In einer Niederlage gegen
Deutschland liegen die Wurzeln für den Erfolg der französischen Fußballer
Frankreichs Elf stand schon im Halbfinale und wartete nun auf den Gegner. Ob er sich die Deutschen oder die Kroaten wünsche, wurde Marcel Desailly gefragt. „Kroatien“, sagte der mächtige Verteidiger. Aus Angst vor den Deutschen? Desailly guckte, als würde er den Fragensteller jetzt gleich für verrückt erklären. „Nein, nur damit Ihr weniger zu schreiben habt.“
Oh, das wäre ein Fressen für die Medien gewesen, hätte es im Sommer 1998 erneut ein WM-Halbfinale Frankreich – Deutschland gegeben. Von Guadalajara ’86 wäre die Rede gewesen, als Völler und Brehme zum deutschen 2:0-Sieg trafen. Mehr noch aber vom Thriller in Sevilla ’82. Von der Verlängerung, in der die Deutschen ein 1:3 wettmachten. Vom Elfmeterschießen, das Hrubesch schließlich für die DFB-Elf entschied. Sicher auch von der Attacke Torwart Schumachers gegen Battiston. Sevilla, 8. Juli ’82 – Paris, 8. Juli ’98, damit hätten sie in Frankreich Extrablätter gefüllt. Für die Franzosen war Sevilla ’82 ein prägendes Erlebnis. Vordergründig spülte es alte anti-deutsche Klischees wieder hoch. Doch in jener dramatischen Nacht liegt auch eine der Wurzeln für die jüngsten Erfolge, und die wiederum haben zur deutsch-französischen Entspannung auf dem Fußballfeld beigetragen.
Wer Michel Platini in seinem Büro besucht, wird das gerahmte Mannschaftsfoto von damals nicht übersehen. Fragt man ihn dann, ob das die schlimmste Niederlage der Karriere war, dann lächelt er und sagt: „Überhaupt nicht. Das war keine Niederlage.“ Wie das gemeint ist, hat er neulich in einem Zeitschrifteninterview am besten erklärt: „Alle Emotionen des Lebens stecken in diesen 120 Minuten. Ich habe nie mehr, sei es durch ein Buch, ein Theaterstück oder einen Film, all das wiedergefunden, was ich an jenem Abend erlebt habe. Ich habe alle Gefühle der Welt durchgemacht: Das mulmige Gefühl vor dem Spiel, die Freude, ein WM-Halbfinale auszutragen, die Angst vor den Deutschen, dann die Enttäuschung, 0:1 zurück zu liegen, die Hoffnung beim 1:1, die Wut auf den Schiedsrichter nach dem Attentat gegen Battiston, der Hass gegen Schumacher.“ Alle anderen Momente seiner Laufbahn seien dagegen banal gewesen.
Frankreich stand unter Schock in jener Nacht. Francis Huster fand keinen Schlaf und setzte sich an die Schreibmaschine. Tags darauf marschierte der beliebte Schauspieler und Regisseur in die Redaktion der Sportzeitung L’Équipe, um einen offenen Brief an Platini abzugeben. Ein Auszug: „Gegen die blinde Rohheit, gegen die Dummheit der Kraft, gegen die Masse der Muskeln habt Ihr Euch mit Eurer Poesie, Eurer Phantasie, Eurer Intelligenz, Eurer Finesse, Eurer Inspiration, und weißt Du was, Michel, Eurer Demut abgehoben.“ Ziemlich schwülstig. Einfacher gestrickte Franzosen nannten Schumacher und den Rest schlicht Nazis.
Doch die Gefühlsausbrüche verdeckten das eigentlich Interessante. Meint jedenfalls Gérard Ernault. Er war damals als Ressortleiter von L’Équipe in Sevilla und überreicht heute als Direktor der Zeitschrift France Football Europas Fußballer des Jahres den Goldenen Ball. „Hinter der vordergründigen Dramaturgie lief ein Prozess der Selbsterkennung ab“, sagt er. „Sevilla hat uns in konzentrierter Form unsere Qualitäten und unsere Schwächen vor Augen geführt.“ Alain Giresse, neben Platini Frankreichs zweiter Anführer damals, sieht es ähnlich und nennt die praktische Folge: „Ab da haben wir uns an die Arbeit gemacht.“ Aus dem Fehler, eine 3:1-Führung verplempert zu haben, wurden sie klug. An der Technik hatte es nie gehapert, nun aber begannen sie, sich taktische Disziplin, Wettkampfgeist und körperliche Stärke anzueignen.
Zwei Jahre später war Frankreich Europameister. Auch ’86 überzeugten die Blauen. Die erneute Schlappe gegen die Deutschen wurde als weit weniger traumatisch empfunden. Zumal die Équipe zuvor den amtierenden Weltmeister Italien und das große Brasilien niedergerungen hatte und dann müde war. Ein Gefühl der Ohnmacht aber, gegen die Deutschen nichts ausrichten zu können, blieb zunächst. Frankreich arbeitete weiter.
Die Generation Platini ging, und es dauerte eine Zeit, bis um Zidane ein ähnlich talentierter Jahrgang nachgewachsen war. Dieser verbindet nun endgültig französische Romantik mit deutschem Realismus. Ohne die eigenen Tugenden zu verlieren, haben die Franzosen die der Deutschen übernommen. „Das Chromosom des Sieges“ (France Football nach dem deutschen EM-Erfolg ’96) liegt nun im Erbgut des einstigen Erbfeindes. Am Abend des EM-Triumphes von Rotterdam kursierte in der französischen Delegation das Bonmot: „Jetzt sind wir die Deutschen.“ Die Rollen sind vertauscht.
Wenn die DFB-Elf im Stade de France einläuft, wo sie schon vor zweieinhalb Jahren zum Halbfinale erwartet wurde, dann ist das nichts Besonderes mehr. „Deutschland ist heute ein Gegner wie jeder andere auch“, sagt Ernault, und Giresse meint: „Wir haben gegenüber niemandem mehr Komplexe.“ Angst? Wer käme heute noch auf die Idee, Marcel Desailly so etwas zu fragen.