Puppenspielers Traum
von Miss Bit


Seine Finger umschlossen den Kopf der Marionette, liebkosten das kühle, glatte Holz. Leblose Augen starrten blind zu ihm empor, vermittelten eine stumme Anklage. Reflexe aus Licht tanzten über das Puppengesicht, erweckten den Anschein von künstlicher Lebendigkeit.

"Es tut mir leid", wisperte der alte Puppenspieler müde. "Ich weiß, daß ich mich in letzter Zeit nicht richtig bemüht habe. Aber das werde ich wieder gutmachen; ich verspreche es."

Um den alten Mann herum verdichteten sich die Schatten. Draußen, in einer Welt, die immer öfter mindestens genauso weit von ihm entfernt zu sein schien wie der Mond, ging die Sonne gerade unter, und mit dem grellen Licht erstarb auch die erdrückende Hitze.

Der Puppenspieler erzitterte leicht. Das Lagerhaus, in dem er nun schon seit fast vier Monaten lebte, kühlte schneller aus als ihm lieb war. Selbst in der glühenden Hitze des Tages schien es nicht richtig warm zu werden, und er hatte nicht mehr die Kraft, diesen Ort zu verlassen. Doch morgen würde er es tun. Er vermißte es, die Wärme der Sonne in seinen Knochen zu spüren, die doch nur die Anstrengung einiger weniger Schritte von ihm entfernt war und ihn mit ihrer verheißungsvollen Vitalität lockte.

"Bald", flüsterte er mit rauher Stimme, und sein Atem strich über das starre Gesicht der Puppe in seinem Schoß. "Bald wird es wieder sein wie früher. Du wirst sehen."

Mit einer seiner von der Gicht gekrümmten Hände griff er nach dem Holzkreuz, an dem die Fäden der Puppe hingen, und hob es an. Die Puppe erwachte zu ihrem falschen Leben, baumelte wie erwartungsvoll in der Luft. Der alte Mann gluckste vergnügt in sich hinein und erhob sich mühsam von dem einfachen Holzstuhl, der neben einem Bett, einem Schrank ohne Türen und einem wackeligen Tisch die Einrichtung seines vorübergehenden Zuhauses darstellte.

Langsam schlurfte der Puppenspieler hinüber zum Schrank, um dort die Puppe für die Nacht aufzuhängen. Hinter ihm zeichnete einer der letzten Sonnenstrahlen des Tages verschwommene Schatten an die Wand. Die Schatten flossen ineinander, blieben ständig in Bewegung, doch einer von ihnen gewann langsam an Schärfe. Es waren die Umrisse der Puppe, die sich langsam verfestigten. Das Licht war bereits zu schwach, um auch die Schatten der hauchdünnen Fäden an die Wand zu werfen und so schien es, als bewege sich der Schatten der Puppe von ganz allein.

In Gedanken bereits mit den Dingen beschäftigt, die der nächste Tag unweigerlich bringen würde, achtete der Puppenspieler nicht auf das geheimnisvolle Spiel der Schatten an der Wand hinter ihm. Seine Aufmerksamkeit galt allein der Aufgabe, die vor ihm lag. Er seufzte schwer, als er die Puppe vorsichtig, beinahe liebevoll an ihren angestammten Platz hing. Sein Blick ruhte für eine lange Weile auf dem feingeschnitzten Antlitz, dann zerschnitt ein weiterer schwerer Seufzer die Stille.

Der Puppenspieler neigte den Kopf leicht zur Seite, die Augen halb geschlossen, einen konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht. Er sah aus, als lausche er einer Stimme - einer, die nur er hören konnte. Schließlich nickte der alte Mann, die Lippen zu einem traurigen Lächeln verzogen.

"Morgen", sagte er in einem bestätigenden Tonfall, dann machte er sich bereit, schlafen zu gehen. Als er die Bettdecke zurückschlug, versank die Sonne endgültig hinter dem Horizont und stürzte das Lagerhaus in Finsternis.

Erschöpft schloß der alte Mann die Augen, lauschte hinaus in die samtene Dunkelheit. Minuten verstrichen, ohne daß ein einziges Geräusch die nächtliche Stille störte. Dann erklang ein leises Knarren, wie von schweren Ästen, die im Wind schaukelten. Das Geräusch schwoll an, bis es das Lagerhaus auszufüllen schien, dann verklang es wieder. Der Puppenspieler richtete sich halb auf und strengte seine Ohren an. Zunächst vernahm er nur den Klang seiner eigenen Atemzüge und das leise Echo des Geräuschs, das eben noch durch das Lager und seine Ohren gehallt war. Einen Herzschlag später schien sich ein weiteres Atemgeräusch dem seinen hinzuzugesellen, und dann zerriß eine gewaltige Dissonanz die natürliche Geräuschkulisse.

Das letzte, was der alte Puppenspieler in seinem Leben hörte, war sein eigener, entsetzter Todesschrei.

***

"Mulder, sagten Sie nicht etwas von Sonnenschein im Überfluß, als ich mich bereit erklärt habe, Ihnen mitten in der Nacht aus dem verregneten Washington nach Nirgendwo, Oklahoma zu folgen, um dort in einem Mordfall zu ermitteln, der, wenn ich das sagen darf, nicht mal mit viel gutem Willen wie eine X-Akte aussieht?"

Scullys genervter, fast schon vorwurfsvoller Tonfall entlockte Fox Mulder nur ein leichtes Lächeln. Nach sieben Jahren, in denen er gemeinsam mit seiner Partnerin in unzähligen Fällen ermittelt hatte, hatte er gelernt, Scullys Stimmungen sogar aufgrund kaum wahrnehmbarer Anzeichen zu interpretieren. Ihr derzeitiges Verhalten war ihm bestens vertraut - sie war müde nach einem langen Flug und würde noch eine Weile brauchen, um sich für diesen Fall zu begeistern.

"Geben Sie mir jetzt die Schuld für die kaum vorhersehbaren Eskapaden und Unwägbarkeiten des Wetters, Scully?" fragte er gutgelaunt und biß zufrieden auf einen Sonnenblumenkern. Er beobachtete, wie sich Scullys Augen leicht verengten. Neugierig fragte er sich, ob das an seinem zugegebenermaßen ungewöhnlich fröhlichen Tonfall oder an den von ihr verhaßten Kernen lag.

"Nein", erwiderte sie, die Brauen leicht gehoben, "ich gebe Ihnen die Schuld dafür, daß ich hier im Regen stehe, anstatt das Wochenende in meinem Apartment mit einem guten Buch zu verbringen."

"Ah", machte Mulder und zerbiß einen weiteren Sonnenblumenkern. Scullys Augenbrauen rutschten ein weiteres Stück in die Höhe, und Mulder entschied, daß es seine Vorliebe für die salzigen, kleinen Kerne war, die ihren Unwillen verstärkte.

"Hören Sie", bemühte er sich, die Wogen ihres übermüdeten Temperaments zu glätten, "geben Sie mir wenigstens die Chance, Ihr Interesse für diesen Fall zu wecken. Mehr verlange ich nicht. Sehen Sie sich den Tatort an, werfen Sie einen Blick auf die Leiche, betrachten Sie die Fakten - und wenn Sie dann immer noch zurück nach Washington wollen, werde ich Ihnen kommentarlos folgen. Okay?"

Scullys Gesichtsausdruck veränderte sich nur minimal, aber Mulder erkannte, daß er auf gutem Wege war, seine Partnerin aufzuheitern.

"Wissen Sie was? Wenn Sie diesem Fall und mir eine faire Chance geben, werde ich Ihnen sogar persönlich aus Ihrem Buch vorlesen. Wie klingt das?" fügte er mit einem Zwinkern hinzu. Erleichtert stellte er fest, daß sie sich bemühte, ein Lächeln zu unterdrücken, das unnachgiebig an ihren Mundwinkeln zupfte.

"Solange ich die Reise vom Regen in die Traufe nicht umsonst gemacht habe", lenkte Scully zögernd ein, doch das leichte Lächeln, das ihre Lippen umspielte, verriet Mulder, daß ihm bereits halb verziehen war. Scully wechselte die Hand, mit der sie den Griff ihres schwarzen Regenschirms hielt, und fixierte ihren Partner mit einem gespielt drohenden Blick aus ihren blauen Augen, die, ganz dem trüben Wetter angepaßt, mehr grau als blau wirkten.

"Wahrscheinlich stehe ich sowieso in spätestens einer halben Stunde im örtlichen Leichenschauhaus und seziere etwas, das angeblich" - sie betonte das Wort - "ein Außerirdischer Querstrich Werwolf Querstrich Yeti ist."

Mulder unterdrückte ein Grinsen und schnalzte mit der Zunge.

"Wir sind hier in Oklahoma, Scully. Da werden Sie sich schon mit dem Außerirdischen Querstrich Werwolf begnügen müssen", gab er gutgelaunt zurück. Scully öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch sie kam nicht dazu, etwas zu sagen. Ein Wagen des örtlichen Sheriffdepartments hielt neben dem Mietwagen der beiden Agenten, spritzte dabei zwei eindrucksvolle Wasserfontänen hoch. Der Sheriff stieg aus und kam auf sie zu.

Er war ein hochgewachsener Mann, größer noch als Mulder. In seiner Jugendzeit mochte er athletisch gebaut gewesen sein, doch nun spannte sich die Uniform verräterisch über dem Ansatz eines Bierbauches. Sein blondes Haar war größtenteils unter seinem Hut verborgen, der mit seiner breiten Krempe einen hervorragenden Schutz vor dem Regen bot. Unter dem Rand des Hutes hervor musterte er die ihm fremden Agenten mit freundlichen braunen Augen. Sein Gesicht offenbarte eine beachtliche Menge an Fältchen, als er zur Begrüßung lächelte, und Mulder stellte erfreut fest, daß das Lächeln sich nicht nur auf die Lippen beschränkte, sondern auch die Augen des Sheriffs erreichte. Mulder schätzte ihn auf Mitte fünfzig, aber im trüben Licht des grauen Morgens war das schwer zu sagen.

"Special Agents Mulder und Scully?" fragte er mit einer tiefen Baßstimme, die Mulder fast ein wenig an Barry White erinnerte. "Ich bin Sheriff Bladston, der Polizeichef von Serendipity. Danke, daß Sie gekommen sind. Ich weiß Ihre Unterstützung in diesem Fall wirklich sehr zu schätzen."

Aus den Augenwinkeln sah Mulder, wie Scullys Augenbrauen in die Höhe schossen, als sie den Namen der kleinen Ortschaft erfuhr, in die sie von ihrer neuesten X-Akte geführt worden waren.

...

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