die jetzige Bedrohung aber geht von einem eiskalt kalkulierenden, global agierenden Netzwerk aus. Mir scheint deshalb die Verhältnismäßigkeit der vom Bundesinnenminister initiierten und vom Bundestag beschlossenen Gesetze gegen die Bedrohung durch religiöse Fundamentalisten und durch internationale Terroristen durchaus gegeben zu sein.

 


Im parteipolitischen Kuhhandel Grundrechte verramscht

Der Terrorist als Gesetzgeber / SZ vom 8./9. Dezember

Heribert Prantls Engagement und Ausdauer sind bewundernswert, aber ich befürchte, dass sie (fast) nichts bewirken – bei den Politikern schon gar nicht, aber leider auch beim so genannten mündigen Wähler nicht. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen als Prantl und behaupten, dass es den verantwortlichen Politikern überhaupt nicht um die Sache geht, sondern um fragwürdige Ziele, die ohne den 11. September nicht mehrheitsfähig gewesen wären. Dazu werden Grundrechte und Freiheiten im parteipolitischen Kuhhandel regelrecht verramscht und notfalls auch Ängste verbreitet.

Noch größere Sorgen bereitet mir allerdings die Anwendung der Gesetze durch überforderte nachgeordnete Stellen. Einzelne Beispiele lese ich in der SZ: Die Schweizer Polizei nimmt morgens um 6.30 Uhr dem Dirigenten Pierre Boulez den Pass ab; italienische Zöllner halten einen deutschen Lastwagenfahrer auf, weil in den Frachtpapieren das Wort „Laden“ vorkommt; auf dem Münchner Flughafen nehmen Beamte den Schriftsteller Tariq Ali fest, der erst durch einen Anruf bei Oberbürgermeister Christian Ude wieder freikommt; oder – vor einigen Jahren gab es den Fall Barbara Stamm, deren Daten gesetzeswidrig in Polizeicomputern gespeichert waren (bei Lieschen Müller wären sie wahrscheinlich noch heute drin). Bei all dem wird mir angst und bange. Und noch ist nicht abzusehen, was den von allen guten Rechtsgeistern verlassenen, ach so demokratischen Politikern noch alles einfällt.

Aber nicht einmal auswandern könnte man mehr, da das Mutterland der Demokratie genauso „verseucht“ ist wie der „Freiheitsverteidiger“ USA, der keine Probleme hat, mit üblen Schurken und autoritären Systemen zu kooperieren.

H. Egon Held, München

Ein Staat, der seinen Bürgern nicht traut, kann nicht erwarten, dass diese ihm trauen. Wenn er statt mündiger Bürger Biedermeier haben will, bekommt er die Wegschauer-Demokratie. So machen die Minister sich den Staat zur Beute. Um wie vor 150 Jahren sich nicht bei der Obrigkeit verdächtig zu machen, kümmert sich wieder jeder nur noch um sein privates Wohl. Deswegen nannte man das die Biedermeier- und die Reaktionszeit. Das Grundgesetz war anscheinend ein historischer Irrtum zu einer Zeit ohne Terroristen. Als Reaktion kommt jetzt der Polizeistaat, vor dem uns die 68er Studenten, die Baader-Meinhof-Bande und die Notstandsgesetzgegner immer gewarnt haben.

Henning Upmeyer, Olching

Andrzej Szczypiorski sagte: Man kann Wesentlicheres verlieren als das Leben. Aus gegebenem Anlass scheint mir diese Aussage erweiterbar: ... als die Sicherheit. Für solches Denken gab es bei uns jedoch generell leider nie eine Basis, stattdessen eine Tradition ausschließlichen Verfolgens persönlicher (scheinbarer) Vorteile, ohne Rücksicht auf dabei entstehende Verluste an Menschlichkeit.

Was kann man tun, um nicht eines Tages auch sagen zu müssen: „Wir haben das nicht gewusst und gewollt.“? Wahlen scheinen dazu keine Möglichkeit mehr zu bieten.

Angela Bretschneider, München

Es ist Heribert Prantl hoch anzurechnen, dass er den Mut aufbringt, die aktuellen Denkverbote zu durchbrechen und in seinem Artikel die erschreckende Demontage des Rechtsstaates offen zu benennen. Alles geht unaufhaltsam seinen Gang: Die Rechtsgrundsätze werden geopfert, die Überwachungsmaschinerie wird durch die Möglichkeiten der modernen Elektronik immer perfekter, die Freiheitsrechte werden nach und nach abgeschafft.Man wird wohl den 10. Dezember, bisher „Tag der Menschenrechte“, bald umbenennen müssen – etwa in „Tag der Trauer über den Verlust der Menschenrechte“.

Klaus Roth, München

 

 

Misstrauen gegenüber dem Mitbürger

Man nannte ihn Rechtsstaat / SZ vom 15./16. Dezember

In seinem Meinungsartikel äußert

Heribert Prantl den Verdacht, der 14. Dezember markiere den Umbau des Staates zu einem Präventionsstaat. Mit großem Bedauern und einer kleinen Korrektur muss ich Prantl zustimmen: Wir haben nicht zu wenig Rechtsstaat, sondern zu viel davon. Es gibt sehr fleißige Gesetzgeber, aber keine Gesetznehmer, weil Populismus an die Stelle von Politik getreten ist. Die demokratische Kybernetik funktioniert nicht mehr.

In den USA hat fast jeder gut situierte Bürger seinen Therapeuten, in Deutschland hat jeder seinen Anwalt. Der Grund muss wohl darin liegen, dass die Amerikaner sich selbst, die Deutschen dagegen ihren Mitbürgern misstrauen. Eine Heerschar von Juristen kann gut davon leben und hat die ganze Gesellschaft fest im Griff: Vom Bundeskanzler über Ministerpräsidenten, Minister, Verwaltungsbeamte, Manager, Hausverwalter bis zum Schriftführer des allgegenwärtigen Kaninchenzuchtvereins sind promovierte Juristen „im Namen des Volkes“ am Werk. Das Ergebnis ist ein juristifizierter, autoritärer Hyperrechtsstaat, in dem gesetzestreue, bürokratische Funktionalität über Menschlichkeit und Freiheit geht, weil in allen maßgeblichen Ämtern und Funktionen juristisches, eindimensionales Denken vorherrscht.

Eine auf Besitzstands- und Machterhaltung ausgerichtete Geisteshaltung zeigt sich aktuell und eklatant in den widersinnigen und primitiven Rufen nach den so genannten Werten wie Disziplin und Ordnung (Edmund Stoiber) als Reaktion auf die berüchtigte Pisa-Schülerstudie. Genau diese „Taliban-Werte“ sind es, die zu Intoleranz, zu Alleinvertretungsansprüchen, zu blindem Gehorsam und in Extremfällen zum Terror führen!

Ob Leute wie Andreas Baader und Ulrike Meinhof sich nicht verwundert die Augen reiben würden, wenn sie den damaligen Verteidiger Otto Schily mit dem heutigen Minister Otto Schily vergleichen könnten? Ist der „Polizeistaat“ posthum doch noch Realität geworden? Die Geschichte macht manchmal seltsame Bocksprünge. Die deutsche Leitkultur ist mit Ronald Schill und Otto Schily jedenfalls wieder im 19. Jahrhundert angekommen!