AM ANFANG WAR DAS MEER

Die Schöpfungsmythen vieler Religionen erklärten schon lange vor der Wissenschaft: Alles Leben kommt aus dem Ozean. Er symbolisiert Unendlichkeit und Erlösung


Von Walter Saller

„Die schwarze Greisin ist barfuß. Sie trägt einen Strauß Rosen, deren üppige Blätter an den tropischen Garten erinnern, in dem sie gewachsen sein mussten. Der Wind vom Atlantik hat sich in den weißen Lumpen der Alten verfangen, so dass sie einer Möwe gleicht, die über den Strand flattert. Dann steht sie im knietiefen Wasser. ‘Sie bereitet sich vor auf den Tod’, sagt Alimbi...“
Die alte Frau betet zu Yemanja, der Göttin des Meeres im Kult des Umbanda. Alimbi ist ein Babalo, ein Priester der afrobrasilianischen Religion. „Wir kommen aus dem Meer“, sagt er. „Und zum Meer werden wir zurück gehen.“ Er spricht davon, dass auch das Firmament ein grenzenloser Ozean sei und die Sterne nichts als strahlende Archipele. Das Meer ist für ihn nur eine Spiegelung des Himmels. Und der Himmel ist ein Meer.
Jede lebende Kreatur, sagen die Griechen, entstammt dem Okeanos, der sich selbst erschuf und die Welt umspült. Der erste Ton, den der menschliche Fötus in seiner Fruchtblase hört, ist der Klang von Wasser. Der Rhythmus des entspannten Atmens stimmt, wie bereits Vergil betont, auf verblüffende Weise mit dem Takt einer mäßig bewegten See überein.
Der Mythos von der Sintflut ging in die Religionen der Juden, Christen, Moslems ein. Das überflutende Meer wurde zum Sinnbild für den Zorn der Götter. Aber der Ozean symbolisiert nicht nur Ursprung und Apokalypse. Er ist auch eine Allegorie der Unendlichkeit und Erlösung, Heilsweg und Gott zugleich.
In manchen Kulturen verkörpert der Ozean noch heute die verborgenen Eigenschaften der Götter und Geister, personifiziert in den Geschöpfen des Meeres. Fischer und Seeleute beten zu den Tieren und bringen ihnen Opfer dar. An schintoistischen Schreinen verehren Japaner Haie als Götter der Stürme und der Tsunamis. Die Bewohner Hawaiis hatten - vor der Christianisierung durch die Weißen - eine enge und spirituelle Beziehung zum Meer. Für alles, was mit dem Meer zusammenhing, kannten sie eigene Götter, für das Wetter, die Wellen, den Fischfang, den Bootsbau usw. Auch für die Inuit Alaskas, Kanadas und Grönlands lebt im Meer ein Heer von Dämonen Die Inuit jagen Wale, obwohl sie in ihnen mächtige Geister sehen. Jede Jagd ist deshalb für sie auch ein spirituelles Unternehmen, denn nur durch die Versöhnung mit dem getöteten Tier vermag der Jäger das Gleichgewicht der Natur wiederherzustellen. Denn wie Wal, Robbe und Eisbär entstammt für die Inuit auch der Mensch aus dem Meer.


Quelle: Zeitschrift Mare,Textzusammenfassung: wbo
Walter Saller, 1956 geboren, studierte Arabisch und Religionswissenschaft. Er lebt als freier Autor in Berlin.