Die zweite Schröderatur
DAS SCHLAGLOCH
Stimmen und Geld sollen wir dem Staat geben. Legt man Wahlzettel und
Steuererklärung nebeneinander, drängt sich auf: Wo es der Staat eher mal
so in etwa und wo er ganz genau wissen will. Umgekehrt wäre es reizvoll,
auf dem Steuerformular schlicht "keine Kohle" anzukreuzen und
zur Urne den professionellen Wahlberater zu schicken. "Ich blicke ja
längst nicht mehr durch in dem Politwirrwarr, aber mein Wahlberater kennt
alle Tricks, der legt die Jungs jedes Mal gut rein." Stattdessen
haben wir unserer Regierung wieder einen äußerst unklaren Auftrag
gegeben: "Weiter so, nur irgendwie ganz anders, mal sehen, ist ja
schwierig alles." Wenn wir Pech haben, setzen die das auch um. Der späte
Kohl regierte vor der Barrikade Bundesrat einen Stiefel runter, der dem
Begriff "Reichsverweser" auch geruchlich nahe kam.
Die erste Schröderatur setzte Akzente bei Homoehe und Dosenpfand,
lieferte allgemein als diffus empfundene Kompromisse bei Zuwanderung und
Atomkraft. In 20 Jahren käme von alldem ins Geschichtsbuch, dass sie in
den ersten Krieg seit 45 stolperte, den zweiten per Vertrauensfrage
erzwang. Und die Wahl gewann, weil sie den dritten verweigerte. Jedenfalls
bis zur Wahl.
Ein noch gröberes Raster ließe erkennen: seit fast 30 Jahren
kreiselnde Debatten um das Vermorschen der Sozialversicherung. Helmut
Schmidt wurde als "Rentenlügner" getriezt. Seither verschliss
ein Rudel Gesundheitsminister.
Blüm erfand eine Pflegeversicherung, die die Arbeitnehmer alleine
bezahlen. Ähnlich Riesters Rentendenkmal. Bei der
Arbeitslosenversicherung gilt inzwischen als großkoalitionärer Konsens:
Verschmelzung mit der Sozialhilfe. Eine Versicherung, die ein Arbeitsleben
lang Beiträge kassiert - und im Versicherungsfall auf die Stütze
verweist. Das sollte ein Privatversicherer mal versuchen.
Kurze Pause. Es gibt da eine Wirtschaftskompetenzpartei, die als
Unternehmen ungefähr so aussähe: Neuer Geschäftsführer verspricht
Verdoppelung des Umsatzes auf 18 Milliarden. Und damit würde er dann auch
Marktführer. Beknackt! Wissen alle - und lassen den Lustigheimer machen.
Am Ende landet er bei 7 Milliarden Umsatz und sagt, sein Bereichsleiter in
Düsseldorf sei schuld. In seriösen Unternehmen werden Führungskräfte
schon aus geringerem Anlasse gefeuert.
Das liberale Mantra von den zwei sozialdemokratischen Parteien SPD und
CDU verdeckte gleichwohl den Blick auf die vier wirtschaftsliberalen
Parteien, die da gegeneinander antraten. Schwach unterscheidbar am Grad
der schicken "Eigenverantwortung", die sie dem Bürger
zuzutrauen versprachen. Einig aber in der Tendenz, die Parität zwischen
Arbeitnehmer und Arbeitgeber endlich aufzugeben.
Die ist ja auch ein Bastard zwischen sozialdemokratisch erträumter Fürsorge
und Bismarcks Wunsch, sich politisierende Proleten und plapperndes
Parlament vom Leibe zu halten. Dass Prinzipal und Prolet je zur Hälfte in
die Armenkasse zahlten, taugte dem Reichskanzler als Versuch, dem Pack das
SPD-Wählen auszutreiben.
Heute verteidigt die Sozialdemokratie dies Kampfmittel zu ihrer
Abschaffung noch am ehesten - auf verlorenem Posten. Bei den
Krankheitskosten trägt der Versicherte längst über 70 Prozent, für die
Pflege arbeiten alle einen Tag extra, ein gut Teil und bald noch mehr
Arbeitslosigkeit soll aus Steuern finanziert werden, und die Rente
riestert, auch aus Steuern.
Also marode wie ein kariöser Zahn, die gute alte Sozialversicherung;
und noch dazu eine ans Schamlose grenzende Verbrämung für ein dreifach
donnerndes "Seht doch künftig zu, wie ihr alleine klarkommt!".
Noch Bill Clinton sandte Kundschafter zu Norbert Blüm, was denn wohl
mit den 40 Millionen US-Bürgern anzustellen sei, die keine
Krankenversicherung haben. Ob da vielleicht das deutsche Modell …? Im
Eimer, Kollege!, wäre schon damals keine unzutreffende Auskunft gewesen;
die deutsche Krankenversicherung versteht sich heute zunehmend offiziell
auch als Umwegfinanzierung der Pharmaindustrie. Clinton beließ folglich
alles beim Alten, und das ist das Neue: Nun geht auch in Deutschland der
Trend zum Mehrklassenarzt; oben Techno, unten Blindarmnarbe auch mal
selber tackern.
Erneut Auszeit: Also alles schön brutalliberal privat versichern! Da
kann man wählen, wie viel Rente, Zahnersatz, Pflegepersonal man will. Man
kann ja auch ne Menge Goodies ordern, wenn man einen Mercedes bestellt.
Jene Splittergruppe der Gesellschaft, die - vermutlich aus reinem Geiz -
keinen Daimler finanziert, steht dann natürlich schön blöd im Weg.
Sagen wir mal, so 90, 95 Prozent der Gesellschaft. Die holen sich dann Stütze
ab. Woraus mit 118-prozentiger Sicherheit folgt, dass die Privatisierung
der Sozialversicherung der sicherste Weg zur brutalstmöglichen Steuererhöhung
wird.
Aber was reg ich mich auf. Kurz vor der Wahl sah es ein paar
Umfrageergebnisse lang so aus, als ergäbe sich eine große Koalition als
deutlichster Wählerwille. Scherzhaft raunte es, die Deutschen würden eh
am liebsten regiert von einer schwarz-gelben Regierung mit Schröder und
Fischer als Spitze.
Jedenfalls hätten Union und SPD gemeinsam die satte Mehrheit, das
Epochenthema anzugehen. Nun warten wir ab, was die Koalitionsverhandlungen
bringen: Bleibt es bei dem Versuch, die bewährten Sozialleistungen zu
erhalten, drohen die anderen mit dem Untergang des Wirtschaftsstandortes.
Werden Leistungen gekürzt, tritt die Opposition als Anwalt des bedrängten
kleinen Mannes auf. Das konnte sich die Union lange gut anschauen: Als sie
regierte, hat die SPD auch so opponiert. Ein inzwischen ebenso langes wie
langweiliges Mühle-auf-und-zu-Spiel.
Einen anderen Auftrag haben die Wähler aber nicht erteilt. Vielleicht
ist das mit Kreuzchenspaß am Wahlsonntag auch gar nicht zu machen.
Vermutlich bräuchte es für eine angemessene Meinungsbildung zu diesen
Fragen einen steuererklärungsähnlichen Formularaufwand, und den wiederum
begreift dann nur noch der solide ausgebildete Wahlberater.
Womit wir bei der Option wären, dass die Sozialpolitiker sich alle
untereinander wählen, weil wenigstens sie so schemenhaft ahnen, was der
andere eigentlich gerade will.
Oder - wir warten ab. Läuft ja schon seit 25 Jahren so und ist ein
ganz guter Test, ob bestimmte Themen für eine Wahlkampfdemokratie einfach
nicht taugen. Oder ob Demokratie heißt, auch mal die Nerven zu haben
abzuwarten, bis es richtig ganz groß kracht.
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