Ein alter Bekannter

The Centre
Blue Cove, Delaware
01/03/1974


"Hallo, Sydney!"

Er fuhr überrascht herum, als er eine vertraute Stimme hörte.

"Miss Parker, was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie wären im Internat."

Sie verzog ihr hübsches Gesicht, doch dann lächelte sie.

"Wir haben gerade Ferien", erklärte sie ihm.

"Und die verbringen Sie ausgerechnet hier? Im Centre?"

"Daddy hatte hier etwas zu erledigen, und ich wollte nicht alleine zu Hause bleiben."

"Ich verstehe."

Sydney musterte das junge Mädchen, erstaunt, wie groß sie geworden war. Ebenso wie Jarod, schoß es ihm durch den Kopf.

"Wieso sind Sie nicht bei Jarod?" wollte sie wissen.

"Weil wir für heute mit der Arbeit fertig sind. Außerdem verbringe ich nicht meine gesamte Zeit mit ihm."

"Aber ziemlich viel. Zumindest war das früher so. Ich muß jetzt gehen. Bis bald, Sydney."

"Auf Wiedersehen, Miss Parker."

Er sah ihr nach, als sie den Korridor hinunterging. Sie war schon fast erwachsen. Von dem kleinen Mädchen, das sie einmal gewesen war, konnte er bereits nichts mehr entdecken. Eine merkwürdige Einsamkeit schien sie zu umgeben. Plötzlich wurde Sydney bewußt, daß er sie vermißt hatte, und daß er sich wünschte, sie öfter zu sehen. Vielleicht konnte er ihr helfen.

***

Miss Parker ging durch einen der langen Korridore, die es im Centre im Überfluß zu geben schien. Trotzdem hatte sie sich hier noch nie verlaufen. Es erstaunte sie immer wieder, wie gut sie sich hier zurecht fand, auch wenn sie lange fort gewesen war.

Auf Umwegen näherte sie sich ihrem Ziel. Sie wußte sehr genau, daß hier alles überwacht wurde und wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken. Langsam, scheinbar unbeteiligt, schlenderte sie um eine Ecke. Dieser Bereich des Centres war ihr unheimlich, denn hier arbeitete Dr. Raines. Er machte ihr angst, auf eine Weise, die sie nicht genau beschreiben konnte.

Als sie mit eiligen Schritten durch Raines' Reich hastete, hörte sie plötzlich eine Stimme.

"Hey, du! Warte!"

Erschrocken blieb sie stehen und drehte sich langsam um.

Ein Junge stand in einer der Türen, die zu den Labors führte, und sah sie neugierig an. Er mußte etwa in ihrem Alter sein und machte keinen gefährlichen Eindruck. Eigentlich sah er sogar ziemlich gut aus.

"Wer bist du?" wollte er von ihr wissen.

"Ich bin Miss Parker", stellte sie fest und straffte ihre Schultern. Das entlockte ihm ein Lächeln. "Und wer bist du?"

"Mein Name ist Bobby. Hast du auch einen Vornamen?"

"Natürlich."

Jetzt lachte er leise.

"Ich sehe schon, du willst ihn mir nicht verraten. Was machst du hier, Miss Parker?"

Sie dachte nach. Den wahren Grund konnte sie ihm nicht verraten, also blieb nur eine Halbwahrheit.

"Ich warte auf meinen Vater."

"Arbeitet er hier?"

"Ja. Kennst du ihn denn nicht?"

"Sollte ich?" fragte er, die Brauen amüsiert nach oben gezogen.

"Eigentlich schon. Du bist wohl noch nicht lange hier."

Er schüttelte den Kopf.

"Nein, ich bin heute zum ersten Mal hier. Ich finde es furchtbar hier."

"Ich auch", gab sie zu, erleichtert, daß er ebenso empfand wie sie. Sie mochte den Jungen und fand es schade, daß sie ihn wohl nicht mehr wiedersehen würde. "Ich muß jetzt..."

"Was müssen Sie, Miss Parker?"

Sie zuckte erschrocken zusammen, als sie die unverwechselbare Stimme hörte, die von einem leisen Keuchen begleitet wurde.

"Dr. Raines...", flüsterte sie entsetzt.

"Sie haben hier unten nichts zu suchen, Miss Parker", sagte er langsam.

"Ich... habe mich verlaufen", log sie.

Raines kniff die Augen zusammen und musterte sie kalt. Es war deutlich, daß er ihr nicht glaubte.

"Dann werde ich jemanden rufen, der Sie wieder zu Ihrem Vater bringt. Er sollte Sie ohnehin nicht herbringen."

Miss Parker ging rückwärts und entfernte sich von ihm. Bobby hatte sie für den Moment ganz vergessen.

"Das ist nicht nötig. Ich finde allein zurück, wirklich."

Hastig drehte sie sich um und rannte fort so schnell sie konnte. Erst als sie sicher war, daß niemand in der Nähe war, blieb sie stehen. Trotz dieser unheimlichen Begegnung wollte sie ihr Vorhaben nicht aufgeben.

***

Lustlos starrte Jarod auf die Bücher, die Sydney ihm dagelassen hatte. Er hatte nicht die geringste Lust, etwas zu lesen. Ihm war langweilig. Aber am schlimmsten war das Gefühl, daß er hier gefangen war, ohne eine Möglichkeit zu entkommen.

Jarod war so sehr in seine trübsinnigen Gedanken vertieft, daß er das leise Geräusch überhörte, mit dem sich die Tür öffnete. Erst als er leise Schritte hörte, sah er auf - und erstarrte.

Sein Herz begann vor Aufregung und Freude wie wild zu schlagen. Endlich. Sie war zurückgekehrt.

"Miss Parker!"

"Hallo, Jarod."

Ihr sanftes Lächeln vertrieb seine trübe Stimmung sofort. Neugierig betrachtete er ihr Gesicht. Sie war älter geworden - und schöner, obwohl er das nicht für möglich gehalten hatte.

"Was machst du hier?" wollte er wissen.

"Dich besuchen, was denn sonst?"

Miss Parker kam zu ihm und stellte sich hinter ihn. Dann beugte sie sich leicht vor, um die Bücher auf dem Tisch zu studieren. Jarod hielt den Atem an. Sie stand so dicht bei ihm, daß sie ihn fast berührte. Wie schon oft in den letzten Jahren dachte er an den Besuch, bei dem sie ihn geküßt hatte.

"Weiß jemand, daß du hier bist?" brachte er hervor.

"Nein, natürlich nicht", sagte sie und ging zur anderen Seite des Tisches. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht. "Sag mal, kennst du einen Jungen namens Bobby? Etwa so alt wie ich, etwas größer, braune Haare, gutaussehend?"

"Nein, nicht daß ich wüßte."

Das letzte Wort ihrer Beschreibung versetzte Jarod einen Stich.

"Hat ihn auch niemand erwähnt?"

"Nein. Wieso fragst du?"

Eifersucht regte sich in Jarod. Er war schon früher eifersüchtig gewesen, aber dieses Gefühl hatte sich bisher nie in dieser Weise auf Miss Parker bezogen. In der Vergangenheit hatte er sie darum beneidet, daß sie das Centre jederzeit verlassen konnte und darum, daß sie eine Familie und eine Vergangenheit hatte. Doch jetzt beneidete er den Jungen, dem ihre Aufmerksamkeit galt. Jarod hatte so gut wie keine Freunde, und Miss Parker war ihm besonders wichtig. Sie verstand, wie er sich fühlte, und sie kannte seinen Schmerz.

Miss Parker neigte ihren Kopf leicht zur Seite.

"Ich habe ihn getroffen, als ich auf dem Weg hierher war. Er sagte, daß er zum ersten Mal hier ist."

"Dann kann ich ihn auch nicht kennen", stellte Jarod logisch fest. Miss Parker seufzte.

"Er hätte lügen können."

Sie setzte sich auf Jarods Bett und sah ihn an.

"Magst du ihn?" fragte er, woraufhin sie die Stirn runzelte.

"Ich weiß es nicht. Schließlich habe ich nur ein paar Minuten mit ihm gesprochen. Aber... nun, er kam mir irgendwie vertraut vor, so, als würde ich ihn von irgendwoher kennen..."

Hilflos brach sie ab und zuckte mit den Schultern. Jarod wandte sich von ihr ab, obwohl das Spiel ihrer Emotionen in ihrem Gesicht ihn zutiefst faszinierte. Er wollte nicht, daß sie seine Enttäuschung sah.

"Ich verstehe", sagte er leise.

"Nein, das tust du nicht!" erwiderte sie so heftig, daß er sich erstaunt umdrehte. "Was glaubst du eigentlich, warum ich hier bin, du Idiot? Weil ich dich sehen wollte! Wenn mein Vater das wüßte..."

Jarod konnte sie nur anstarren.

"Ist das wahr?" fragte er schließlich, und für den Moment war seine Eifersucht vergessen.

Mit einem gespielt entnervten Seufzer stieß sie die Luft aus.

"Warum sollte ich lügen?"

...

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