Ohne Ausweg

"Komm schon, Parker, wach endlich auf." 
Die Worte drangen nur undeutlich in ihr Bewußtsein, aber sie erkannte Lyles Stimme. Der besorgte Tonfall schien überhaupt nicht zu ihm zu passen, und sie fragte sich verwundert, was los war. Langsam und vorsichtig öffnete sie ihre Augen.

"Na endlich", ließ sich Lyle vernehmen. "Ich dachte schon, du wachst überhaupt nicht mehr auf."

"Das könnte dir so passen", murmelte Miss Parker, während sie sich bemühte, sich an die Ereignisse der letzten Stunden zu erinnern. Nach einer kurzen Weile gab sie entnervt auf.

"Was ist passiert?" wollte sie von ihrem Bruder wissen. Er kniete sich vor sie und musterte sie eingehend, bis sie ihn mit einer ungehaltenen Geste fortscheuchte. Lyle schnitt eine Grimasse, wich aber ein wenig zurück.

"Du hast einen Schlag auf den Kopf bekommen", informierte er sie.

"Das erklärt einiges. Wie ist es dazu gekommen?"

Ohne zu antworten, stand Lyle wieder auf.

"Lyle!"

Sie sah ihn wütend an, und zum ersten Mal wurde sie sich ihrer Umgebung bewußt. Das hier war ihr Büro im Centre. Sie saß auf dem Boden, mit dem Rücken an der Wand. Ihr Bruder stand jetzt neben dem Fenster, das mit einer dicken Stahlplatte verschlossen worden war...

Hastig richtete sich Miss Parker auf. Die schnelle Bewegung verursachte ihr Übelkeit, und mit einem Stöhnen sank sie wieder zurück. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an etwas.

Sie war in ihrem Büro gewesen, als Lyle hereingekommen war. Nur Sekunden darauf hatte eine Explosion das Centre erschüttert, und dann war ein Sicherheitssystem aktiviert worden, von dessen Existenz sie bis dahin nichts gewußt hatte. Und jetzt waren sie hier gefangen.

"Was zum Teufel ist hier überhaupt los?"

"Offenbar hat jemand versucht, das Centre in seine Einzelteile zu zerlegen. Vielleicht hat Sydney ja mal wieder mit Sprengstoff herum gespielt..."

"Sei nicht albern", erwiderte Miss Parker scharf. "Das wird er wohl kaum noch einmal versuchen. Jemand anders muß dahinter stecken. Kandidaten gibt es ja genug."

Miss Parker betastete vorsichtig ihren Kopf. Außer einer schmerzhaften Beule konnte sie aber nichts feststellen. Unvermittelt erinnerte sie sich an eine weitere Szene, die sich unmittelbar vor ihrer Bewußtlosigkeit abgespielt hatte. Durch die Erschütterung hatte Lyle das Gleichgewicht verloren und war gegen sie geprallt, woraufhin sie ebenfalls gestürzt und mit dem Kopf an die Kante ihres Schreibtisches geprallt war. Vage Besorgnis regte sich in ihr.

"Wie lange bin ich bewußtlos gewesen?" fragte sie.

Lyle warf einen Blick auf seine Uhr.

"Etwa zehn Minuten", meinte er dann. "Kein Grund, besorgt zu sein."

"Ja, du hast gut reden. Was ist mit der Tür?"

"Stahlgitter. Da ist kein Durchkommen. Wir werden wohl hier warten müssen."

"Oh nein, keine Chance. Je eher ich hier raus bin, desto besser."

Gewarnt durch ihren ersten Versuch, stand sie diesmal langsamer auf. Ihr war zwar etwas schwindelig, aber die Übelkeit hielt sich in beherrschbaren Grenzen. Lyle lehnte sich gegen das Fenster und betrachtete sie amüsiert.

"Ach, und wie willst du das anstellen?"

"Das weiß ich auch noch nicht", erwiderte sie gereizt. "Willst du da nur herumstehen oder hilfst du mir vielleicht?"

"Wenn du mir sagst, wie..."

"Denk einfach nach, okay?"

Miss Parker sah sich in ihrem Büro um, während sie angestrengt nachdachte. Gegen den Stahl war sie machtlos, da hatte Lyle leider recht. Aber es mußte doch einen anderen Weg geben...

Plötzlich fiel ihr Angelo ein. Sie ging die wenigen Schritte zu dem kleinen Badezimmer und öffnete die Tür. In der gegenüberliegenden Wand fand sie, was sie gesucht hatte.

"Was hast du vor?" fragte Lyle aus dem anderen Zimmer.

"Komm her und sieh's dir selbst an", schlug sie ihm vor.

Vorsichtig öffnete sie die Abdeckung des Lüftungsschachts. Erleichtert stellte sie fest, daß das Sicherheitssystem sich offenbar nicht bis auf das Lüftungssystem ausdehnte. Der Weg vor ihr schien frei zu sein.

"Du willst durch die Lüftung kriechen?"

Der Tonfall ihres Bruders war mehr als skeptisch.

"Allerdings. Du kannst ja hierbleiben."

Mit diesen Worten zog sie sich nach oben, bis sie Halt in dem engen Schacht fand. Langsam kroch sie vorwärts. Nach ein paar Minuten hörte sie, daß Lyle ihr folgte.

Während sie durch den Schacht kroch, schöpfte sie langsam wieder Hoffnung. Vielleicht schafften sie es ja, durch das Lüftungssystem ins Freie zu gelangen. Miss Parker folgte ihrer Intuition und hoffte, daß sie nicht in einer Sackgasse landen würden. Fünf Minuten und drei Abzweigungen später wurde diese Hoffnung allerdings zerstört.

"Verdammt!" fluchte Miss Parker.

"Was ist los?"

"Dieses idiotische Sicherheitssystem! Direkt vor uns ist eine Stahlplatte. Hier geht's nicht weiter."

"Na großartig. Am besten, wir kriechen zurück und versuchen eine andere Richtung."

"Auf gar keinen Fall! Ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens in den Lüftungsschächten des Centres zu verbringen."

"Was..."

Weiter kam Lyle nicht, denn der Lärm, den seine Schwester verursachte, übertönte ihn. Sie hatte einen Ausstieg entdeckt, den sie wütend bearbeitete, bis er nachgab.

"Na also!" sagte sie triumphierend und ließ sich durch die Öffnung auf den Boden herab. Jetzt befand sie sich in dem Korridor, der zu ihrem Büro führte. Direkt über ihr verlief der Lüftungsschacht, der sie hierher gebracht hatte.

"Und jetzt?" fragte Lyle, nachdem er ebenfalls aus dem Schacht geklettert war. Er schien die Angelegenheit noch immer eher als eine Art Spiel zu betrachten.

"Ich weiß es nicht", gab sie zu. "Aber immerhin sind wir schon mal aus meinem Büro heraus. Möglicherweise gibt es noch andere Abschnitte der Lüftung, die von hier aus zugänglich sind."

Der Korridor war auf einer Länge von mehreren Hundert Metern frei begehbar, aber alle Türen sowie die Lifte waren durch Stahlplatten gesichert.

"Wer auch immer dieses System konstruiert hat, er hat dafür gesorgt, daß niemand, der drinnen ist, nach draußen gelangen kann", stellte Miss Parker sarkastisch fest. "Hast du eine Ahnung, wie man es abschalten kann?"

Lyle rüttelte gelangweilt an einer der Türen.

"Soweit ich weiß, geht das nur vom Tower aus oder von Daddys Büro. Allerdings werden wir da kaum hin gelangen. Wozu überhaupt die Mühe? Sicher erledigt sich alles bald von selbst."

"Darauf werde ich mich nicht verlassen. Verdammte... Tür, geh schon... auf!"

Mit aller Kraft zog sie an der Tür, die genauso verschlossen blieb wie alle anderen davor. Enttäuscht schlug Miss Parker mit der Faust gegen das Holz. Zu ihrer Überraschung erhielt sie eine Antwort. Jemand klopfte von der anderen Seite gegen die Tür.

"Hallo?" rief sie. "Ist jemand da drin?"

"Miss Parker?"

Die Stimme klang gleichzeitig ängstlich und erleichtert. Sie kannte die Stimme.

"Debbie! Bist du allein?"

"Ja. Bitte holen Sie mich hier raus!"

"Keine Angst, wir sind gleich bei dir."

...

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