Familientreffen

Calm down my heart
Don't beat so fast
Calm down my heart
Don't be afraid
Just once in a lifetime

-- Wolfsheim


Miss Parker schreckte aus ihrem Alptraum hoch. Es dauerte einen Moment, bis ihr bewußt wurde, daß jemand an ihrer Haustür klingelte. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und sah auf die Digitalanzeige ihres Weckers. 2:31, mitten in der Nacht.

Mit einem verärgerten Seufzen griff sie nach ihrem Morgenmantel und streifte ihn über, während sie zur Tür ging. Wer auch immer sie um diese Zeit störte, er hatte besser einen guten Grund dafür. Einen Moment überlegte sie, ob es vielleicht Jarod war, aber das würde wohl nicht einmal er wagen.

Als sie die Tür öffnete, erwartete sie eine Überraschung.

"Lyle, was zum Teufel willst du hier?"

"Einen schönen guten Morgen, Schwesterchen. Hast du was dagegen, wenn ich reinkomme? Nein? Gut."

Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat er ihr Wohnzimmer. Sie folgte ihm und sah ihn wütend an. Er erwidere ihren Blick voller Ruhe.

"Du siehst nicht gut aus. Kannst du nicht schlafen?"

Ihre erste Reaktion bestand aus einem wütenden Schnauben.

"Hast du mich geweckt, um mich das zu fragen?" erkundigte sie sich gereizt.

Er zuckte mit den Schultern und warf eine Akte auf ihren Couchtisch, dann ließ er sich aufs Sofa sinken.

"Was ist das?"

"Lies es."

"Ich warne dich, Lyle. Ich bin nicht in der Stimmung für irgendwelche Spielchen."

"Das ist kein Spiel. Es ist die Wahrheit", sagte er mit gerunzelter Stirn. "Lies es einfach."

Sie starrte ihn mißtrauisch an, dann folgte sie schließlich seiner Aufforderung und griff nach der Akte. Ein einzelnes Blatt lag darin.

"Das Ergebnis einer DNA-Analyse...", murmelte sie, mehr zu sich selbst. Neugierig sah sie auf. "Was soll das?"

"Das fragst du mich? Du hast doch Broots beauftragt, eine zweite Analyse durchführen zu lassen, weil du dem Ergebnis des ersten Tests nicht getraut hast. Schließlich wäre es ja ein leichtes gewesen, das Ergebnis zu manipulieren."

"Und wieso sollte ich diesem Bericht mehr Vertrauen schenken?" fragte sie spöttisch.

Zu ihrer Überraschung lächelte Lyle.

"Ich habe diesen Bericht nicht manipuliert. Allerdings habe ich mir die Freiheit genommen, die Überprüfung etwas zu erweitern. Deswegen bin ich hier. Das Ergebnis ist nämlich einigermaßen interessant."

Miss Parker warf einen genaueren Blick auf das Blatt.

Außer den drei Proben, die von Lyle, Angelo und ihr selbst stammten, war noch eine weitere untersucht worden. Das DNA-Profil der vierten Person stimmte mit keinem der anderen drei überein. Resigniert stellte Miss Parker fest, daß ihre Probe und die von Lyle dagegen nur den Schluß zuließen, daß er wirklich ihr Zwillingsbruder war. Allerdings bestand noch immer die Möglichkeit, daß Lyle das Ergebnis manipuliert hatte. Aber sowohl sein Auftreten, als auch sein Tonfall ließen sie daran zweifeln.

"Von wem stammt die vierte Probe?" fragte sie schließlich.

Lyle beugte sich vor und musterte sie aufmerksam, während er ihr antwortete.

"Sie stammt von unserem Vater - beziehungsweise dem Mann, den wir bisher dafür gehalten haben."

Miss Parker sog entsetzt die Luft ein und sank in einen Sessel.

"O mein Gott", hauchte sie.

"Weißt du, ich hätte gedacht, daß dich diese Nachricht mehr treffen würde", meinte Lyle nachdenklich. "Oder hast du es vielleicht schon gewußt?"

Voller Wut starrte sie ihn an, während ihr langsam die volle Bedeutung des Ergebnisses bewußt wurde.

"Nein, das habe ich nicht!"

'Aber ich habe es geahnt.'

Er nahm ihren Ausbruch gelassen hin und lehnte sich wieder zurück.

"Die Möglichkeit einer Adoption können wir wohl ausschließen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß Daddy ein Mädchen adoptiert hätte."

Sie nahm seinen Seitenhieb kommentarlos hin, und er fuhr fort.

"Also sieht es ganz danach aus, als hätte sich Mom auf ein - oder vielleicht auch mehrere - Abenteuer eingelassen."

Mit wenigen Schritten war sie bei ihm und verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige.

"Wag es nie wieder, so von meiner Mutter zu reden", warnte sie ihn, ihr Tonfall gefährlich leise.

"Unsere Mutter", stellte er richtig, und für einen Moment blitzte Wut in seinen Augen auf, verschwand aber sofort wieder. "Du solltest der Wahrheit ins Gesicht sehen - er ist nicht unser Vater."

Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas, dann brach Miss Parker das Schweigen.

"Wieso teilst du dein Wissen mit mir?"

"Vielleicht dachte ich, daß es Zeit für die Wahrheit ist."

"Ja, genau. Wieso wirklich?"

Lyle stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. Erst nach einer Weile drehte er sich wieder zu ihr um und antwortete ihr.

"In den letzten zwei Wochen ist eine Menge passiert. Ich dachte, daß du vielleicht besser damit zurechtkommst, wenn du weißt, daß er nicht dein Vater ist."

Sie sah ihn ungläubig an.

"Da bin ich noch eher bereit, deine erste Erklärung zu glauben."

"Wie du willst. Fakt ist, daß du meine Schwester bist. Meine Zwillingsschwester. Ich betrachte das als eine Verpflichtung."

Miss Parker verlor die Geduld.

"Was soll das?" schrie sie ihn an. "Du hast Gott weiß wie viele Menschen kaltblütig umgebracht, dein eigener Vater sitzt im Gefängnis, weil du deinen besten Freund enthauptet hast, um deinen eigenen Tod vorzutäuschen, und jetzt willst du Familie spielen? Du bist ja noch verrückter als alle denken!"

Lyle ließ ihre Tirade ruhig über sich ergehen.

"Du verstehst das nicht", sagte er leise, fast sanft.

"Nein, das tue ich nicht! Und das werde ich hoffentlich auch nie."

"Ich möchte aber, daß du mich verstehst."

Verwirrt trat Miss Parker einen Schritt zurück. Das Verhalten ihres Bruders beunruhigte und erstaunte sie. Er benahm sie auf eine seltsame und unerwartete Weise, und sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte.

"Na gut", meinte sie schließlich, "ich werde dir zuhören. Aber erwarte lieber nicht, daß ich dir glaube. Dafür kenne ich dich zu gut." 'Dafür war ich zu lange im Centre.'

Ihr Bruder nickte langsam und wandte sich wieder zum Fenster um. Es dauerte lange, bis er anfing zu sprechen.

"Ich war 14, als Raines zum ersten Mal auf die Farm meiner Adoptiveltern kam. Bis dahin ist mein Leben relativ normal verlaufen. Zumindest normaler als Jarods oder auch deins."

Er machte eine Pause, während der Miss Parker versuchte, seinen Gesichtsausdruck in der Spiegelung des Fensters zu erkennen.

...

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