Eis
von M. Bitt

"Vorsicht!"

Jemand streckte die Hand nach ihr aus und riß sie zur Seite. Der Zug donnerte an ihr vorbei und verschwand in der Nacht. Sie machte sich los, ohne die wütenden Worte des Mannes neben ihr wahrzunehmen. Der Schaffner versuchte, sie festzuhalten, aber sie wich aus, stolperte, fing sich wieder und rannte weiter.

Die Dunkelheit schien immer dichter und undurchdringlicher zu werden. Es fiel ihr schwer zu entscheiden, wo es dunkler war, um sie herum oder in ihrem Inneren.

Als sie endlich den Wald erreichte, riß die Wolkendecke auf. Der Vollmond tauchte die Landschaft in ein bizarres, unwirkliches Licht, das ihr den unausweichlichen Weg wies. Für Zweifel und Zögern gab es keinen Platz mehr in ihr. Zu stark waren die dumpfe Verzweiflung, zu übermächtig das Gefühl der Sinnlosigkeit.

Alles war vorbei. Das Ende stand klar vor ihren Augen, brachte ihr fast so etwas wie Erleichterung. Jetzt gab es keine Schwierigkeiten mehr, keinen Schmerz.

Die Entscheidung zu treffen, war lächerlich einfach gewesen. Es war völlig ohne Dramatik geschehen, und das hatte sie fast ein wenig enttäuscht. Aber selbst das war jetzt unwichtig geworden.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und die eisige Luft brannte in ihren Lungen, ließ sie auf schmerzhafte Weise wissen, daß sie noch immer am Leben war. Oh ja, dachte sie bitter, dafür habt ihr gesorgt, daß ich mit meinem Schmerz leben muß. Nie durfte ich ihm entrinnen.

Die Zeitungen waren damals voll gewesen mit ihrer Geschichte. Mit der gründlichen Präzision eines Pathologen hatten sie alles seziert, waren bis ins kleinste Detail vorgedrungen, hatten alles ans Licht gezerrt. Doch die Öffentlichkeit hatte sie nie gestört, ja nicht einmal interessiert. Niemand, kein einziger von denen, hatte verstanden, wie sie sich fühlte, was in ihr vorging.

Damals war ihr alles unwirklich erschienen, fast wie ein böser Traum. Doch die ganze Zeit über war ihr klar gewesen, daß es kein Erwachen geben würde. Und, noch schlimmer, auch kein Vergessen. Sicher, die meisten Leute kannten sie schon nicht mehr, aber was spielte das schon für eine Rolle. Die anderen hatten sie nie interessiert. Vergessen zu werden war leicht gewesen, aber selbst zu vergessen war unmöglich.

Der Mond stand fast direkt über ihr, schimmerte und berührte alles mit seinem gleichgültigen Licht. Weiter vorn lichtete sich der Wald etwas, gab den Blick frei auf einen kleinen Teich, der von Eis überzogen war. Endlich. Sie hatte es fast geschafft.

Unbeirrt von Kälte und Dunkelheit stolperte sie auf den Teich zu. Tief hängende Äste streiften sie, verfingen sich in ihren langen Haaren und rissen an ihrem Mantel, aber das nahm sie kaum war. Am Ufer verlor sie den Halt und rutschte die kurze Böschung hinunter. Mit einem dumpfen Schlag kam sie hart auf. Das Eis protestierte knirschend und knackend gegen die plötzliche Belastung, hielt aber ihrem Gewicht stand.

Mühsam richtete sie sich auf, verlor auf der rutschigen Oberfläche den Halt und fiel noch einmal hin. Der Aufprall preßte ihr die Luft aus den Lungen und lähmte sie für einen Augenblick. Sie blieb eine Weile einfach liegen, bis die Kälte durch ihre Kleidung drang und begann, sich auch in ihrem Inneren auszubreiten. Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut, aber sie war noch nicht bereit dafür. Langsam stand sie wieder auf, bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Diesmal schaffte sie es bis auf ihre Füße.

Entschlossen bewegte sie sich vorwärts, auf die Mitte des Teiches zu, dort, wo das Wasser am tiefsten war. Dorthin, wo endlich alles ein Ende nehmen würde.

Als sie an ihrem Ziel angelangt war, sank sie kraftlos auf die Knie. Ihre ganze Energie war verbraucht, und jetzt, da sie endlich hier war, konnte sie auch keine Kraft mehr aus ihrem Willen ziehen. Es war soweit. Der Moment, den sie so unendlich lang herbeigesehnt hatte, war endlich da.

Sie starrte nach unten, auf das Eis. Ihr Blick fiel auf ihre Hände, die in dicken Handschuhen steckten und sich warm anfühlten. Falsch, das war falsch. Mit hastigen Bewegungen streifte sie erst den einen Handschuh ab, dann zerrte sie hektisch an dem anderen, bis er sich löste. Beinahe angewidert warf sie sie fort.

Als ihre Hände flach auf dem Eis lagen, nickte sie zufrieden. So war es besser. Die Kälte strömte in ihren Körper, biß in ihre Finger. Ein taubes Gefühl erfaßte ihre Fingerspitzen und würde sich bald weiter ausbreiten.

Endlich. Endlich konnte sie es zu Ende bringen. Dieses Mal würde sie niemand aufhalten, so wie früher.

Eine neue Art von Kälte breitete sich in ihr aus, und das Eis hatte nichts damit zu tun. Diese Kälte kam von innen. Kalt. So hatte man sie genannt. Unbewegt, teilnahmslos, gleichgültig. Für die anderen war es immer so einfach gewesen. Das Fehlen von Tränen hatten sie als Zeichen ihrer Emotionslosigkeit gedeutet. Ohne Tränen kein Schmerz, so einfach war das. Wenn man seinen Schmerz nicht deutlich nach außen zur Schau trug, dann existierte er für die anderen auch gar nicht.

Sie erinnerte sich deutlich an damals. Alles hatte in Scherben gelegen, die äußere Welt genauso wie ihre Gedanken, ihre Gefühle. Mal schien ihr Blut zäh wie warmes Blei durch ihre Adern zu fließen, dann wieder rauschte es mit der Gewalt eines eiskalten Gebirgsbaches in ihren Ohren, und ließ sie nichts anderes hören als das quälend langsame Pochen ihres Herzens. Jeder Moment zog sich in die Länge, wie um den Schmerz unendlich weit auszudehnen.

Es hatte kein Entrinnen gegeben. Alle Ereignisse schienen unausweichlich zu sein, ohne daß sie einen Einfluß darauf gehabt hätte. Ihre Eltern hatten sich um alles gekümmert, starr vor Entsetzen, bestürzt über die Gefühllosigkeit ihrer Tochter. Doch nicht einmal die besten Ärzte hatten zustande gebracht, was ihre Eltern sich erhofften und die Öffentlichkeit erwartete, ein sichtbares Zeichen ihrer Trauer.

Sie kniete auf dem Eis und begann heftig zu zittern. Hilflos mußte sie zulassen, daß es wieder passierte. Die Erinnerungen kehrten zurück, unausweichlich, unerbittlich. Angst und Entsetzen stiegen in ihr hoch, schnürten ihr die Kehle zu und erstickten ihre Schreie, als die Flut der Vergangenheit einmal mehr über sie hereinbrach und sie mit sich fortriß.

Ihre Finger kratzten über das Eis, bis sie in der glatten Oberfläche ihr verzerrtes Spiegelbild erkennen konnte. Das Gesicht, das ihr aus dem Eis entgegen starrte, brach die letzten Barrieren, wischte ihre Kontrolle fort. Es war ihr so ähnlich...

Die blauen Lippen bewegten sich, flüsterten etwas. Sie legte ihr Gesicht aufs Eis, um die Worte zu verstehen, froh, für einen Augenblick dem Blick der kalten Augen entkommen zu können.

Mir ist so kalt, Mami. Bitte laß mich hier nicht allein. Es ist so kalt und dunkel unter dem Eis. Mami...

"Oh nein, bitte nicht. Nicht noch einmal. Ich kann nicht mehr", flüsterte sie hilflos, obwohl sie genau wußte, daß es kein Entrinnen gab. Die Stimmen der Vergangenheit ergriffen Besitz von ihr, versuchten erneut, sie zu zerstören. Zu spät, es war zu spät, für immer zu spät.

Es tut mir sehr leid, wir haben für Ihre Tochter getan, was wir konnten, aber es war zu spät. Sie war einfach zu lange im Wasser... Du hast sie getötet! Es war deine Schuld! Mein Gott, wie konntest du das zulassen, unsere Tochter, o Gott... Ist schon gut, laß es raus, die Tränen werden dir helfen... Wieso weint sie nicht? ...mit dem Auto vor den Baum. Er war völlig betrunken. Sieht nach Selbstmord aus... hat den Tod seiner Tochter nie verwunden... ganz ruhig, wir werden Ihnen helfen. Vertrauen Sie uns. Sie haben eine schlimme Zeit hinter sich, besonders der Prozeß muß Sie sehr mitgenommen haben... Es war nicht Ihre Schuld... Schuld... Schuld... Mami, es ist so kalt... Mami...

"Nein!"

Ihr Schrei hallte durch die Nacht, zerriß die Stille, die über dem Wald lag. Der Mond verschwand für einen Moment hinter den Wolken. Wieder und wieder krachten ihre Fäuste auf das Eis. Als der Mond wieder hervorkam, fiel sein Licht auf ein Muster aus Rissen, das sich rasch vergrößerte. Erste Splitter lösten sich aus dem Eis, und das Wasser vermischte sich mit ihrem Blut, das aus unzähligen kleinen Wunden an ihren Händen strömte.

Sie nahm diesen neuen Schmerz gar nicht wahr, zu sehr vereinnahmte sie der unglaubliche Druck, der ihre Brust zu sprengen drohte. Dann ging alles sehr schnell.

Das Eis gab unter ihrer Krafteinwirkung nach und splitterte. Rasend schnell brachen immer größere Stücke unter ihr weg, und schließlich verlor sie den Halt, glitt hinab in die eisige Tiefe.

Der Kälteschock raubte ihr den dringend benötigten Atem. Schwarzes Wasser umgab sie, schien tief in ihre Haut zu schneiden, wie Tausende von prickelnden, kleinen Nadelstichen.

Sie schloß die Augen, erleichtert, daß jetzt alles ein Ende hatte. Zweimal hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen, zweimal war sie gescheitert. Es ist ein Schuldeingeständnis... wenigstens zeigt sie jetzt endlich eine Reaktion...

Jetzt würde sie ihr Ende unter dem Eis finden, genau wie ihre Tochter vor so vielen Jahren. Vielleicht war das genug Gerechtigkeit.

Ihre Lungen brannten, als ihr die Atemluft ausging. Und plötzlich, völlig überraschend, verspürte sie Panik und den überwältigenden Wunsch zu leben. Sie riß die Augen auf und spähte verzweifelt in die Dunkelheit, um nichts als Schwärze zu sehen. Wie sie es geplant hatte, gab es diesmal niemanden, der sie retten konnte. Und wie sie es geplant hatte, würde sie jetzt sterben.

Sie sah auf und dort, irgendwo über ihr, schimmerte das Mondlicht, zog sie magisch an, versprach Leben.

Geleitet von ihrer inneren Stimme, die nach vielen Jahren endlich wieder ihre Schuldgefühle durchdrang, schwamm sie nach oben und fand den Rand des Eises. Mit letzter Kraft klammerte sie sich an die Kante, rutschte ab, und kämpfte sich ein zweites Mal nach oben. Irgendwie gelang es ihr, sich wieder auf das Eis zu ziehen, wo sie erschöpft liegenblieb.

Heftige Schuldgefühle erfüllten sie. Sie war am Leben, weil sie nicht den Mut gefunden hatte, es zu Ende zu führen. Ihre Tochter war tot, und sie lebte. Und doch wußte sie mit einemmal, daß es richtig war, daß ihr Tod nichts verändert hätte. Endlich erkannte sie, daß sie die Vergangenheit nicht ungeschehen machen konnte, ganz egal, wie sehr sie sich das wünschte.

Nun war tatsächlich alles vorbei, und das Leben konnte weitergehen, nachdem es sich aus dem Eis befreit hatte.


Ende

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