Schöne Aussichten

"Bin ich dir auch nicht zu schwer?"

Jarod schnaubte abfällig über Miss Parkers Frage. Zum einen war ihr Gewicht kaum der Rede wert, und zum anderen trug er sie schon seit einer Viertelstunde.

"Nein", war alles, was er sagte. Er hatte wirklich keine Lust, sich schon wieder auf eine Diskussion einzulassen. Miss Parker schien diesen Wunsch nicht zu teilen.

"Ich kann selbst laufen. Laß mich runter."

Entnervt blieb Jarod stehen.

"Oh, sicher, du kannst selber laufen, aber wir wollen doch noch vor Einbruch der Dunkelheit ankommen, nicht wahr? Dein Knöchel war vor einer Viertelstunde verstaucht, und du kannst mir glauben, daß er das jetzt auch noch ist. Ich werde dich nicht diesen verdammten Berg hochhumpeln lassen, verstanden?"

Als Antwort erhielt er zunächst nur ein Seufzen.

"Willst du den ganzen Tag hier herumstehen, oder gehst du irgendwann weiter?" fragte Miss Parker nach einer Weile. Jarod schüttelte fast unmerklich den Kopf und setzte sich wortlos wieder in Bewegung.

Ein paar Minuten lang schwiegen sie beide, dann hörte Jarod Miss Parkers nachdenklich klingende Stimme.

"Ich frage mich, was Sydney sagen würde, wenn er uns so sehen könnte. Oder Raines." Ihre letzten Worte veranlaßten sie zu einem leisen Lachen, das angenehmer klang als alles, was Jarod je gehört hatte. "Nun, es ist nicht sehr schwer, sich Raines' Reaktion vorzustellen..."

Auch Jarod mußte lächeln, wenn auch eher wegen Miss Parkers ungewohnter Heiterkeit.

"Ich glaube nicht, daß Sydney sehr überrascht wäre", meinte er.

"Er steckt also auch in dieser Sache drin, hm?" erkundigte sich Miss Parker. In ihrer Stimme schwang kein Ärger mit, nur leichte Neugier.

"Ich habe ihn gefragt, was er dazu meint", gab Jarod zu.

"Und er war dafür", schloß sie.

"Nicht unbedingt. Er meinte, daß es nicht funktionieren würde", erklärte Jarod, nicht ohne eine gewisse Genugtuung. Sein Plan hatte funktioniert - wenn auch mit Einschränkungen.

Wieder breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Jarod stieg weiter bergauf und versuchte abzuschätzen, wann sie die Bergstation erreichen würden. Das Wetter hatte sich bis jetzt gehalten, und wenn alles gutging, konnten sie in guten zwei Stunden am Ziel sein.

"Jarod?"

"Hm?"

"Laß mich runter."

Ihr Tonfall veranlaßte ihn, ihrer Bitte sofort Folge zu leisten. Er blieb stehen und setzte sie dann vorsichtig auf dem Boden ab. Besorgt musterte er sie.

"Alles in Ordnung?" wollte er wissen.

Sie nickte und lächelte kurz, dann begann sie, etwas im Rucksack zu suchen. Schließlich zog sie ihre Wasserflasche hervor.

"Du mußt auch Durst haben", stellte sie dann fest. Als er nickte, warf sie ihm die zweite Flasche zu. Mühsam humpelte sie ein paar Schritte bis zu einem Felsen und setzte sich, bevor sie die Flasche an ihre Lippen hob. Ihr Blick schweifte ins Tal, und Jarod mußte sich zwingen, den Blick von ihr zu lösen. In letzter Zeit ertappte er sich immer öfter dabei, daß er sie anstarrte.

Eine Weile genoß er einfach die Aussicht, dann schweifte seine Aufmerksamkeit in die Vergangenheit. Er hörte Miss Parker erst, als sie seinen Namen zum zweiten Mal rief. Jarod sah sie wieder an.

"Hast du an Nia gedacht?" fragte sie. Ihre Stimme klang sehr sanft, aber ein seltsamer, ungewohnter Unterton schwang darin mit. Überrascht blinzelte Jarod. Für einen kurzen Moment überlegte er, ja zu sagen, und sie damit zu belügen. In den letzten Tagen war er immer ehrlich zu ihr gewesen. Wider Erwarten hatte sie nicht versucht, ihn zu verletzten, nachdem er sie an seinen Gefühlen teilhaben ließ. Deshalb beschloß er, ihr auch jetzt die Wahrheit zu sagen.

"Nein, ich habe nicht an sie gedacht", erwiderte er. Plötzlich wurde ihm klar, daß er schon lange nicht mehr an sie gedacht hatte. Jetzt stellte er fest, daß der Gedanke an Nia nicht mehr schmerzhaft war - er sah in ihr eine gute Freundin, und er bedauerte nur die Tatsache, daß er sie so bald nicht wiedersehen konnte.

Für einen Moment erfaßte ihn leichte Verwirrung. Wie kam sie darauf? Dann wurde es ihm auf einmal klar - sie glaubte, daß ihn diese Umgebung an Nia erinnerte hatte. Miss Parker war eifersüchtig, und das erklärte auch die merkwürdige Anspannung in ihrer Stimme. Wärme und eine völlig irrationale Freude erfüllten Jarod.

Er legte die paar Schritte bis zu ihrem Felsen zurück und sah sie an.

"Ich habe an dich gedacht", sagte er leise. Ihre Augen weiteten sich überrascht, zeigten eine Mischung aus Erleichterung und etwas, das Jarod nicht bestimmen konnte, das ihn aber darin bestätigte, weiter zu sprechen. "Erinnerst du dich noch an den Tag, als du mir von deinem Ausflug in die Berge erzählt hast?"

An ihrer Reaktion erkannte er, daß sie sich erinnerte. Wie viele Jahre war das jetzt her? Eigentlich spielte es keine Rolle - Jarod konnte sich noch genau an ihre Worte erinnern. Zunächst hatten ihn ihre Beschreibungen der Natur fasziniert, dann hatte er Neid empfunden, wie immer, wenn sie von Dingen erzählte, die sie außerhalb des Centres tat. Sein Neid hatte sich in Eifersucht verwandelt, als sie von einem der Jungen erzählt hatte, der auch bei dem Ausflug dabeigewesen war und offenbar ihr Interesse erregt hatte.

Damals hatte er sich bemüht, diese Empfindung vor ihr zu verstecken, aber sie hatte sie trotzdem bemerkt. Erst heute wurde ihm klar, wie einfühlsam sie damals reagiert hatte. Sie hatte ihn abgelenkt, indem sie von ihrer Mutter sprach - obwohl das für sie schmerzhaft gewesen sein mußte. Früher war ihm das nicht aufgefallen, aber jetzt bedeutete es ihm eine Menge.

...

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