Fesselnde Flucht
"Hey, Schneewittchen, aufstehen! Wir ziehen
um."
Die spöttische Stimme weckte Jarod aus seinem Halbschlaf. Er riß die Augen auf
und blinzelte müde. Seine Müdigkeit verflog, als er Lyle erkannte, der nur
zwei Meter entfernt von ihm stand und selbstgefällig grinste.
"Wohin?" fragte Jarod mißtrauisch. "Wo ist Sydney?"
Lyle antwortete nicht, aber das war keine Überraschung. Seit er vor drei Tagen
zurück ins Centre gebracht worden war, hatte man ihm keine seiner Fragen
beantwortet.
"Bringt ihn zum Jet", wandte sich Lyle an zwei kräftig aussehende
Sweeper, die in der Tür standen. Einer von beiden nickte grimmig, während er
Jarod einen warnenden Blick zuwarf. Der Pretender schätzte rasch die Situation
ein, in der er sich befand. Offenbar hatte Lyle nicht vor, sie zum Jet zu
begleiten, also blieben nur die beiden Sweeper. Durch seine Fesseln war Jarod
zwar im Nachteil, aber mit ein bißchen Glück und sehr viel Entschlossenheit
konnte er es schaffen.
Seine Pläne zerstoben, als er auf dem Weg nach draußen sah, daß sich ihnen
noch zwei weitere Sweeper hinzugesellten. Verdammt!
In den letzten drei Tagen war er so gut bewacht worden, daß nicht einmal
Houdini hätte entkommen können. Diesmal würde er es noch viel schwerer haben,
dem Centre zu entkommen. Aber Jarod hatte nicht vor, aufzugeben. Die Hoffnung
auf eine Flucht war alles, was ihn während der letzten Tage davor bewahrt
hatte, einfach durchzudrehen.
Stumm ließ sich Jarod aus dem Centre zu dem kleinen Flugfeld führen. Allem
Anschein nach war der Jet startbereit, wartete nur noch auf seine Passagiere.
Jarods Gedanken rasten. Er mußte einen Plan ausarbeiten, der ihm die Flucht ermöglichte.
Vielleicht ergab sich während des Fluges eine Möglichkeit.
Äußerlich unbeteiligt, aber innerlich hochaufmerksam, ging er zwischen seinen
beiden Bewachern an Bord. Die anderen beiden Sweeper warteten unten an der
Gangway. Voller Unbehagen fragte sich Jarod, wo man ihn hinbringen wollte.
Konnte es einen Ort geben, der noch schlimmer war als das Centre? Schaudernd
dachte er an die Station in der Arktis. Im Grunde spielte es gar keine Rolle, wo
das Centre ihn einsperrte. Die Grundsituation blieb immer dieselbe. Man
isolierte ihn von der Welt, gab ihm keine Gelegenheit, ein eigenes Leben zu führen.
Allerdings war es ungleich schwieriger, einen Fluchtweg aus der Arktis zu
finden.
"Stehenbleiben", knurrte einer der Sweeper. Jarod leistete der
Aufforderung Folge. Die Lust, sich mit den Schlägern des Centres anzulegen, war
ihm schon lange vergangen.
"Worauf warten wir?" erkundigte sich Jarod möglichst beiläufig. Der
andere Sweeper drehte sich zu ihm um.
"Das würde ich an deiner Stelle nicht wissen wollen. Außerdem wirst du
das früh genug erfahren."
Jarod kniff die Augen zusammen. Seine Bewacher hatten auch keine Ahnung, wie es
weitergehen sollte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. Die ganze
Sache gefiel ihm nicht.
Plötzlich hörte er draußen auf dem Rollfeld Stimmen. Eine Autotür wurde
zugeschlagen. Als nächstes betrat Lyle den Jet, drehte sich ungeduldig um und
schnitt eine Grimasse.
"Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit", sagte er ungeduldig. Er warf
Jarod einen seltsamen Blick zu und ging dann in Richtung des Cockpits. Jarod sah
unruhig zur Tür. Wen hatte Lyle mitgebracht? Sein ungutes Gefühl verstärkte
sich um einiges, als er sah, wer als nächster durch die Tür trat. Sam. Miss
Parkers persönlicher Sweeper. Das konnte eigentlich nur eins bedeuten.
Ungläubig sah Jarod, wie sie hinter Sam in den Jet stieg. Sie war blaß, und
ihre Miene wirkte angestrengt.
"Miss Parker", entfuhr es Jarod überrascht. In ihrem Blick lag eine
Mischung aus Spott und Ärger, als sie ihn kurz ansah.
"Lyle!" rief sie dann, deutliche Verärgerung in ihrer Stimme. Ihr
Bruder kam lässig auf sie zu.
"Wie ich sehe, sind wir vollzählig. Nur noch eine unbedeutende
Kleinigkeit, dann können wir starten."
Jarod entging nicht der Ausdruck in Lyles Augen. Offensichtlich hatte er irgend
etwas vor.
"Keine Spielchen", warnte ihn Miss Parker gefährlich leise. Lyle lächelte
nur liebenswürdig.
"Vergiß nicht, was Raines gesagt hat", erinnerte er sie ebenso leise.
Für einen Moment hatte Jarod den Eindruck, daß Miss Parker noch blasser
wirkte.
"Mistkerl!" zischte sie haßerfüllt.
"Genug der Freundlichkeiten", erwiderte Lyle fast fröhlich. Er setzte
sein Vorhaben so schnell in die Tat um, daß weder Miss Parker, noch Jarod die
Gelegenheit bekamen, ihn daran zu hindern. Innerhalb weniger Augenblicke zog
Lyle ein paar Handschellen hervor. Das eine Ende befestigte er am linken
Handgelenk seiner Schwester, das andere an Jarods rechtem Arm.
"Was zum Teufel soll das?" fragte Miss Parker aufgebracht. "Hast
du dein letztes bißchen Verstand verloren? Mach mich *sofort* los!"
Lyle beugte sich zu ihr, blieb aber vorsichtshalber außerhalb ihrer Reichweite.
"Keine Chance, Schwesterherz. Das ist nur eine kleine Rückversicherung,
falls Jarod fliehen sollte. Auf diese Weise kannst du ihn jederzeit im Auge
behalten, und er kann dir nicht entkommen." Er lächelte zufrieden.
"Ist eine Spezialanfertigung", erklärte er beiläufig. "Aus
besonders widerstandsfähigem Material. Unmöglich, sich herauszuwinden - selbst
dann, wenn man sich den Daumen ausrenkt", fügte er mit einem Zwinkern
hinzu. "Und es gibt nur einen Schlüssel."
"Dreckiger Bastard!"
"Also wirklich, so solltest du nicht mit deinem Bruder reden."
Miss Parker versuchte, sich auf ihn zu stürzen, aber Jarods Gewicht am anderen
Ende der Handschelle hielt sie zurück. Sie atmete zischend ein und trat einen
Schritt zurück.
"Macht's euch gemütlich", riet Lyle. "Wird ein langer
Flug."
Er warf ihnen noch einen amüsierten Blick zu, dann ging er in den vorderen
Bereich des Jets. Jarod musterte besorgt sein unfreiwilliges Anhängsel.
"Sind Sie in Ordnung, Miss Parker?" erkundigte er sich leise.
"Sehe ich vielleicht so aus?" schnappte sie, ohne ihn anzusehen. Sie
war noch immer blaß und hatte die Augen geschlossen. Ihr Atem ging ein wenig zu
schnell, und ein feiner Schweißfilm auf ihrer Stirn deutete darauf hin, daß
ihr Ausbruch sie sehr angestrengt hatte. Als sie leicht schwankte, trat Jarod näher
an sie heran.
"Vielleicht sollten wir uns hinsetzen", schlug er vor. Miss Parker
antwortete ihm nicht, leistete aber auch keinen Widerstand, als er sie sanft in
einen der Sitze dirigierte. Jarod ließ sich in den Sitz neben ihr sinken. Sein
Blick glitt zu der Handschelle. Die Verbindungskette war mehr als einen halben
Meter lang und gab ihnen damit eine gewisse Bewegungsfreiheit.
Einer von Lyles Sweepern baute sich ein paar Metern vor ihnen auf, um sie im
Auge zu behalten. Auch Sam blieb in der Nähe, den Blick wachsam auf Miss Parker
gerichtet.
"Ich wußte doch schon immer, daß Sie an mir hängen, Miss Parker",
sagte Jarod leise zu ihr. Für einen Moment zuckte ein schwaches Lächeln um
ihre Lippen, dann schlug sie die Augen auf.
"Nicht komisch, Jarod", beschied sie.
"Wie geht es Ihnen?" fragte Jarod ernsthaft. Als sie nicht antwortete,
wurde ihm klar, daß sie noch nicht bereit war, ihm auf einer persönlicheren
Ebene zu begegnen. Enttäuscht beschloß er, die Taktik zu ändern.
"Wohin fliegen wir?"
"Ich weiß es nicht", antwortete sie wütend. "Dieser Bastard hat
mich mitten in der Nacht herbestellt, ohne mir zu sagen, was eigentlich los ist.
Endlich bin ich Sie und Ihre kleinen Spielchen losgeworden, da fängt dieser
Gestörte an, mir das Leben zur Hölle zu machen. Wenn ich ihn in die Finger
kriege..."
"Sie sollten sich nicht so sehr aufregen", riet Jarod ihr. Erst jetzt
sah sie ihn an. Ein Teil ihrer Angriffslust entlud sich nun gegen ihn.
"Lassen Sie mich in Ruhe!" fauchte sie.
"Ich wollte doch nur..." Weiter kam er nicht.
"Sam."
"Ja, Miss Parker?" Ihr Sweeper trat ein paar Schritte auf sie zu.
"Noch ein Wort von ihm, und du darfst auf ihn schießen. Kein tödlicher
Schuß, nur genug, um ihn zum Schweigen zu bringen. Verstanden?"
"Ja, Miss Parker", bestätigte Sam. Der Blick, den er Jarod zuwarf,
stellte klar, daß er absolut bereit war, dem Befehl Folge zu leisten.
Jarod warf ihr einen langen Blick zu, schwieg aber. Früher oder später mußte
sie sich mit ihm unterhalten.
***
Außerhalb des Flugzeugs war es noch immer dunkel, als Jarod aufwachte. Einen
Moment lang fragte er sich, wo er war, doch dann fielen ihm die Ereignisse der
letzten Stunden wieder ein. Ein wenig überrascht registrierte er einen leichten
Druck an seiner rechten Schulter. Als er sich vorsichtig umsah, bestätigte sich
seine Vermutung. Miss Parker schlief, und ihr Kopf ruhte an seinem Arm.
Jarod versuchte, sich ein wenig zu strecken, ohne sie aufzuwecken. In der Kabine
brannte nur noch die Nachtbeleuchtung. Sam saß ein wenig von ihnen entfernt und
war offenbar eingenickt. Von Lyles Sweeper war nichts zu sehen. Eine günstige
Gelegenheit, um die Handschellen näher zu untersuchen.
Als er versuchte, seine linke Hand zu bewegen, mußte Jarod überrascht
feststellen, daß auch sie mittlerweile gesichert war. Im Schlaf mußte jemand
seine freie Hand mit einer weiteren Handschelle an den Sitz gefesselt haben.
Jarod fluchte lautlos. Deshalb wurde er nicht mehr so streng bewacht.
Frustriert richtete er sich auf. Neben ihm sog Miss Parker zischend die Luft
ein.
"Passen Sie doch auf, verdammt noch mal!" brachte sie hervor. Schmerz
ließ ihre Stimme vibrieren. Schuldbewußt hielt Jarod mitten in der Bewegung
inne.
"Tut mir leid", entschuldigte er sich flüsternd. Mit neu aufkeimender
Besorgnis musterte er sie. "Sie sollten nicht hier sein. Ihre Wunde ist
noch viel zu frisch."
"Das müssen Sie mir nicht erzählen", entgegnete sie trocken.
"Es ist erst drei Tage her. Sie hätten nicht herkommen sollen",
wiederholte er.
"Im Centre laufen einige Dinge jetzt anders", erwiderte Miss Parker.
Ihr Tonfall klang bitter. "Raines hat das Heft fest in der Hand. Und mein
Vater hat mehr als genug damit zu tun, seinen eigenen Hals zu retten."
"Haben Sie Schmerzen?"
Miss Parker schnaubte.
"Ich habe schon Schlimmeres überlebt."
"Das weiß ich. Aber danach habe ich nicht gefragt."
Sie schwieg für eine Weile.
"Es tut weh. Wenn ich mich ruckartig bewege oder versuche, den Arm zu
belasten", sagte sie dann. Jarod nickte.
"Lassen Sie mich Ihnen helfen", bat er leise.
"Was wollen Sie tun? Dafür sorgen, daß es Schmerzmittel regnet?"
"Kommen Sie schon, Miss Parker. Nur ein bißchen Vertrauen."
Seine Worte schienen sie zu überzeugen.
"Na gut. Aber nur eine falsche Bewegung, und Sam bekommt Gelegenheit, seine
Treffsicherheit unter Beweis zu stellen", warnte sie ihn. Allerdings hatte
Jarod das Gefühl, daß es eher eine halbherzige Drohung war. Ihre Schmerzen
waren mit Sicherheit größer, als sie bereit war zuzugeben. Außerdem mußte
sie durch den großen Blutverlust noch immer geschwächt sein.
"Lehnen Sie sich ein Stück vor", wies er sie an. Nachdem sie ein
paarmal tief durchgeatmet hatte, kam sie seiner Aufforderung nach. Jarod ahnte,
daß sie von seiner Idee nicht allzu begeistert sein würde, aber schließlich
wollte er ihr nur helfen. Vorsichtig schob er seinen rechten Arm hinter ihren Rücken.
Wenn er die Rückenlehne schon als unbequem empfand, mußte der Sitz für sie
eine Folter sein.
"Jetzt langsam wieder nach hinten", wisperte er. Sie reagierte nicht.
"Miss Parker?"
"Hm", murmelte sie, und blinzelte ein paarmal. Ihre Müdigkeit war für
Jarod beinahe fühlbar.
"Ist gleich geschafft", ermutigte er sie. "Lehnen Sie sich
einfach zurück, und machen Sie es sich so bequem wie möglich."
"Mhm."
Miss Parker nickte, dann ließ sie sich langsam nach hinten sinken.
...
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