Die große Lüge der Kinder Atatürks

Immer nur Worte, aber keine Taten – warum die Türkei nie Mitglied der Europäischen Union werden kann

Wenn jeder sich als Sieger sieht, hat niemand etwas gewonnen, und eigentlich ist dieser Zustand höchst unbefriedigend. Doch Europäer und Türken hat dies im Umgang miteinander noch nie gestört. Sie sind schon glücklich, wenn sie nicht verlieren, vor allem nicht das Gesicht. Auf dieser Prämisse beruht ihr Verhältnis, und der letzte EU-Gipfel in Nizza war nur ein weiterer Beweis: Alle schienen sie zufrieden zu sein, alle durften sich wieder einmal als Sieger betrachten – die Türken, die Europäer, und auch die Störenfriede aus Athen. Was bedeutete: Alles wurde vertagt, nichts endgültig entschieden. Im Verhältnis untereinander gilt also die Unverbindlichkeit als Tugend, und der Schwebezustand ist der Endzustand.

Emotional sind die Beziehungen immer gewesen, dazu geprägt von Missverständnissen, Misstrauen und Missvergnügen. Kein anderer Staat kann auf eine längere Anwartschaft auf einen Platz im Euro-Club zurückblicken; aber auch kein anderer Staat hat ein derart zerrüttetes Verhältnis zu den Clubmitgliedern. Es ist ein Würgen und Ziehen, und in den komplizierten Verschlingungen spielen Fragen der Ehre oft eine größere Rolle als wirtschaftliche und politische Konvergenzkriterien.

Einzigartig schlecht

Die Ursache liegt auf der Hand: Es ist die Unehrlichkeit, um nicht zu sagen Verlogenheit, die Türken und Europäer an den Tag legen – im Umgang miteinander ebenso wie sich selbst gegenüber. Seit Jahrzehnten machen sie einander etwas vor: die einen, indem sie Ankara die Aussicht auf einen EU-Beitritt vorgaukeln, die anderen, indem sie Brüssel weismachen, die dafür notwendigen Reformen durchziehen zu wollen.

Doch wenn man ehrlich wäre, müsste man zugeben: Die Europäische Union will die Türkei nicht als Mitglied haben. Nicht jetzt und nicht in 20 Jahren. Und die Türkei will nicht Mitglied der Europäischen Union werden – jedenfalls nicht zu den allgemein üblichen und für alle Staaten gleichermaßen verbindlichen Geschäftsbedingungen. Wenn man türkische Politiker hört, hat man manchmal den Eindruck, als ob die Europäer versuchten, die Türkei gegen ihren Willen in die EU zu pressen, um so doch noch zu ihrem Ziel zu gelangen: das Land zu spalten, zu zertrümmern oder mindestens zu schwächen.

Dabei wird umgekehrt ein Schuh draus: Die EU stellt die Bedingungen, und der Kandidat erfüllt sie oder er lässt es bleiben. Die erz-nationalistischen türkischen „Grauen Wölfe“ haben einen Spruch, den sie mutmaßlichen Vaterlandsverrätern entgegenschleudern: Ya sev, ya terket – entweder du liebst die Türkei, oder du kannst gleich verschwinden. Europa könnte diesen Spruch auf die Türkei ummünzen: Take it or leave it.

In der Tat: Das Verhältnis der Türkei zu Europa ist nicht nur einzigartig, es ist einzigartig schlecht. Woran liegt das? Wessen Schuld ist das? Ist das vielleicht gar naturgegeben? Im Wesentlichen liegt dies daran, dass es erhebliche Unterschiede zwischen der Türkei und anderen europäischen Staaten gibt. Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen:

Die Vertretung der EU-Kommission in Ankara veranstaltet jedes Jahr Seminare für europäische und türkische Journalisten. Vor ein paar Jahren trug ein Kollege aus Madrid vor, wie es war, als Spanien in die Europäische Gemeinschaft strebte. Er berichtete zunächst, dass Spanien – ebenso wie die Türkei – eine stolze Nation sei, die auf eine ruhmreiche Vergangenheit als Großmacht zurückblicken kann. Ähnlich wie die Türkei hatte Spanien mit den Basken ein separatistisches Terrorproblem, und ähnlich wie bei der Türkei blockierte ein EG-Mitglied die Annäherung an Europa: Großbritannien, wegen der ungelösten Gibraltarfrage.

„Das hört nie auf!“

„Das also war die Situation, als wir den Aufnahmeantrag stellten“, erzählte der spanische Journalist. „Und was bekamen wir aus Brüssel? Einen Eimer Scheiße, an dem ein Zettel klebte. Auf ihm stand nur ein Wort: Auslöffeln. Und als der erste Eimer leer war, kam der zweite, und dann der dritte, der vierte und so weiter. Aber wir wussten, dass wir keine Alternative hatten. Wir löffelten brav alle Eimer aus. “

Auf der Journalistentagung der EU-Kommission im vergangenen Jahr trug sich folgende Begebenheit zu. Nachdem die Diskussion eine Zeit lang hin- und hergewogt war, wandte sich eine hoch angesehene und kluge türkische Zeitungskolumnistin fast schon empört an die EU-Botschafterin und forderte sie auf: „Karen, jetzt sagen Sie uns doch, wann es mit all diesen Bedingungen endlich ein Ende nimmt. “ Einvernehmlich begleiteten alle türkischen Kollegen, die Crème ihres Berufsstandes, diese Frage mit einem Kopfnicken. Ja, das würden sie auch gerne wissen. Karen Fogg aber, die Botschafterin, wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Das hört nie auf“, sagte sie schließlich, „auch Gründungsmitglieder müssen immer wieder neue Bedingungen erfüllen. “

Diese Beispiele zeigen zweierlei. Erstens: In Spanien gab es einen nationalen Konsens über einen Beitritt zur EG. Einen solchen Konsens gibt es bei so gut wie allen Beitrittskandidaten. Nur in der Türkei ist er nirgends zu erkennen. Und zweitens: In der Türkei hat noch nicht einmal die politische Elite verstanden, was Europa bedeutet und wie die Europäische Union funktioniert. Denn im Idealfall ist diese Union eben mehr als eine glorifizierte Freihandelszone, und jene politischen Kräfte in der Türkei, die verstanden haben, dass Europa die Aufgabe nationaler Souveränität bedeutet, haben inzwischen die Lust auf eine Mitgliedschaft verloren.

Die logische Konsequenz aus diesen beiden Punkten lässt sich derzeit in der Türkei besichtigen: Es ist ein Jahr vergangen, seitdem Ankara auf dem vorletzten EU-Gipfel in Helsinki den Status eines Beitrittskandidaten erhielt. Geschehen ist seitdem nichts – wenn man einmal davon absieht, dass mit Mühe und Not eine Euro-Behörde geschaffen und mit Büromöbeln und Führungspersonal ausgestattet wurde. Doch bei den entscheidenden Fragen – der Abschaffung der Todesstrafe und des repressiven Artikels 312 des Strafgesetzbuches, bei der Eindämmung der Macht der Streitkräfte und bei den Rechten für Kurden und andere Minderheiten – gab es, wie so oft, nur leeres Gerede.

Viele Worte, keine Taten – es ist das alte türkische Problem. Und die Taten, die man vollzieht, sprechen eine andere, eine anti-europäische Sprache: Da werden kurdische Politiker und Bürgermeister verhaftet, da wandern Menschenrechtler ins Gefängnis, da werden Fernsehsender verboten, da schweben Verfahren gegen die Fazilet-Partei und den ehemaligen Regierungschef Necmettin Erbakan, da werden Kopftuchträgerinnen und Bärtigen politische und bürgerliche Grundrechte aberkannt – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ein Spitzendiplomat im türkischen Außenministerium, der sich zeit seiner Karriere mit Europa beschäftigte, gestand einmal ein: Wann immer sich das Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft oder Union zu verbessern drohte – und er sagte tatsächlich drohte –, konnte man sicher sein, dass dies von interessierter türkischer Seite gezielt torpediert wurde: mit einem politischen Prozess, einer Verhaftung oder einem Verbot.

Immerhin hat der Beschluss von Helsinki zumindest ansatzweise eine Europadebatte in der Türkei ausgelöst. Zum ersten Mal wird offen darüber diskutiert, welche Konsequenzen eine Mitgliedschaft hätte, welchen Preis man dafür entrichten müsste und ob man dazu wirklich bereit sei. Aber eine echte Debatte ist es dennoch nicht geworden. Nach wie vor ist es verboten, mögliche Alternativen oder Varianten zu einer EU-Mitgliedschaft zu bedenken und zu diskutieren. Nach wie vor gilt es als unanzweifelbare Wahrheit, dass der Türkei ein Zimmer, wenn nicht gleich ein ganzer Flügel, im europäischen Haus gleichsam als Geburtsrecht zusteht. Die Türkei gehört zu Europa, so sagt man, ergo gehört sie auch in die EU.

Gesunde Verachtung

Aber wieso soll man eigentlich nicht das Undenkbare denken? Wieso soll die Türkei so selbstverständlich Teil Europas und der Europäischen Union sein? Weil es türkische Staatsdoktrin ist? Weil Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk diese Richtung vorgegeben hat? Gibt es keine anderen und vielleicht für alle Beteiligten besseren Möglichkeiten?

Die türkische Gesellschaft ist so vielfältig und differenziert wie die Gesellschaften anderer Länder. Doch der Einfachheit halber wollen wir uns auf drei wesentliche Gruppen konzentrieren. Ganz oben sind die Vertreter der Staatsmacht, die Lordsiegelbewahrer der reinen Lehre. Ihre Vertreter findet man unter den hohen Militärs und den Spitzenbeamten. Sie sind im Allgemeinen nicht korrupt, nicht an materiellen Dingen des Lebens interessiert, sondern einzig an der Macht.

Darunter folgt die Schicht der Neureichen, der fetten Katzen. Es sind diejenigen, welche die türkische Republik seit Jahren ebenso scham- wie straflos ausplündern. Bisher hat man sie gewähren lassen. Sie durften sich bereichern, solange sie nicht die Macht der Militärs und des Staates infrage stellten. Ab und zu wird einer der ihren als Sündenbock abgesondert und rituell in den Medien geopfert – sei es, weil er wirklich zu weit gegangen ist, sei es, weil man für das Volk ein Exempel statuieren will, dass die dort oben auch nicht unantastbar sind.

Das Volk schaut sich dies alles an, nährt eine gesunde Verachtung für die politische Klasse und versucht, sich mit kleineren Betrügereien selbst schadlos zu halten. Denn der Staat, das ist nicht wie in Europa oder Amerika die Gesellschaft. Der Staat ist eine kalte Macht, die jederzeit zuschlagen kann. Man tut gut daran, nicht aufzufallen, sondern sich wegzuducken. Der Staat ist ein tyrannischer Vater – autoritär, streng, ungerecht. Er lässt seine Kinder nicht selbstständig und erwachsen werden, weil er ihnen nicht traut und seine Macht über sie genießt.

Wie aber sehen diese drei Klassen das Verhältnis zur EU? Für die Staatsmacht ist eine Mitgliedschaft eine Frage der Ehre. Ihre Vertreter glauben, ein Vermächtnis des Staatsgründers erfüllen zu müssen. Doch dabei gibt es ein kleines Problem: Sie lieben Europa nicht, sie sehen in diesem Kontinent noch immer den alten Gegner und Rivalen, der die Türkei gedemütigt und erniedrigt hat – und dies heute noch tut. Deshalb erfüllt sie das Streben nach Europa mit Widerwillen. Sie müssen nach Europa wollen, aber es ist eine unangenehme, eine lästige Pflicht. Hinzu kommt ein zweites Problem: Diese wahren Machthaber haben erkannt, dass ihnen von Europa Gefahr droht. Denn wenn sie Atatürks Vermächtnis erfüllen und ihr Land nach Europa führen, verlieren sie ihre Macht – an Europa, an Brüssel, an das Ausland.

Die parasitäre Klasse der Neureichen wiederum wittert in Europa nur die dampfenden Brüsseler Fleischtöpfe. Andere Länder, nicht zuletzt der Nachbar Griechenland, haben es ja jahrelang vorgemacht, wie man Eurogelder abzocken kann. Doch das Interesse dieser Klasse an Europa schwindet in demselben Maße, in dem ihr klar wird, dass die europäischen Kassen nicht mehr so prall gefüllt sind wie früher und dass die Ausgaben heute schärfer kontrolliert werden.

Die große Masse der Bevölkerung schließlich erhofft sich von Europa nur eines: Freizügigkeit, damit sie in anderen europäischen Ländern die Arbeitsplätze und den bescheidenen Wohlstand finden kann, die ihr der eigene Staat vorenthält. Doch auch die Armen müssen erkennen, dass die Reise- und Niederlassungsfreiheit das Letzte sein werden, was die reichen Europäer den armen türkischen Vettern gewähren würden. Zudem haben sich die politische und die ökonomische Klasse der Türkei in vorauseilendem Gehorsam schon bereit erklärt, bis auf weiteres aus freien Stücken auf diese Freiheiten zu verzichten.

All diese Probleme verblassen jedoch neben der entscheidenden Frage: Wie europäisch ist die Türkei überhaupt? Denn von der Antwort darauf hängt es ab, ob die Türkei jemals „europareif“ werden, oder ob sie auf Dauer ein Fremdkörper in Europa bleiben wird. Vieles spricht dafür, dass Letzteres der Fall ist, und es ist durchaus möglich, dies zu belegen.

Der türkische Außenminister Ismail Cem lief einige Zeit lang mit einem verräterischen Ausspruch durch die Welt: Die Türkei, so sagte er, gehöre seit 500 Jahren zu Europa. Was er damit unfreiwillig wirklich ausdrückte, war das Gegenteil: Die Türkei gehört eigentlich nicht zu Europa. Denn kein Franzose oder Finne, kein Ire oder Italiener käme auf den Gedanken, seine Zugehörigkeit zu Europa zu befristen. Europäer ist man oder man ist es nicht, und man ist es immer gewesen – im Guten wie im Bösen. Und zu Europa gehören nicht nur Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur; zu Europa gehören auch Inquisition, Holocaust und GuLag. Seit 500 Jahren Europäer? Das heißt doch nur, dass man vorher etwas anderes war.

Die Türkei ist anders als Europa. Wohlgemerkt anders – ohne jegliche Wertung. Ist es nicht verwunderlich, dass die türkischen Fernsehsender, die doch auch sonst vor keiner Geschmacklosigkeit zurückschrecken, kein Interesse an Big Brother haben? Aber sie hätten Schwierigkeiten, ein Dutzend Türken zu finden, die sich gemeinsam mit wildfremden Menschen auf engem Raum in einem Container einschließen und Tag und Nacht beobachten lassen. Denn dazu ist das Familien- und Ehrgefühl zu stark ausgeprägt, und diese Gefühle sind orientalisch-streng, nicht europäisch-locker.

Ein anderes Beispiel: Für ganz Europa war der Zweite Weltkrieg das prägende – und traumatischste – Ereignis des 20.  Jahrhunderts, egal auf welcher Seite die einzelnen Nationen standen, und selbst die neutralen Länder wie Schweden oder die Schweiz waren betroffen. Nur die Türkei stand auf keiner Seite, ja, ihr gelang sogar das Kunststück, zur gleichen Zeit sowohl mit dem Deutschen Reich wie mit Großbritannien befreundet zu sein. Man darf sich nicht über diese diplomatische Leistung lustig machen; sie verdient Respekt, hat sie dem türkischen Volk doch viel Leiden und Elend erspart.

Doch langfristig betrachtet erwies sich jene Neutralität als Nachteil. Denn die gemeinsame Erfahrung des Kriegs war eine der Grundlagen für den europäischen Einheitsgedanken. Die Erkenntnis, dass Nationalstaaten Souveränität an einen Staatenbund abgeben müssen, um eine Wiederholung des europäischen Bruderkampfes ein für allemal zu bannen, war ein Ergebnis der Kriegserfahrung. Die Türkei hat diese Erfahrung nicht gemacht, und man spürt es bis heute an dem kleinlichen Nationalismus, in dem das Land gefangen ist.

Was auch Auswirkungen auf die Haltung zum Recht hat. In Europa gelten Recht und Gesetz grundsätzlich als unbeugbar, unbestechlich, unteilbar. Jeder ist vor dem Gesetz gleich, es gibt keine Ausnahmen. In der Türkei jedoch gelten Recht und Gesetz grundsätzlich als willkürlich, beeinflussbar und unberechenbar. Vor allem aber genießt jedermann in Europa Rechtssicherheit, und davon ist die Türkei weit entfernt.

Reformer von Mahmut II. bis hin zu Atatürk mögen europäische Rechtskodices übernommen haben. Doch am uralten, tief sitzenden Rechtsverständnis haben sie nichts geändert. Dies erklärt übrigens auch das türkische Misstrauen gegenüber internationalen Gerichtshöfen. Nach türkischem Verständnis ist ein gutes Gericht ein Gericht, in dem ich den Richter beeinflussen kann. Das aber bedeutet, dass man in Straßburg oder in Den Haag von vornherein unterlegen sein muss, weil dort – so die türkische Überzeugung – die Gegenseite über den besseren Draht zu Justitia verfügt.

Wie gesagt, die Türkei ist anders als Europa – nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Religion. Dabei geht es nicht um den Unterschied zwischen Christentum und Islam, denn Europa ist längst nicht mehr christlich im herkömmlichen Sinn. Katholiken und Protestanten pflegen einen lässigen Laizismus. Mit Ausnahme von Ostern und Weihnachten stehen die Kirchen meist leer, und den Priester braucht man nur zur Beerdigung oder zur Hochzeit. Aber es wäre falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass Europa bar jeder Religiosität sei, dass es sein religiöses Erbe abgestreift hätte wie ein unmodisches Gewand.

Eine gemeinsame Basis

Europa ist ohne Religion nicht zu verstehen. Die Religion hat diesen Kontinent, seine Nationen und seine Menschen im Verlauf der letzten 2000 Jahre mehr geprägt als jede andere Ideologie. Ohne Religion kann man weder die Literatur noch die Musik, die Malerei oder die Architektur Europas begreifen. Vor allem aber ist Europas Wertekodex religiös geprägt; eben jenes Regelwerk, das die EU den Türken angelegentlich zur Nachahmung empfiehlt. Ob es um die Familienpolitik geht oder um Sozialpolitik – an der Wiege der europäischen Politik stand immer die Religion. Und ganz besonders gilt das für das Konzept der Menschenrechte.

Das Problem der Türkei nun liegt nicht darin, dass sie islamisch geprägt ist. Die Grundbegriffe von der Würde des Menschen, die sich ableitet aus der Unsterblichkeit seiner Seele, sind im Islam nicht anders als im Christentum oder im Judentum. Was diese Grundwerte anlangt, stehen Christen und Muslime auf einer gemeinsamen Basis. Das Problem der Türkei liegt vielmehr darin, dass sie sich einer Staatsdoktrin verschrieben hat, die im Wesentlichen a-religiös, ja in gewissen Zügen sogar religionsfeindlich ist. Die jungtürkischen Putschisten wollten mehr als nur die Trennung von Moschee und Staat. Sie waren atheistisch, und wenn der Glaube, der für sie gleichbedeutend mit Aberglauben war, absterben würde – nun, umso besser. Sie, und der Republikgründer Atatürk, unterschieden sich in diesem Punkt wenig von den Bolschewiki, welche die Religion als Hort der Rückständigkeit verdammten, weil sie in ihr den einzigen ernsthaften Konkurrenten erkannten. Dieses Erbe Atatürks und der Jungtürken lebt in der türkischen Republik fort.

Hier liegt einer der großen, ungenannten Widersprüche zwischen Europa und der Türkei. Hier ist der Hauptgrund, weshalb beide Seiten aneinander vorbeireden. Hier ist die Ursache, weshalb die Türkei wirklich nicht begreift, ja, nicht begreifen kann, warum die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist, warum die Menschenrechte so wichtig sind, warum man wehrlose Häftlinge nicht quält und schlägt. Und solange sie dies nicht erkennen kann, wird sie weiter – so wie bisher – Europa und seine Werte nur kopieren. Doch auf diese Weise bleiben sie unbeseelt, leblos, tot.

Kopf gegen Herz

Dahinter verbirgt sich der alles entscheidende Punkt: das Identitätsproblem. Die Türkei muss sich entscheiden, wohin sie gehört. Seit einem Jahrhundert befiehlt ihr der Kopf den Marsch nach Europa, doch das Herz verharrt im Osten. An diesem Widerspruch kranken das Land und seine Menschen, an dieser inneren Zerrissenheit krankt das Verhältnis des Landes zu seiner Umwelt. Die Folge sind Komplexe, die wiederum zu Aggressivität führen.

Der Schlüssel liegt in der Türkei. Nur eine selbstbewusste Türkei, die frei ist von Minderwertigkeitskomplexen, die ihren Platz gefunden und selbstbewusst eingenommen hat, wird ihre Rolle in der Völkergemeinschaft ausfüllen können. Und die Völkergemeinschaft braucht eine solche Türkei. Dabei ist es unerheblich, wie europäisch oder asiatisch, wie balkanisch oder orientalisch dieses Land ist – so lange es nur sich selbst treu ist. Ne mutlu Türküm diyene, sagte Atatürk: „Glücklich ist, wer sich Türke nennen kann. “ Es wäre keine schlechte Idee, wenn die zerrissenen Türken ihn endlich beim Wort nähmen.