Kostbare Momente 6 |
Die Sonne stand hoch am Himmel, als Miss Parker die Staatsgrenze nach Maine überquerte.
Sie lächelte leicht. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis sie den Lake
Catherine erreichte. Dann konnte sie endlich mit Ben sprechen.
Ihr Lächeln vertiefte sich noch, als sie an Ben dachte. So sehr sie Sydney auch
schätzte, es fiel ihr doch leichter sich Ben anzuvertrauen. Vielleicht lag es
daran, daß Ben etwas Abstand zu allem hatte. Er arbeitete nicht für das
Centre, sondern lebte in der relativen Abgeschiedenheit seiner Pension in Maine.
Sein Leben war normal.
Nicht zum ersten Mal an diesem Tag dachte Miss Parker darüber nach, ob es
vielleicht stimmte, was Jarod über Ben herausgefunden hatte. Möglicherweise
war er wirklich ihr leiblicher Vater. Der Gedanke hatte schnell seine anfängliche
Undenkbarkeit für sie verloren. Mittlerweile war sie durchaus bereit, ihn als
eine Tatsache zu akzeptieren. Es würde ohnehin nicht viel für sie verändern;
es bedeutete nur, daß noch eine weitere Vaterfigur in ihr Leben trat. 'Das
macht nun schon drei', überlegte sie amüsiert. 'Ein Vater, der mir meinen
Namen gegeben hat, einer, der mich großgezogen hat, und einer, dem ich meine
Existenz verdanke.'
Ihre Gedanken glitten zurück zu ihrem kurzen 'Urlaub'. Noch immer war sie sich
nicht ganz sicher, warum Major Charles eigentlich zu ihr gekommen war. Er hatte
doch damit rechnen müssen, daß sie ihn dem Centre übergab - schon wegen dem
Klon. Sie spürte, wie ihr etwas die Kehle zuschnürte, als sie an den Jungen -
an Jay - dachte. Er erinnerte sie so sehr an Jarod, und diese Erinnerung tat
weh. Noch ein Leben, das das Centre ruiniert hatte, und wieder war es ein
Mitglied von Jarods Familie, daß unter ihrer Familie hatte leiden müssen...
Es kostete sie eine gewaltige Anstrengung, ihre Gedanken in eine andere Richtung
zu zwingen. Für den Moment war es einfach nur sinnlos, sich mit diesen Überlegungen
zu quälen. Sie würde mit Ben über alles sprechen und konnte nur hoffen, daß
er ihr eine neue, weniger schmerzhafte Perspektive aufzeigen konnte.
Miss Parker konzentrierte sich wieder auf die Straße. Als nach einer halben
Ewigkeit Bens Haus in Sicht kam, seufzte sie erleichtert. Endlich. Jetzt konnte
sie vielleicht wirklich die Entspannung finden, die sie sich so verzweifelt wünschte.
Und etwas Ruhe, um endlich einmal Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle zu
bringen.
***
Es war schon fast Mittag, als Sydney einen letzten Rundgang durch die Hütte
machte. Aus dem ersten Stock hörte er die gedämpften Stimmen von Debbie und
Broots, die damit beschäftigt waren, ihre Sachen zusammenzupacken.
Sydney ging in die Küche und setzte sich an den großen Tisch. War es wirklich
erst ein paar Stunden her, seit Miss Parker aufgebrochen war? Bereits fühlte
sich sein Leben so viel leerer an. Er verzog das Gesicht. Normalerweise hätte
er sich nicht erlaubt, so sehr in seinem Selbstmitleid zu schwelgen. Und es war
ja auch nicht so, daß Miss Parker für immer fortgegangen war. Wahrscheinlich würde
er sie schon früher wiedersehen, als er es sich jetzt vorstellen konnte. Es war
nur so, daß sich ihr Gespräch an diesem Morgen für ihn viel zu sehr nach
einem Abschied angehört hatte. Einem endgültigen Abschied.
"Fertig!" hörte er Debbie auf einmal rufen. Ein paar Sekunden später
rannte sie an ihm vorbei, riß die Hintertür auf und verschwand nach draußen.
Noch ein paar Momente später huschte eine weitere Gestalt an ihm vorbei, die
Sydney nur aus dem Augenwinkel sah. Es war Jay, der hinter Debbie her und hinaus
in den Garten rannte.
Sydney unterdrückte ein Seufzen. Den Jungen hier zu sehen, war ein merkwürdiges
Gefühl. Er stand auf und ging zum Fenster, um einen Blick auf die beiden
spielenden Teenager zu werfen. Ohne, daß er es bemerkt hätte, schlich sich ein
Lächeln auf seine Lippen. Sie erinnerten ihn so sehr an Miss Parker und Jarod
in diesem Alter. Mit der einzigen Ausnahme, daß Jarod und Miss Parker niemals
so eine unbeschwerte Zeit miteinander verbracht hatten. Als Sydney nun daran zurückdachte,
erstaunte es ihn, daß es den beiden trotzdem gelungen war, so eine intensive
Beziehung zueinander aufzubauen. Wie schade, daß es ihnen nicht gelungen war,
diese Beziehung bis heute aufrechtzuerhalten...
"Läßt einen über die Vergangenheit nachgrübeln, nicht wahr?" sagte
auf einmal Major Charles leise hinter ihm. "Darüber, was hätte sein können.
Was hätte sein sollen."
Erst jetzt drehte sich Sydney zu ihm um. Es gab einiges, was er dem Major sagen
wollte, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie.
"Es scheint, daß Jay sich bereits hervorragend in seiner Umwelt
zurechtfindet", sagte er dann. Seine Äußerung schien den Major nicht sehr
zu überraschen.
"Nun, er ist ein Pretender", erwiderte er ruhig. "Wir haben
mehrere lange Gespräche miteinander geführt, aber ich fürchte, es gibt immer
noch einiges, das ich ihm erklären muß."
Sydney schwieg, während er noch immer nach den richtigen Worten suchte.
"Es tut mir leid, daß Jarod...", begann er schließlich, aber der
Major unterbrach ihn mit einer abwehrenden Geste.
"Sie sollten sich nicht bei mir entschuldigen. Von mir aus entschuldigen
Sie sich bei Jarod, wenn Sie das für nötig halten, aber ich brauche keine
Entschuldigung von Ihnen. Verstehen Sie mich nicht falsch, es liegt mir fern,
unhöflich sein zu wollen. Es ist nur, daß die Dinge sich dadurch auch nicht
mehr ändern. Sie haben Jarod großgezogen, und soweit ich das sagen kann, haben
Sie das sehr gut gemacht, besonders, wenn man die Umstände berücksichtigt. Er
ist ein hervorragender junger Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl.
Mehr hätte ich mir für ihn nicht wünschen können."
Major Charles zögerte kurz, bevor er fortfuhr.
"Die Situation ist für keinen von uns besonders angenehm, aber ich schlage
vor, daß wir die Vergangenheit ruhen lassen, einverstanden?"
Er streckte die Hand aus, und nach kurzem Zögern ergriff Sydney sie.
"Einverstanden. Wenn ich Ihnen jemals irgendwie helfen kann, lassen Sie es
mich einfach wissen", entgegnete er fest.
Der Major neigte den Kopf leicht zur Seite und lächelte.
"Das werde ich."
***
Miss Parker stieg aus dem Auto und atmete tief ein. Die leicht kühle Luft war
erfrischend und tat ihr nach der langen Fahrt gut. Als sie langsam zur Haustür
ging, spürte sie bereits, wie sie begann, sich zu entspannen.
Es dauerte allerdings nicht lange, bis ihre Anspannung zurückkehrte. Irgendwo
tief in ihr erwachte ein ungutes Gefühl zum Leben, ließ ihr Blut schneller
durch ihre Adern rauschen. Etwas stimmte nicht.
Die Haustür war nicht geschlossen, sondern nur leicht angelehnt. Der leichte
Wind ließ sie vor und zurück schwingen, so daß hin und wieder ein leises
Klopfen zu hören war. Miss Parkers Anspannung nahm noch zu.
"Ben?" rief sie, ihre Stimme ein wenig lauter als gewöhnlich. Sie
erhielt keine Antwort. Angst stieg in ihr auf, begleitet von schmerzhaften
Erinnerungen an den Morgen, als Tommy ermordet worden war.
'Es ist alles in Ordnung', versuchte sie sich selbst zu beruhigen. 'Ben ist
wahrscheinlich nur Einkaufen gefahren und hat vergessen, die Tür abzuschließen.'
Aber noch während sie es dachte, wußte sie schon, daß es nicht stimmte. Auch
wenn die Gegend hier relativ sicher war, würde Ben seine Haustür doch nicht völlig
unverschlossen zurücklassen.
"Ben?" rief sie noch einmal, erste Anzeichen von Panik in ihrer
Stimme. Miss Parker zog ihre Waffe, dann öffnete sie langsam und vorsichtig die
Tür etwas weiter, bis sie schließlich hindurchgehen konnte.
Es war still im Haus; viel zu still. Nirgends ein Anzeichen von Leben.
Aufmerksam sah sich Miss Parker um. Der Flur sah auf den ersten Blick aus wie
immer. Doch dann fiel ihr etwas auf. Etwas fehlte. Das Bild von ihrer Mutter,
das sie bei ihrem ersten Besuch hier gesehen hatte. Verwirrt runzelte Miss
Parker die Stirn. Aus welchem Grund sollte Ben es abnehmen?
Widerstrebend ging sie weiter, ihre Waffe wie einen Schutzschild vor sich
gerichtet. Ihr Adrenalinspiegel stieg immer weiter an, ließ ihr Blut in ihren
Ohren pochen. Alle ihre Sinne waren auf das Zimmer vor ihr gerichtet, auch der
eine, von dem sie nicht einmal ahnte, daß er existierte.
Für einen Moment verdrängte ihre Konzentration jedes Gefühl. Die Reflexe, die
sie durch jahrelanges Training im Centre bis aufs äußerste geschult hatte, übernahmen
die Kontrolle über ihren Körper. Mechanisch bewegte sie sich auf die
Wohnzimmertür zu, die auch nur angelehnt war.
Es war der Geruch, der sie vorwarnte. Sie kannte diesen Geruch, war ihm während
ihrer kurzen Zeit als Cleanerin mehr als einmal begegnet.
"Oh nein", wisperte sie mit erstickter Stimme. "Ben..."
Miss Parker blieb vor der Tür stehen, holte immer wieder tief Luft.
"Ben?" Was ihre Stimme jetzt zittern ließ, ging weit über einfache
Sorge hinaus. Verzweiflung erfaßte sie. Alles in ihr schrie danach, sich
einfach umzudrehen und so schnell wie möglich das Haus zu verlassen, anstatt
die Tür zu öffnen und so ihrem Verdacht zu erlauben, sich zu einer Gewißheit
zu verdichten. Aber sie hatte keine Wahl.
Widerstrebend löste sie eine Hand von ihre Waffe, legte sie leicht auf das alte
Holz der Tür. Dann drückte sie gegen die Tür, die geräuschlos aufschwang.
Der Geruch schlug ihr nun stärker entgegen, aber sie nahm in gar nicht mehr
wahr. Ihre Waffe fiel aus ihrer Hand, schlug mit einem unnatürlich lauten Geräusch
auf dem Boden auf.
Von irgendwoher drang ein entsetzter, halb erstickter Entsetzensschrei an ihre
Ohren, aber er konnte sicher nicht von ihr stammen. Alle Farbe wich aus ihrem
Gesicht, als sie ihre Hände in stummen Entsetzen vor ihr Gesicht hob.
Ben lag keine zwei Meter von ihr entfernt auf dem Wohnzimmerboden.
"Ben..."
Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern, vermischt mit einem verzweifelten
Schluchzen. Er war tot. Der Zustand seiner Leiche ließ daran gar keinen
Zweifel. Und dann das Blut...
Miss Parkers Blick hetzte durch den Raum. Das Blut war überall, so viel Blut.
Auf dem Teppich, auf den Möbeln, sogar an den Wänden. Völlig regungslos
starrte Miss Parker auf die Wand gegenüber der Tür; sie blinzelte nicht
einmal. Wer auch immer das getan hatte, er hatte eine Nachricht an der Wand zurückgelassen,
ein einzelnes Wort, geschrieben mit Bens Blut.
Übelkeit stieg in ihr auf. Sie würgte ein paarmal, bevor sie es schaffte, den
Brechreiz niederzukämpfen. Wie in Trance legte sie die wenigen Schritte zu Bens
Leiche zurück.
"Es tut mir so leid", flüsterte sie tonlos. Tränen strömten über
ihr Gesicht, aber sie bemerkte sie nicht einmal. Ihr Blick ruhte auf Bens
Gesicht, das vor Angst und Entsetzen sogar im Tod noch zu einer grausamen
Grimasse verzogen war. Jede einzelne der Grausamkeiten, die Ben angetan worden
waren, fand einen Weg in ihr Gedächtnis, wurde unauslöschlich in ihre
Erinnerung eingebrannt.
Ihre Knie gaben unter ihr nach und sie sank zu Boden, fand sich direkt neben Ben
wieder. Wie von allein berührte eine ihrer Hände sein Gesicht, schloß seine
gequälten Augen. Dann zog sie seinen leblosen Körper in ihre Arme. Schluchzer
schüttelten sie, vermischt mit erstickten Schreien und leise gewisperten
Worten.
Der Schmerz in ihrem Inneren war unerträglich, und er wurde schlimmer mit jeder
Sekunde, die sie in Bens Wohnzimmer verbrachte. Alles andere in ihr wurde von
dem Schmerz ausgelöscht, bis nichts mehr übrig blieb.
Vorsichtig ließ sie Ben wieder los, ließ seinen Körper zurück auf den Boden
gleiten. Ihr Schmerz vermischte sich mit Verzweiflung, als sie aufsah und ihr
Blick noch einmal auf die Schrift über dem Kamin fiel. Es war alles ihre
Schuld. Sie hatte Ben getötet.
Mit einer raschen Bewegung stand sie auf. Sie wollte nur noch weg von hier, den
Schmerz hinter sich lassen.
Irgendwo tief in ihr wisperte eine leise Stimme, daß das unmöglich war, aber
sie hörte nicht darauf, als sie beinahe panisch das Haus verließ und zurück
zu ihrem Wagen rannte. Auf dem Weg dorthin hätte sie beinahe einen Mann
umgerannt, aber sie nahm weder ihn noch seine merkwürdig aufgeregt klingenden
Worte richtig wahr.
***
Vier Stunden später
Der Alarm schrillte nun schon seit einer halben Stunde durch diesen Teil des
Centres. Sydney runzelte verwundert die Stirn. Wieso stellte ihn nicht endlich
jemand ab?
Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt, der Ursache des Alarms auf den Grund zu
gehen. Im Normalfall war es im Centre immer besser in die entgegengesetzte
Richtung zu gehen, wenn man von irgendwoher einen Alarm oder aufgeregte Schreie
hörte. In diesem Fall hallte beides durch den Korridor, aber Sydney ging
trotzdem weiter auf die Quelle des Lärms zu. Der Alarm kam nämlich nicht von
irgendwoher. Er kam aus Jarods altem Zimmer.
Sorge erfüllte ihn. Vielleicht war es irgend jemandem gelungen, Jarod zurückzubringen.
Aus welchem Grund sollte wohl sonst ein Alarm ausgerechnet in Jarods altem
Quartier ausgelöst werden?
Sydney bog um die letzte Ecke, die ihn noch von seinem Ziel trennte. Er sah, wie
ein dunkler Schemen auf ihn zuschoß, aber es war schon zu spät. Der andere
Mann prallte mit schmerzhafter Wucht gegen ihn.
"Oh, Entschuldigung, aber ich hab's eilig."
"Broots?"
Erst jetzt erkannte Sydney, wer da in ihn hineingerannt war. Der Techniker trat
einen Schritt zurück. Eine Mischung aus Erleichterung und tiefem Entsetzen
hatte sein Gesicht in eine merkwürdig wirkende Maske verwandelt.
"Gott sei Dank, Sydney! Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen. Sie müssen
sofort mitkommen!", drängte Broots und griff nach seinem Arm. Sydney ließ
sich ein paar Meter von ihm mitzerren, dann machte er sich sanft, aber bestimmt
los.
"Sagen Sie mir erst einmal, was eigentlich los ist, Broots."
Broots sah ihn fassungslos an.
"Dann haben Sie es noch nicht gehört? Es ist Miss Parker. Sie ist in
Jarods Zimmer."
Seine letzten Worte waren nur noch ein bestürztes Flüstern. Sorge ließ ihn
noch nervöser als gewöhnlich erscheinen. Aber da war noch etwas anderes, das
Sydney weit mehr besorgte. Broots hatte Angst.
"Was ist mit ihr?" fragte er mit mühsam beherrschter Stimme.
"Ich weiß es nicht", brachte Broots hervor. "Sie ist schon eine
ganze Weile da drin, aber niemand hat es bisher geschafft, zu ihr
hineinzugehen."
Sydney wölbte die Brauen. Das klang alles andere als gut. Er folgte Broots bis
vor die Tür und spürte plötzlich Zorn in sich aufwallen, als er die Menge
sah, die sich dort versammelt hatte. Die meisten der Anwesenden waren Sweeper
oder Cleaner; nur wenige der Büroangestellten hatten sich nach hier unten
verirrt. Es wurden leise Gespräche geführt, und immer wieder sah jemand nervös
auf die Tür.
"Die Vorstellung ist vorbei", brüllte Sydney und ignorierte Broots,
der neben ihm erschrocken zusammenzuckte.
"Sie alle sollten jetzt lieber wieder an Ihre Arbeit zurückkehren",
fuhr Sydney ein wenig leiser fort. Sein Blick fiel auf Sam. Miss Parkers Sweeper
kam durch die Menge auf ihn zu.
"Was ist hier passiert, Sam?"
"Ich bin auch gerade erst gekommen. Mr. Raines wollte, daß jemand
nachsieht, was hier unten los ist. Möchten Sie, daß ich mich um die Leute hier
kümmere?"
Sydney nickte erleichtert.
"Ja, tun Sie das. Ich werde in der Zwischenzeit nach Miss Parker
sehen."
Unschlüssig starrte Sydney auf die Tür. Was erwartete ihn dahinter?
"Broots?"
"Ja, Sydney?"
"Gehen Sie zurück in den Technikraum. Stellen Sie sicher, daß keine der
alten Kameras da drinnen noch funktioniert."
"Ist gut."
Der Techniker wirkte beinahe erleichtert, daß Sydney ihn fortgeschickt hatte.
Er zögerte kurz, sah Sydney nur an, dann drehte er sich um und eilte fort.
Sydney nickte beinahe unmerklich als Antwort auf die Stumme Bitte in Broots'
Blick. Dann machte er sich daran, Jarods ehemaliges Zimmer zu betreten, doch
eine volltönende Stimme hielt ihn zurück.
'Oh nein. Nicht er.'
"Was ist hier los? Wo ist meine Tochter?"
"Mr. Parker", sagte Sydney, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich
zu lenken.
"Sydney, wissen Sie, was hier vor sich geht?"
"Nicht genau. Hören Sie, bevor die Situation nicht geklärt ist, schlage
ich vor, daß Sie in Ihr Büro zurückkehren. Ich werde Ihnen dann später
Bericht erstatten."
Seine Hilfsbereitschaft schien Mr. Parker zu erstaunen, aber nach kurzem Überlegen
lenkte er ein.
"In Ordnung. Sorgen Sie nur dafür, daß diese Aufregung so schnell wie möglich
beendet wird. Oh, und schicken Sie meine Tochter zu mir."
Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ Sydney allein im Korridor zurück.
Der Psychiater seufzte. Soviel zu Mr. Parkers Sorge um seine Tochter.
"Sydney?"
Leicht erstaunt drehte er sich um. Sam stand hinter ihm; außer ihnen beiden war
nun niemand mehr im Korridor. Offenbar erwartete der Sweeper weitere
Anweisungen.
"Bitte passen Sie auf, daß uns niemand stört", sagte Sydney
geistesabwesend. In Gedanken versuchte er sich bereits auf das vorzubereiten,
was ihn hinter dieser Tür wohl erwarten mochte. Sam nickte, und Sydney näherte
sich endlich der Tür.
Behutsam öffnete er die Tür. Statt der Stille, die er halb erwartet hatte, hörte
er ein leises, unregelmäßiges Schluchzen, wie von einem Kind. Das Geräusch
versetzte seinem Herzen einen Stich.
Langsam betrat er den Raum. Seine Hand tastete automatisch nach dem
Lichtschalter, wie schon tausendmal zuvor in den letzten dreißig Jahren. Nur
Sekunden später wünschte er sich, er hätte es bei dem Halbdunkel belassen.
Miss Parker saß auf Jarods Bett. Sie hatte ihre Arme fest um ihren Körper
geschlungen, und sie zitterte. Doch all das fiel Sydney erst später auf -
zuerst sah er das Blut.
Es war überall, auf ihrer Kleidung, in ihrem Gesicht, sogar ein paar Haarsträhnen
waren mit Blut verklebt. Das meiste davon war bereits getrocknet, bildete häßliche
braune Flecken. Nur in ihrem Gesicht hatte das Blut noch seine ursprüngliche
Farbe. Ihre Tränen hatten verhindert, daß es trocknete.
Sydney hielt den Atem an. Sein Blick glitt fort von ihr, als er den Anblick
nicht länger ertragen konnte. Ihm fiel die Unordnung auf, die in dem
spartanisch eingerichteten Zimmer herrschte. Der Tisch in der Mitte war umgestoßen
worden, und keiner der Stühle stand noch an seinem ursprünglichen Platz. Ein
Stuhl lag zertrümmert neben einer der Wände. Die Bücher, die noch bis vor
kurzem feinsäuberlich in den großen Regalen gestanden hatten, lagen jetzt in
einem wilden Durcheinander überall auf dem Boden verstreut. Sydney schloß kurz
die Augen. Miss Parker mußte fürchterlich in diesem Raum gewütet haben, bevor
ihre Erschöpfung sie gezwungen hatte, damit aufzuhören.
Er zwang sich, sie wieder anzusehen, obwohl der Anblick ihm fast das Herz brach.
Ihr Blick ging ins Leere; sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Der Schmerz,
den sie ausstrahlte, war fast greifbar für Sydney.
Ein lautes Schluchzen riß ihn schließlich aus seinem Schockzustand. Er machte
ein paar Schritte auf Miss Parker zu. Als erstes mußte er rausfinden, ob sie
sich verletzt hatte.
"Miss Parker?" Sein Stimme war kaum mehr als ein sanftes Murmeln. Sie
sah nicht einmal in seine Richtung. Statt dessen zog sie ihre Beine auf das Bett
und begann, leicht vor und zurück zu schaukeln. Sydney legte die letzten
Schritte bis zum Bett zurück und ging dann vor ihr in die Hocke. Zum ersten Mal
in all den Jahren, seit er Psychiater war, hatte er nicht die geringste Ahnung,
wie er auf die Gefühle einer anderen Person reagieren sollte. Weil diese Person
ihm nahestand, weil er ihren Schmerz fühlen konnte als wäre es sein eigener.
"Miss Parker, was ist passiert?" fragte er schließlich, gerade laut
genug, daß es über ihrem leisen Schluchzen hörbar war.
Sie sah ihn an, zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte. Die Agonie in
ihren Augen ließ Tränen in Sydneys Augen schießen.
"Gehen Sie weg von mir, Sydney", wisperte sie rauh, ihre Stimme heiser
von der Überbeanspruchung. Er schüttelte den Kopf.
"Das werde ich nicht", sagte er entschlossen. Neue Tränen liefen über
ihre Wangen, vermischten sich mit dem Blut, das dort haftete. Sydney wollte sie
in den Arm nehmen, aber er hatte Angst, sie zu berühren, wollte ihrem
emotionalen Schmerz nicht auch noch physischen hinzufügen.
"Miss Parker, sind Sie verletzt?" fragte er mit zitternder Stimme.
Wieder sah sie ihn an. Nach einer Ewigkeit schüttelte sie den Kopf. Ihm wurde
vor Erleichterung fast schlecht. Das Blut stammte also nicht von ihr. Sanft zog
er sie in seine Arme. Ihre Schluchzer wurden lauter, sobald sie seine tröstende
Berührung spürte. Er fühlte, wie ihm selbst Tränen über die Wangen strömten,
als er die Verzweiflung hinter ihren Tränen spürte. Irgend etwas hatte sie
zutiefst erschüttert.
Schon nach kurzer Zeit löste sie sich von ihm. Sie stand auf und ging hinüber
zu einer der Wände. Sie lehnte sich dagegen, sichtlich bemüht, irgendwie die
Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Aber ihr Bemühen war sinnlos; ihr fehlte
einfach die Kraft dazu. Noch einmal wurden ihre Schluchzer lauter, und jeder
ihrer Atemzüge verwandelte sich in einen herzzerreißenden Ausdruck ihres
Schmerzes. Sydney folgte ihr, nahm eine ihrer Hände in seine. Seine Finger
strichen sanft über ihren Handrücken, während er leise mit ihr redete.
"Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber ich sehe, daß Sie leiden, und ich
möchte Ihnen helfen. Doch das kann ich nur, wenn Sie mir sagen, was passiert
ist. Glauben Sie, daß Sie das für mich tun können?"
Mit seinem Blick suchte er ihren, bis sie ihn schließlich ansah. Hinter den Tränen
und dem Schmerz in ihren Augen schimmerte Hoffnung, Hoffnung darauf, daß er ihr
helfen konnte. Aber da war auch Furcht, und Sydney kannte sie gut genug, um zu
wissen, daß es ihre Furcht sein würde, die ihr Verhalten bestimmte.
Mit einer heftigen Bewegung entzog sie ihm ihre Hand, ballte beide Hände zu Fäusten.
Wut vertrieb für einen Moment alle anderen Emotionen aus ihren Augen. Doch
genauso schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Wut auch wieder, machte
wieder der Verzweiflung Platz.
"Er ist tot", wisperte sie tonlos.
"Wer ist tot?" fragte Sydney. Miss Parker schien ihn überhaupt nicht
gehört zu haben.
"Er hat ihn umgebracht." Zwischen ihren Schluchzern rang sie nach
Atem. "Aber ich bin schuld", wisperte sie dann. "Ich habe es
zugelassen."
Sydney fühlte sich unendlich hilflos. Miss Parker hatte sich komplett in sich
selbst zurückgezogen, und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er an sie
herankommen sollte. Er beschloß, zuerst die wichtigsten Fragen zu klären. Für
den Bruchteil einer Sekunde keimte ein schrecklicher Verdacht ihn ihm, doch er
erlaubte sich nicht einmal, den Gedanken zuende zu denken.
"Wer ist tot?" wiederholte er, drängender diesmal, um ihre
Aufmerksamkeit zu erregen.
"Er hat unseren Vater getötet", sagte sie sehr leise.
Einen Moment lang fühlte Sydney beinahe den Drang zu lachen. War etwa alles nur
ein fürchterliches Mißverständnis? Aber das erklärte nicht das Blut.
"Ich habe Ihren Vater gerade draußen im Gang..."
Weiter kam er nicht, bevor ihn ihr zorniger Schrei unterbrach.
"Ihn habe ich nicht gemeint!"
Sydney war jetzt vollends verwirrt.
"Miss Parker, wenn..."
Wieder schnitt sie ihm das Wort ab, diesmal mit einer heftigen Geste.
"Sie verstehen nicht!" rief sie ungeduldig, und ihre Worte klangen wie
eine Anklage. "Mom ist jedes Jahr nach Maine gefahren, weil dort der Mann
gelebt hat, den sie wirklich geliebt hat! Und jetzt ist er tot. Ben..."
Erst ihr letztes Wort half ihm dabei, einen Sinn in die ganze Angelegenheit zu
bringen. Sie mußte von Ben Miller sprechen.
"Ben Miller war Ihr Vater?" fragte er erstaunt.
"Mit einiger Wahrscheinlichkeit, ja. Aber was spielt das jetzt schon noch für
eine Rolle. Er ist tot!"
Die relative Ruhe, die sie für ein paar Sekunden erfaßt hatte, verschwand
hinter einem Schleier aus Zorn und Schmerz.
"Oh Gott, Ben, es tut mir so unendlich leid..."
Sydney begriff, daß er erst die ganze Geschichte erfahren mußte, bevor er ihr
wirklich helfen konnte.
"Miss Parker, was ist passiert?"
Ihr Blick bohrte sich in seinen, und er wünschte sich beinahe, er hätte sie
nie gefragt.
"Ich habe ihn heute in seinem Haus gefunden", berichtete sie in einem
unbeteiligt wirkenden Tonfall, während sie ihn noch immer mit ihrem Blick
fixierte. "Jemand hat ihn ermordet - brutal ermordet. Da war soviel
Blut..."
Ihr Entsetzen drohte, sie erneut zu überwältigen, aber bevor Sydney eingreifen
konnte, übernahm ihr Selbsterhaltungstrieb die Kontrolle über sie,
verhinderte, daß sie an ihrem Schmerz zerbrach. Mit dem geübten Auge des
Psychiaters sah Sydney die subtilen Veränderungen, die in diesem Moment in ihr
vorgingen. Wenige Augenblicke später wurden diese Veränderungen auch nach außen
deutlich sichtbar.
Miss Parkers Gestalt straffte sich - äußerlich schien es, als hätte sie die
Kontrolle über sich wiedererlangt. Aber Sydney wußte, daß es nur noch ihre
Wut war, die sie davor bewahrte zusammenzubrechen.
Sie bewegte sich von der Wand fort und drehte sich halb um, um an Sydney
vorbeizugehen. Er streckte eine Hand nach ihr aus und hielt sie am Arm fest.
"Miss Parker."
Sein Tonfall enthielt eine Bitte, weiter nichts. Genug, um sie aufzuhalten.
"Was?" fragte sie, doch sie sah ihn dabei nicht an.
"Wo wollen Sie jetzt hingehen?"
Mit einer heftigen Bewegung riß sie sich von ihm los.
"Lyle", grollte sie. Sydney stellte sich zwischen sie und die Tür,
versperrte ihr den Weg. Also das war es. Miss Parker glaubte, daß ihr Bruder
Ben Miller getötet hatte. Das mochte durchaus der Fall sein, aber im Moment war
ihre Vermutung nichts weiter als eine kopflose Anschuldigung.
"Haben Sie Beweise?"
"Ich brauche keine Beweise. Mir genügt, was ich gesehen habe",
erwiderte Miss Parker erstaunlich ruhig. Vielleicht gab es doch noch einen Weg,
um zu ihr durchzudringen.
"Und was genau haben Sie gesehen?" fragte Sydney leise.
Miss Parker hob den Kopf und sah ihn an. Die volle Wucht ihres wütenden,
eisblauen Blickes traf ihn so gut wie unvorbereitet.
"Verschonen Sie mich mit Ihren psychologischen Spielchen, Syd",
zischte sie. Sie machte einen Schritt an ihm vorbei, aber wieder hielt er sie
auf.
"Wissen Sie eigentlich, wie gefährlich Lyle ist?"
"Verdammt noch mal, Sydney, und was bin ich?" schrie sie aufgebracht.
"Hören Sie endlich damit auf, mich so zu behandeln, als wäre ich noch
immer zehn Jahre alt!"
Obwohl er wußte, daß ihre Wut eigentlich gar nicht ihm galt und daß nur der
Schock an ihrem Verhalten schuld war, taten ihm ihre Wort doch weh.
"Dann hören Sie auf, sich so zu verhalten, Miss Parker!"
Später waren es nicht so sehr seine Worte, die er bereute, sondern vielmehr der
Tonfall, in dem er sie ihr entgegengeschleudert hatte. Sie zuckte leicht
zusammen, und er sah, wie sich ihre Wangenmuskeln anspannten.
"Das werde ich, Sydney", versprach sie in einem düsteren Tonfall.
Dieses Mal hielt er sich nicht auf; er hätte auch gar nicht gewußt, wie. In
ihrem momentanen Zustand hätte sie vermutlich nicht einmal vor Gewalt zurückgeschreckt,
nur um ihren Willen durchzusetzen.
Sydney starrte ihr nach, als sie den Raum mit steifen Schritten verließ.
"Miss Parker!" rief er ihr nach. Das Geräusch ihrer Schritte, das
sich immer weiter von ihm entfernte, war die einzige Antwort, die er erhielt.
Damals, als sie die Ermordung ihrer Mutter mitangesehen hatte, hatte sich das
kleine Mädchen, das sie gewesen war, fast vollständig von der Welt zurückgezogen.
Aber es war noch immer dagewesen, hatte beobachtet und gewartet, gewartet auf
den richtigen Moment, um die Fesseln der Vergangenheit abzustreifen. Doch der
Moment war nie gekommen. Und jetzt war es zu spät.
Mit schweren Schritten ging Sydney hinüber zum Bett. Miss Parkers Tränen,
vermischt mit dem Blut auf ihren Wangen, hatten helle Flecken auf der Decke
hinterlassen. Sydney sah mit starrem Blick darauf hinunter, als langsam eine
Erkenntnis in ihm heranreifte. Von allen Orten, an die sie hätte gehen können,
hatte sie ausgerechnet diesen ausgewählt. Und Sydney begriff, daß er gar nicht
die Person war, von der Miss Parker Hilfe erwartet hatte.
Ende Teil 6
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© 2001 Miss Bit