Erlebnisse eines weiß-roten Froschs

Ein Jahr als Boschtutor in Polen

Von Martin Faber

Als Lehrer der eigenen Muttersprache im Ausland zu arbeiten ist eine dankbare Tätigkeit für Leute mit einer Neigung zum Besserwissen. Zumal dann, wenn man sie unter anderen Lehrern dieser Sprache aus dem Gastland selbst ausübt. In diesem Fall besitzt man nicht nur gegenüber den Schülern, sondern auch gegenüber den Kollegen eine nahezu unanfechtbare Autorität in fachlichen Fragen, ohne daß man irgendetwas dafür tun mußte. Wenn der Muttersprachler sagt, das sei so richtig, dann ist das richtig, auch wenn er es selbst nicht erklären kann. Je nach Temperament und Stimmung kann man die Fragen der einheimischen Kollegen herablassend, genervt oder mit beflissener Hilfsbereitschaft beantworten.

Besonders gewinnbringend für das Ego ist dieser Effekt natürlich, wenn man als Deutscher am Institut für Germanistik einer ausländischen Hochschule arbeitet, also unter Menschen, die ihr ganzes Berufsleben der deutschen Sprache gewidmet haben oder dies - im Fall der Studenten - zumindest vorhaben. Sämtliche Germanisten müssen sich darüber freuen, daß jemand kommt, der alles besser weiß als sie. Allein dieser Umstand sicherte mir schon eine gute Aufnahme an der Germanistik in Rzeszów. Hinzu kam, daß ich es mit Studenten zu tun hatte, die schon Vorkenntnisse mitbrachten, die Deutsch auch nicht nur für Geschäftszwecke lernen wollten und die sich im Laufe ihres Studiums ganz auf dieses eine Fach konzentrieren konnten. Dadurch konnte ich die in meinem Germanistik- und Geschichtsstudium erworbenen Fähigkeiten auch im sprachpraktischen Unterricht ganz anders einsetzen, als mir dies in einem Anfängerkurs möglich gewesen wäre. Außerdem hatten sich die Studenten alle selbst für dieses Fach entschieden und konnten bei einem erfolgreichen Abschluß mit guten Berufschancen rechnen, so daß sie in der Regel für die Arbeit motiviert waren. Dieser Umstand wurde allerdings gelegentlich konterkariert durch die Eigendynamik des Studiensystems, das am Ende jedes Studienjahres umfangreiche Prüfungen vorsieht und die Studenten zwingt, ihre Lerntätigkeit weitgehend auf die Aneignung des vorgegebenen Prüfungsstoffes zu konzentrieren. Das führte einmal dazu, daß mich die Studenten von sich aus baten, in den Lektüreübungen Goethes "Faust" und Schillers "Wallenstein" zu behandeln, die ja nicht gerade zu den eingängigsten Texten gehören. Der Wunsch der Studenten erklärt sich damit, daß die beiden Werke zum obligatorischen Stoff der Literaturprüfung des betreffenden Studienjahres gehörten, aber in den eigentlichen Literaturübungen nicht behandelt worden waren. So kam es auf diesem Umweg zu einer unvorhergesehenen Interessenkonvergenz zwischen Studenten und Dozenten, denn natürlich habe ich als gelernter Literaturwissenschaftler diesen Vorschlag hocherfreut aufgegriffen und bei der sprachpraktischen Didaktisierung von zwei klassischen Dramen selbst eine Menge gelernt.

So traf ich also bei meiner Arbeit an der Pädagogischen Hochschule in Rzeszów auf ein denkbar günstiges Umfeld. Die polnischen Kollegen gaben mir in der Regel das Gefühl, daß ich hier gebraucht würde und daß sie sich auf meine Arbeit freuten. Mein Vorgesetzter, Herr Professor Wawrzyniak, hatte eigens eine "opiekunka" für mich ernannt, die "junge Assistentin" (ein reiner Fachausdruck) Malgorzata Sieradzka, die mir mit großem Einsatz bei allem half, was erforderlich war, um mich in Rzeszów häuslich niederzulassen, und die auch dafür sorgte, daß ich nach zwei Tagen die schlechten Eigenschaften der meisten Mitarbeiter der Germanistik kannte. Und als es dann losging mit dem Studienjahr, stellte sich heraus, daß auch die Studenten dem Unterricht bei einem Muttersprachler mit besonderen Erwartungen entgegensahen. Dies nicht nur wegen meiner Sprachkenntnisse, sondern auch wegen meiner langjährigen Erfahrung mit dem Leben im Zielsprachenland. "Sie wollen wissen, wie Deutschland funktioniert", hatte mir eine befreundete polnische Germanistin vor Beginn meiner Tätigkeit die Interessen der Studenten erklärt. Diese erwiesen sich dann allerdings als deutlich selektiv. Im Gegensatz zu meinen Erwartungen interessieren polnische Germanistikstudenten sich nämlich nicht für politisch-gesellschaftliche Themen, und so stießen die ausgeklügeltsten Diskussionsvorschläge der einschlägigen DaF- Lehrbücher (DaF = Deutsch als Fremdsprache) zumeist auf eine höchst mäßige Resonanz. Wenn es dagegen um Lebensumstände, Sitten und Gebräuche oder die Organisation des alltäglichen Lebens in Deutschland ging, sah es bei den zumeist weiblichen Studenten schon anders aus. Hier wurde das Interesse zusätzlich gesteigert durch die verbreitete Erwartung, daß vieles sich in Polen in Zukunft ähnlich entwickeln wird, und durch den Umstand, daß viele Studenten sich mit dem Gedanken tragen, in Deutschland zu studieren und deshalb dankbar sind für alle Informationen darüber, was dann auf sie zukommt. Und in dieser Hinsicht besaßen wir Muttersprachler einen weiteren Vorteil gegenüber den polnischen Kollegen, nicht nur durch unsere Lebenserfahrung, sondern auch durch unsere Verbindungen nach Deutschland und die Möglichkeit, von dort Materialien für den Unterricht zu den entsprechenden Themen zu besorgen.

Diejenigen, mit denen ich diesen Vorteil teilte, waren meine beiden deutschen Kolleginnen Katja Glaeske, die DAAD-Lektorin, und Susanne Kramer, die den heroischen Schritt getan hat, sich ohne jegliche Unterstützung aus der Heimat auf Dauer als Dozentin für Deutsch in Polen niederzulassen. Nach einer anfänglichen Beschnupperungsphase gestaltete sich die Zusammenarbeit mit ihnen schließlich höchst erfreulich, und gemeinsam konnten wir manches erreichen, was einem einzelnen schwerlich möglich gewesen wäre. Beide haben auch wesentlich dazu beigetragen, daß mein Wirkungskreis in Rzeszów von Anfang an nicht auf die Hochschule beschränkt war. Der von Susanne gegründete deutsche "Stammtisch", zu dem sich an jedem Mittwoch die in Rzeszów lebenden Deutschen mit den hiesigen Polen treffen, die an Kontakten mit Deutschen interessiert sind, erwies sich als eine Drehscheibe für persönliche Beziehungen und den neuesten Lokalklatsch. Dem konnte auch die sozialistische Arbeitsmoral der Kellnerinnen wenig Abbruch tun, die ihren Mangel an Eifer nur unzureichend durch die Kürze ihrer Röcke kompensieren konnten.

Rzeszów selbst ist vielleicht keine Perle unter den polnischen Städten. Erst nach dem Krieg wurde es von den Kommunisten zum Zentrum von Südostpolen ausgebaut und entsprechend mit einer Reihe von Wohnblocksiedlungen versehen. Ich selbst bin mit dem Leben im Plattenbau hervorragend zurechtgekommen, abgesehen vielleicht vom Kleinkrieg mit meiner Nachbarin, Frau Czak, die auf jedes Geräusch, das der Deutsche über ihr tatsächlich oder vermeintlich produzierte, mit wüsten Drohungen reagierte, bei denen es dann aber glücklicherweise blieb.

Daß man in Rzeszów angenehm leben kann, zeigt auch die Tatsache, daß Susanne nur deshalb ihr Germanistikstudium in Warschau abgeschlossen hat, um danach wieder nach Rzeszów zurückkehren zu können. Und dies, obwohl sie politisch links steht und man im alten Galizien noch katholischer ist als anderswo in Polen. Das zeigt sich nicht nur an dem unangefochtenen Vorsprung, den Lech Walesa in dieser Region bei den Präsidentschaftswahlen errang, sondern auch an den prächtigen neuen Kirchen, die in den letzten Jahren überall errichtet werden und mit deren Schönheit sich moderne Kirchen in Deutschland nicht vergleichen können. Und wenn die Kirchen nicht neu und prächtig sind, dann sind sie alt und prächtig. Überall in den Dörfern und Städten der Umgebung trifft man auf großartige Barockkirchen, Städte wie Lezajsk, Jaroslaw, Przemysl und Sanok mit ihrer langen und oft multikulturellen Vergangenheit haben noch mehr zu bieten. Südlich der Stadt beginnen die Vorgebirge der Karpaten mit ihren ukrainischen Holzkirchen. Das Schloß im 14 Kilometer entfernten Lancut, eine Magnatenresidenz der Lubomirskis und Potockis und "die größte Sehenswürdigkeit von Rzeszów" diente am Anfang meines Aufenthaltes als Kulisse für einen Empfang der geladenen Wissenschaftler anläßlich des 20-jährigen Jubiläums der Rzeszówer Germanistik und wurde am Ende meines Aufenthaltes von der polnischen Regierung ausgewählt als Schauplatz für ein Gipfeltreffen der Präsidenten der mitteleuropäischen Staaten. So kam es dazu, daß der Bundespräsident in Rzeszów im Hotel "Budimex" übernachtete, das 150 Meter vom Gebäude der Germanistik entfernt liegt und dessen Restaurant von Dozenten und Studenten regelmäßig aufgesucht wird, wenn die letzteren mal wieder keine Lust auf Untericht haben. Und dann ist auch Krakau, Metropole und Touristenmekka, von Rzeszów aus leicht zu erreichen.

Schon im Oktober hatte ich mir ein Fahrrad gekauft, um damit die Umgebung zu erkunden und zur Hochschule zu fahren. Anfang Februar, während der dreiwöchigen Pause zwischen Winter- und Sommersemester und auf dem Höhepunkt des längsten Winters in diesem Jahrhundert, in dem Rzeszów vom 4. November bis Anfang April praktisch ununterbrochen eingeschneit war, stießen zwei Umstände bei meinen polnischen Bekannten regelmäßig auf Unverständnis: Daß ich bei der Affenkälte weiterhin mit dem Fahrrad unterwegs war und daß ich überhaupt in dieser freien Zeit freiwillig in Polen blieb und nicht nach Deutschland fuhr.

Ausländern, die sich mit Polen beschäftigen, wird es leicht gemacht, weil sich die Polen so viel mit sich selbst beschäftigen. Schon bei der Eröffnung des Studienjahres mußten die neuen Studenten der Pädagogischen Hochschule geloben, daß sie den ehrenvollen Beruf des Lehrers "dla dobra Ojczyzny", also "zum Wohl des Vaterlands" ausüben würden. Gerade die Tatsache, daß Polen sich in den vergangenen 200 Jahren immer wieder von äußeren Mächten unterdrückt fand und um seine nackte Existenz kämpfen mußte, hat offensichtlich dazu geführt, daß das Polentum in weiten Kreisen als ein positiver Wert an sich gilt und die Identifikation mit der Nation nicht in dem Maße fragwürdig geworden ist, wie das in Deutschland im Gefolge des Nationalsozialismus unausweichlich war. Infolgedessen hat die gesamte polnische Gesellschaft und auch die jüngere Generation ein im wesentlichen ungebrochenes Verhältnis zur Nation. Das Wohl der Nation hat im allgemeinen Bewußtsein einen überragenden Stellenwert, und aus dieser Perspektive bewertet man alle Ereignisse in Gegenwart und Vergangenheit. Das führt gelegentlich zu Verzerrungen, die ihren Urhebern oft gar nicht bewußt sind. So erwähnt mein (1993 erschienener) Stadtführer von Rzeszów zwar die Tatsache, daß vor dem Zweiten Weltkrieg die Bevölkerung der Stadt zu über 50% aus Juden bestand, berichtet aber von deren praktisch vollständiger Ermordung durch die deutschen Besatzer nur in 5 Zeilen, während dem Widerstand der polnischen "Patrioten" fast zwei Seiten gewidmet sind.

Meine Polenstudien wurden zusätzlich erleichtert dadurch, daß mein Aufenthalt in eine Zeit fiel, in der die Existenz der polnischen Nation so ungefährdet war wie lange nicht und zugleich das Selbstverständnis dieser Nation so angefochten war wie selten zuvor. Solange sich das Land in den vergangenen zwei Jahrhunderten gegen den dominierenden Einfluß seiner Nachbarländer zur Wehr setzen mußte, war unter seinen Bewohnern Solidarität das oberste Gebot. Nun, da Polen in einem Maße sich selbt überlassen ist wie seit langem nicht, werden die innergesellschaftlichen Konflikt ausgetragen, die früher hintangestellt werden mußten. Es stellt sich heraus, daß die traditionellen Werte wolnosc i niepodleglosc (Freiheit und Unabhängigkeit) nicht ausreichen, um eine Gesellschaft zu gestalten, daß vielmehr unterschiedliche Gruppen ihre Freiheit zu ganz unterschiedlichen Zwecken nutzen wollen. Entsprechend groß ist häufig das Erschrecken und die Ratlosigkeit angesichts der Gräben, die sich in der polnischen Gesellschaft auftun. Aber das Problem der Polen ist in meinen Augen gegenwärtig nicht, daß sie sich untereinander so viel streiten, sondern daß sie nicht daran gewöhnt sind, sich zu streiten. Die Ausbildung einer Streitkultur, von ständigen innergesellschaftlichen Konfliktlinien, wie sie für eine demokratische Gesellschaft selbstverständlich sind, ist gegenwärtig in vollem Gang und in allen öffentlichen Auseinandersetzungen sichtbar. Das zeigt sich schon an der Beliebtheit, derer sich in den letzten Jahren Meinungsumfragen erfreuen, an denen man ja am besten ablesen kann, daß nicht immer alle der gleichen Ansicht sind. Ich hatte das Glück, daß ich am Beginn meines Aufenthalts den Präsidentschaftswahlkampf in aller Ausführlichkeit miterleben konnte, der einen hervorragenden Einblick in die politische Situation des Landes ermöglichte. Und als ich mich danach auf eine weniger interessante Phase in der polnischen Politik einrichtete, begann der Kampf um die Spionagevorwürfe gegen den Ministerpräsidenten Oleksy, in dem die Fronten zwischen den Vertretern des alten Systems, die nun wieder an der Regierung sind, und der demokratischen Opposition so klar zutage traten wie lange nicht mehr.

Dennoch waren der Hauptgegenstand meines Interesses an der polnischen Politik nicht die Exkommunisten, sondern die in zahlreiche Parteien und Gruppen zersplitterte Rechte, an der viele Phänomene zu beobachten sind, die in Deutschland so nicht vorkommen. Dies beginnt schon damit, daß es in Polen anders als in Deutschland die Rechte ist, die die Meinungsführerschaft in der öffentlichen Diskussion besitzt. Die Ursache dafür dürften wohl die unterschiedlichen Erfahrungen mit totalitären Regimen in der jüngsten Vergangenheit der beiden Länder sein. Demonstrationsaktionen gehen in Polen meistens von der Rechten aus, und sie ist es, die öffentlich mit dem Anspruch auftritt, daß ihre Anschauungen die einzigen sind, die ein redlicher Mensch vertreten kann, und die dazu neigt, die Existenz entgegenstehender Kräfte auf das Wirken geheimnisvoller, finsterer Mächte zurückzuführen. Eine weitere auffällige Erscheinung ist die ausgeprägte Militärkultur. Während in Deutschland seit dem Krieg die Armee in der Öffentlichkeit mit äußerster Zurückhaltung auftritt, ist sie in Polen selbstverständlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens, wo nicht nur Veteranen bei nationalen Feierlichkeiten in Uniform auftreten, Pfadfinder militärische Traditionen pflegen und die Schaufenster der Buchläden voll mit Kriegsbüchern sind, sondern wo auch ständig neue Gedenksteine für gefallene Soldaten und Denkmäler für Helden der vergangenen Kämpfe um Freiheit und Unabhängigkeit Polens errichtet werden. Aber das gerade für einen Deutschen vielleicht bizarrste Phänomen ist der verbreitete Antisemitismus in Polen. Ein polnischer Soziologe wies mir gegenüber einmal auf die erstaunliche Tatsache hin, daß es nicht die Deutschen sind, gegen die die Polen nach den Erfahrungen der Vergangenheit die meisten Aversionen haben. Denn obwohl es in ganz Polen heute nur noch etwa 4000 Juden gibt, werden immer wieder die Juden genannt, wenn es darum geht, Verantwortliche für die gegenwärtigen Schwierigkeiten des Landes zu benennen. Linke und liberale Politiker und Journalisten werden als versteckte Juden und Freimaurer bezeichnet, überall im Wirtschaftsleben vermutet man Machenschaften von Juden, und die Ansprüche der jüdischen Weltgemeinschaft auf ein angemessenes Gedenken an den Holocaust, der zum größten Teil auf polnischem Boden stattgefunden hat, werden in rechtsgerichteten Kreisen als Versuch der Juden angesehen, sich in Polen einen ungebührlichen Einfluß zu verschaffen. Die Juden erfüllen hier die klassische Funktion des Sündenbocks in den Augen mancher Polen, die sich die Probleme in ihrem doch nun unabhängigen und freien Land nicht anders erklären können, als daß dieses weiterhin von äußeren Mächten manipuliert wird.

Diese verzerrte Sicht auf die Probleme des Landes hat auch nicht wenig zum Sieg des postkommunistischen Kandidaten Kwasniewski bei den Präsidentschaftswahlen beigetragen. Viele Politiker der Rechten glaubten dessen Sieg einfach dadurch verhindern zu können, daß sie den Wählern einredeten, er bedeute die Rückkehr zum kommunistischen System, das in Polen immer als russische Fremdherrschaft interpretiert worden ist. Daß die Postkommunisten mittlerweile für ganz andere politische Optionen stehen und die Wähler aus ganz anderen Gründen geneigt waren, für sie zu stimmen, kam ihnen nicht in den Blick, und so versäumten sie es, im Wahlkampf die Argumente zu thematisieren, die tatsächlich gegen die Wahl der Postkommunisten sprachen.

Vergleichbares kann man in gewisser Weise auch von der polnischen Kirche sagen, über die natürlich viel zu erzählen wäre. Für mich als deutschen Katholiken war ermutigend die Erfahrung einer selbstbewußten Kirche, die in den Auseinandersetzungen, in die sie verwickelt ist, offensiv auftritt und nicht so verzagt und konzessionsbereit, wie das in Deutschland mittlerweile die Regel geworden ist. Andererseits ist aber auch hier zu beobachten, wie man Schwierigkeiten hat, die Ursachen der neuen Probleme wahrzunehmen, die sich nach dem Ende des atheistischen politischen Systems und dem Aufbruch in die Wohlstandsgesellschaft nun stellen. Hier herrscht oft Ratlosigkeit, die dann hinter einer aufwendigen Rhetorik verborgen wird. Andererseits ist aber auch deutlich, daß bei allen Tendenzen, die Polen aus Gründen der nationalen Tradition auf die katholische Kirche zu verpflichten, in dieser allerorten sehr viel mehr echte, ursprüngliche religiöse Substanz vorhanden ist als in den Kirchen des Westens.

Hier sollte vielleicht auch gesagt werden, daß das Verfolgen der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Polen für einen Gast aus Deutschland insofern besonders anregend und bereichernd ist, als man dabei den Eindruck gewinnt, daß es hierbei wirklich noch um etwas geht, daß öffentliche Initiativen und Wahlentscheidungen tatsächlich noch entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft bewirken können und nicht die postindustrielle Gesellschaft in ihren Sachzwängen schon so weit erstarrt ist, daß sie nur noch vor der Frage steht, wie sie der Langeweile entkommen kann. Diesen Kontrast habe ich immer empfunden, wenn ich bei meinen Freunden in Krakau für ein paar Tage über Satellit das deutsche Fernsehprogramm ansehen konnte. Die Sattheit und der Zynismus, die sich dort breitmachen, ließen mich fragen, ob der Transformationsprozeß hin zum westlichen Wirtschaftsssystem, wie er sich gegenwärtig in Polen vollzieht, wirklich so positiv zu bewerten ist, wie einem das im alltäglichen Leben meistens vorkommt.

Denn da kommt normalerweise wenig Zweifel daran auf, daß sich Polen dem Westen angleichen sollte. Der zivilisatorische Rückstand, der aus vergangenen Zeiten überkommen ist, ist noch allenthalben spürbar und hat immerhin den Vorteil, daß sich trefflich darüber räsonieren läßt. Die labbrigen Türklinken sind auch in den modernsten Gebäuden noch regelmäßig anzutreffen, ebenso wie die primitiven und schlecht schließenden Fenster, die mir meine Vermieterin im Winter, als der Ostwind eisig aus Sibirien herüberwehte, mit Streifen von zusammengerolltem Softklopapier abzudichten empfahl. In den Wohnungen liegen die Rohrleitungen frei in den Badezimmern, die häufig nicht abschließbar sind, weil der Schließzapfen mit Farbe übermalt worden ist und sich nicht mehr bewegen läßt, so daß nur der Lichtschein hinter der Milchglasscheibe in der Tür signalisiert, wann man tunlichst nicht eintreten sollte. Umgekehrte Schwierigkeiten hat man manchmal mit den Wohnungstüren. Dort ist das Hineinkommen erschwert, weil die Klingel kaputtgegangen und von den Bewohnern nicht repariert worden ist. Wenn man es nur weiß, kann man stattdessen ja klopfen, woran sich manche Polen schon so gewöhnt haben, daß sie auch dann klopfen, wenn die Klingel funktioniert. Auf der Straße bekommt man es mit dem polnischen Knetgummiasphalt zu tun, der bei Temperaturen über 28 Grad selbst unter den Füßen von Fußgängern nachgibt, oder mit der halsbrecherischen Pflasterung der Bürgersteige, geradezu einem Symbol des Sozialismus, das glücklicherweise in letzter Zeit in den polnischen Innenstädten forciert durch einen neuen Belag mit kleineren Steinen ersetzt wird. Bei Regen, wenn sich riesige Pfützen bilden oder gar im Winter, wenn Schnee und Matsch auf den Bürgersteigen liegenbleiben, weil es keine Schneeräumpflicht gibt, muß man sich noch mehr vorsehen. Ebenso, wenn man nachts durch eine Straße kommt, in der eine ganze Strecke von Straßenlaternen ausgefallen ist. Auch im Telefonsystem muß man mit regelmäßigen Problemen rechnen. Die polnische Post hat neuerdings marmorblitzende Schalterhallen erhalten, aber die Klebeschicht auf ihren Briefmarken ist immer noch so dünn wie früher. Die Briefbeförderung ist zwar bedeutend schneller geworden, so daß Briefe aus Rzeszów in der Regel schon nach 4 Tagen in Deutschland waren, aber Mitte Dezember kam es dann unversehens doch zu einem Kollaps des Systems, so daß die Empfänger meiner Weihnachtspost mir die Ankunft meiner Briefe erst in den ersten Januartagen meldeten. Das führte auch dazu, daß ich meine Rückfahrt nach Rzeszów aus den Weihnachtsferien ohne die mir eigentlich zustehende Ermäßigung bei der polnischen Eisenbahn antreten mußte. Denn die Formulare der entsprechenden "Legitymacjas" trafen erst am 28. Dezember bei den polnischen Hochschulen ein, und trotz sofortiger Nachsendung durch meine Betreurin kam mein Exemplar erst bei meinen Eltern an, als ich selbst schon wieder in Rzeszów war. Die polnische Bürokratie ist sowieso ein Kapitel für sich, mit ihren sturen Panis, die jeden Vorgang in große Hefte eintragen, was man auch in Geschäften noch oft erleben kann. Einen Extremfall des Nebeneinanders von Hochtechnologie und archaischen Verhaltensweisen erlebte ich einmal in einem Geschäft, in dem die Verkäuferin über eine Kasse mit Laserabtaster verfügte und dennoch die von mir erworbene Tube Zahnpasta samt Preis mit blauem Kugelschreiber in einem Rechenheft verbuchte.

In den polnischen Geschäften kann man mittlerweile so gut wie alles kaufen, solange man nur weiß, wo. Denn der Kapitalmangel ihrer Besitzer begrenzt die meisten Läden auf einen engen Raum und ein kleines Sortiment, das zudem meistens noch hinter einem Ladentisch aufgebaut ist, so daß der an Warenhäuser mit Selbstbedienung gewöhnte Westler nur durch Vermittlung der Pani hinter der Theke an das kommt, was er haben will, was immerhin die Sprachkenntnisse fördert. In den zahlreicher werdenden Supermärkten haben die Verkäuferinnen an den Registrierkassen auch bei weitem noch nicht das Tempo ihrer deutschen Kolleginnen von Aldi erreicht. Und dann wird man auch hier mit dem Phänomen konfrontiert, daß Ausländer, die erst seit kurzem im Land sind, sich schon besser als die Polen selbst darauf eingestellt haben, daß vor eineinhalb Jahren von der inflationären polnischen Währung vier Nullen gestrichen worden sind und die alten Scheine immer mehr aus dem Verkehr gezogen werden. Man muß eben wissen, daß die Verkäuferin in alten Zloty rechnet, wenn sie 175 sagt und damit 175000 meint, obwohl die Kasse 17,50 (neue Zloty) anzeigt.

Aber das Einkaufen in Polen hat auch seine Vorteile gegenüber Deutschland, zum Beispiel die 24-Stunden-Läden, die den Einkauf von Lebensmitteln rund um die Uhr ermöglichen. Oder die vielen verschiedenen Geschmacksrichtungen von Galaretka (Götterspeise) und die Fertigpackungen von polnischen Gerichten, sei es Barszcz in Pulverform oder tiefgefrorene Pierogi. Auffallend ist das große Angebot an verschiedenen Margarinesorten. Im polnischen Fernsehen tobt ein regelrechter Margarinekrieg. Nur noch für Waschmittel werden ähnlich viele Werbespots gesendet und gerade die Margarinespots zeichnen sich durch besondere Phantasie und ihren Bezug zur polnischen Kultur aus. Daß diese ansonsten durch die westliche Konsumwelt mittlerweile massiv beeinflußt ist, zeigt sich auch in der polnischen Sprache, die dazu neigt, Produkte nach ihrem bekanntesten Hersteller zu benennen, so daß z.B. Sportschuhe als "adidasy" und Höschenwindeln als "pampersy" bekannt sind. Andererseits ist die Amerikanisierung der Sprache in Polen (noch) nicht so vorangeschritten. Als mich einmal eine Kollegin um Auskunft bat, die beim Deutschunterricht in der Schule von den Kids gefragt worden war, was "rowery górskie" und "lyzworolki" auf Deutsch heiße, mußte ich ihr erklären, daß man dies keineswegs mit "Bergräder" und "Rollschlittschuhe" übersetzt, sondern mit "Mountainbikes" und "Rollerblades".

Zum Schluß noch ein paar Worte über die Polen. Sie kennenzulernen ist einfach, denn man findet in Polen viel leichter Bekannte und Freunde als in Deutschland. Noch besser geht es natürlich, wenn man sich der Mühe unterzieht, die polnische Sprache zu lernen. Das ist man in Polen nicht gewohnt, und wenn ein Ausländer sich auf polnisch unterhalten kann und sich dazu noch mit den Verhältnissen im Land einigermaßen vertraut zeigt, kann er auf großes Interesse und große Sympathie hoffen. Bei mir kam es im Lauf der Zeit dazu, daß ich beim Gespräch an einem bestimmten Punkt mit dem Lob für mein hervorragendes Polnisch geradezu rechnete, was trotz aller Fehler, deren ich mir bewußt war, immer guttat.

Ansonsten ist mir aufgefallen, daß viele Eigenschaften, die anderswo in Europa als typisch deutsch gelten, in Polen noch stärker ausgeprägt sind als in Deutschland. Zum Beispiel das Kartoffelessen. Als ich einmal mit einem Konversationskurs den letztjährigen Kalender des Goethe-Instituts durchging, der allen Boschtutoren beim Vorbereitungstreffen in München geschenkt worden war und dessen Redakteure auf dem Oktoberblatt den Deutschlernern in aller Welt weismachen wollten, daß Kartoffeln etwas typisch deutsches seien, wurde mir klar, wie sehr das DaF- Establishment in Deutschland doch noch nach Westen orientiert ist. Auch der an den Deutschen so häufig belächelte Abkürzungsfimmel (Aküfi) ist in Polen noch stärker ausgeprägt, und es gibt dort deutlich mehr Hunde als in Deutschland. Die stärksten Affinitäten finden sich aber wohl im Bereich der Freizeitgestaltung: Auch das Wandern durch Wald und Flur wurde von dem erwähnten Goethe-Kalender als typisch deutsch dargestellt, obwohl die Polen die Deutschen beim Wandern regelmäßig abhängen. Und wenn die Polen nicht wandern, verbringen sie ihr Wochenende im Schrebergarten und träumen dort vom Urlaub auf "Majorka". Nur in einem Punkt hatte ich wirkliche Schwierigkeiten, mich mit der polnischen Kultur vertraut zu machen: Die Polen machen es einem schwer, ihre Kirchenlieder zu lernen, weil es in den Kirchen keine Gesangbücher mit Liednummern gibt, denn die Polen können alles auswendig. Aber vielleicht ist es gerade das, was die Deutschen von ihnen lernen sollten, und ich werde mich weiter bemühen. Juni 1996


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