Väter
Die Sonne schien hell vom Himmel, und es wurde langsam Frühling. Überall
zeigten sich erste Pflanzen, die Vögel kehrten aus dem Süden zurück und erfüllten
die Luft wieder mit ihrem Zwitschern. Von all dem bemerkte Miss Parker nichts,
als sie durch die Reihen des kleinen Friedhofs ging. Der Kontrast zwischen dem,
was sie fühlte, und dem Erblühen der Natur hätte nicht größer sein können.
Der Schmerz, den sie fühlte, war fast unerträglich stark, und er erstickte
alles andere. Langsam ging sie zum Grab ihrer Mutter und blieb vor dem glatten
Stein stehen. Neben den Daten ihrer Mutter war Platz gelassen worden, um
irgendwann einmal die ihres Vaters hinzuzufügen.
Miss Parker blinzelte heftig, als ihr eine Mischung aus Zorn und Trauer die Tränen
in die Augen trieb. Sie konnte das nicht zulassen, nicht nachdem, was sie vor
nicht einmal einer Woche erfahren hatte. Verärgert schüttelte sie den Kopf.
Deswegen war sie nicht hergekommen.
Mit einer langsamen Bewegung ging sie neben dem Grab in die Hocke und legte den
Strauß, den sie mitgebracht hatte, auf die dunkle Erde. Ihre Hand ruhte auf dem
schwarzen Grabstein, der von der Sonne gewärmt wurde.
"Mama", flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. Sie spürte, wie
ihr Tränen über das Gesicht liefen, aber es war ihr egal. Hier spielte das
keine Rolle. "Mama, du fehlst mir so sehr."
Die letzten Reste ihrer Kontrolle wurden fortgespült, und mit den Tränen kamen
die Erinnerungen an die letzte Woche. Der Schmerz und der Schock über die Art
und Weise, wie ihr Vater gehandelt hatte, seine Rücksichtslosigkeit und seine
offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber ihren Gefühlen.
Während der letzten Monate war ihr immer mehr die Kontrolle über ihr Leben
entglitten, und nun war plötzlich nichts mehr übrig. Alles, was ihr wichtig
gewesen war, lag nun weit außerhalb ihrer Reichweite. Zuerst war Lyle
aufgetaucht und hatte mühelos die Aufmerksamkeit erhalten, um die sie all die
Jahre gekämpft hatte. Und nun auch noch Brigitte...
Mit all ihrer Willenskraft gelang es Miss Parker, sich wieder zu beherrschen.
Ihre Situation erschien ihr aussichtslos, aber einen Weg gab es für sie
vielleicht noch.
Sie stand auf und blickte noch eine lange Weile auf das Grab ihrer Mutter,
erinnerte sich an ihre Berührung und den Trost, den sie ihr gespendet hatte.
Dann riß sie sich von ihrer Vergangenheit los und ging zurück zu ihrem Wagen.
Der Mann, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte, schüttelte traurig den Kopf
und stattete dem Grab einen Besuch ab. Er hoffte inständig, daß er der Tochter
besser helfen konnte als ihrer Mutter.
***
Miss Parkers Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
Sydney klopfte leise an die angelehnte Tür von Miss Parkers Büro. Nach den
Ereignissen der letzten Wochen hielt er es für besser, vorsichtig mit ihr zu
sein. Besonders nach dem, was er gestern auf dem Friedhof beobachtet hatte.
"Miss Parker?"
"Oh, Sie sind's, Sydney. Kommen Sie rein."
Er folgte ihrer Aufforderung. Sie stand neben ihrem Schreibtisch und sortierte
Akten zu zwei Stapeln. Als er hereinkam, sah sie kurz auf, wandte ihre
Aufmerksamkeit aber sofort wieder den Akten zu. Der kurze Blick genügte ihm
allerdings völlig, um zu erkennen, wie schlecht es ihr ging. Neuerliche Sorge
um sie erfüllte ihn.
"Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen", sagte er sanft. "Wie geht
es Ihnen?"
Sie stieß einen leisen Seufzer aus, sah aber immer noch nicht auf.
"Es geht mir gut." Nach einer kleinen Pause fuhr sie plötzlich heftig
fort. "Verdammt, Sydney, was erwarten Sie denn eigentlich?"
Endlich sah sie ihn an, die Lippen verärgert aufeinander gepreßt. Plötzlich
fragte er sich, ob sie wegen ihm oder wegen ihres Ausbruchs verärgert war.
"Die letzten Wochen waren nicht gerade leicht für Sie", meinte er
vorsichtig.
"Da haben Sie verdammt recht", stimmte sie ihm zu, während sie nach
einem der beiden Aktenstapel griff und ihn ihm in die Hand drückte. Verwirrt
sah er sie an.
"Was soll ich damit?" wollte er wissen.
"Ich werde ein paar Tage... Urlaub machen. Vielleicht werden Sie das
brauchen, wenn Sie eine neue Spur von Jarod finden. Das restliche Zeug kann
warten."
Sydney war überrascht. Es war nicht ihre Art, einfach fortzulaufen. Sie schien
seine Gedanken zu erraten.
"Ich brauche etwas Abstand von allem, um in Ruhe darüber
nachzudenken."
"Ich verstehe. Darf ich fragen, wohin Sie fahren?"
Für einen kurzen Moment huschte ein wehmütiger Ausdruck über ihr Gesicht.
"Zu Tante Dorothy", erwiderte sie dann leise und mit einer Wärme, die
er nicht erwartet hatte. Er versuchte sich zu erinnern, ob ihm der Name etwas
sagte. Über die Verwandtschaft ihres Vaters wußte er nichts, aber soweit er wußte,
hatte Catherine tatsächlich eine Schwester gehabt. Allerdings verwunderte es
ihn sehr, daß Miss Parker Kontakt zu ihr hatte.
"Wann werden Sie wieder hier sein?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Das weiß ich noch nicht. Aber es wird bestimmt nicht länger als ein paar
Tage dauern."
Sydney fühlte sich versucht, ihr zu sagen, daß sie diese Angelegenheit unmöglich
in ein paar Tagen überwinden konnte. Doch er wußte, daß das sinnlos gewesen wäre.
In ihrer momentanen Stimmung würde Miss Parker ohnehin nicht zuhören, und er
wollte nicht riskieren, ihr Vertrauen zu verlieren. Also blieb ihm nur eines.
"Ich wünsche Ihnen eine gute Reise, Miss Parker. Erholen Sie sich
gut."
"Danke, Sydney."
Sie legte ihm kurz die Hand auf den Arm, dann ließ sie ihn in ihrem Büro
stehen.
***
Ben Millers Haus
Lake Catherine
Maine
Ben Miller sah überrascht auf, als er das Klopfen an der Tür hörte. Er
erwartete niemanden, und es war auch noch nicht die Jahreszeit für Gäste, die
hier ihren Urlaub verbringen wollten. Während er zur Tür ging, überlegte er,
wer sein Besucher sein könnte. Als er schließlich aufmachte, sah er verblüfft
auf die junge Frau, die draußen wartete.
"Miss Parker!"
Er freute sich sehr, sie hier zu sehen, aber ihm entging nicht, wie elend sie
aussah. Fast genauso wie ihre Mutter, als er sie das erste Mal gesehen hatte.
"Hallo, Ben. Ich hoffe, ich störe Sie nicht", sagte sie mit einem Lächeln,
das unendlich müde wirkte.
"Natürlich nicht", versicherte er ihr herzlich und bat sie herein.
Sie folgte ihm in die Küche und blieb dort unschlüssig stehen.
"Bitte, setzen Sie sich."
Sie schüttelte den Kopf.
"Ich möchte lieber stehen. Es war eine lange Fahrt."
Er nickte und setzte sich. Wie früher bei ihrer Mutter überließ er es ihr, ob
und worüber sie mit ihm reden wollte.
"Geht es Ihnen gut?" wollte sie wissen.
"Oh, ich kann nicht klagen."
Miss Parker lehnte sich an den Kühlschrank und starrte eine Weile aus dem
Fenster. Ben nutzte die Gelegenheit, um sie eingehend zu mustern. Sie wirkte
sehr blaß, und den dunklen Ringen unter ihren Augen nach zu urteilen, hatte sie
schon seit einer Weile nicht mehr gut geschlafen. Es ging ihr nicht gut, und Ben
fragte sich, was wohl passiert sein mochte.
***
Miss Parker starrte aus dem Fenster und nahm all ihren Mut für ihre nächste
Frage zusammen.
"Ben, wissen Sie, wann ich Geburtstag habe?"
Der Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, daß er wußte, worauf sie hinaus
wollte. Dieses Wissen erleichterte sie.
"Im Januar, nicht wahr?"
"Ja, am achten. Haben Sie je darüber nachgedacht, was das bedeuten könnte?"
Er nickte, und sie spürte erneut eine Woge der Zuneigung für ihn, so wie schon
bei ihrem ersten Treffen.
"Wir könnten versuchen, Gewißheit zu erlangen", meinte er
unverbindlich. Sie schüttelte sofort den Kopf, lächelte aber leicht.
"Nein, lieber nicht. Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen
herauszufinden, daß Sie nicht..."
Obwohl sie den Satz nicht beendete, konnte sie sehen, daß er genau wußte, was
sie meinte. Es bedeutete ihr viel, daß er sie nicht mit Fragen bedrängte,
sondern einfach nur da war.
"Ich weiß, daß meine Mutter nie mit Ihnen über das Centre gesprochen
hat, und ich hatte das eigentlich auch nicht vor."
"Miss Parker, ich werde Ihnen gerne zuhören, aber Sie müssen mir nichts
erzählen, über das Sie noch nicht bereit sind zu sprechen. Lassen Sie sich
Zeit."
Sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Ihr Vater - oder der Mann, den
sie immer dafür gehalten hatte - hatte nicht ein einziges Mal soviel Mitgefühl
für sie aufgebracht. Miss Parker holte tief Luft. Plötzlich schien sie ein
starker Schmerz zu zerreißen, und sie ahnte, daß der Streß der letzten Tage
nun seinen Tribut forderte.
***
Ben Miller beobachtete Miss Parker besorgt. Sie wirkte auf einmal viel blasser
als noch vor ein paar Minuten. Plötzlich stieß sie zischend die Luft aus, krümmte
sich und hielt ihre Hände wie schützend auf ihren Bauch.
"Miss Parker!" rief er, während er aufsprang und zu ihr rannte. Es
gelang ihm, sie rechtzeitig zu erreichen, als sie bewußtlos in sich
zusammensank. Vorsichtig fing er sie auf, dann hob er sie hoch und brachte sie
zu seinem Wagen, um sie so schnell wie möglich ins nächste Krankenhaus zu
fahren.
***
Miss Parker wachte nur langsam auf. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Aber
wenigstens hatte der unerträgliche Schmerz endlich aufgehört. Nach einer Weile
wurde ihr klar, daß jemand ihre Hand hielt, und sie öffnete neugierig die
Augen.
Offenbar befand sie sich in einem Krankenhaus. Neben dem Bett entdeckte sie
Sydney, der überhaupt nicht gut aussah. Als er sah, daß sie wach war, vertrieb
Erleichterung für einen Augenblick die Sorge aus seinen Zügen.
"Miss Parker, was machen Sie denn für Sachen?", fragte er mit
belegter Stimme und drückte ganz leicht ihre Hand.
"Sagen Sie's mir", brachte sie mühsam hervor.
Er sah kurz zu Boden, bevor er antwortete.
"Ihr Magengeschwür ist aufgebrochen", erklärte er dann leise.
"Hätte man Sie nicht so schnell ins Krankenhaus gebracht, dann..."
Seine Stimme erstarb, und er schüttelte den Kopf. "Wir haben uns alle große
Sorgen um Sie gemacht."
"Wo ist er?"
Sydney mißverstand ihre Frage.
"Ihr Vater konnte nicht kommen", sagte er, und sein gepreßter Tonfall
verriet ihr, was er davon hielt.
"Nein, ich meine Ben."
Jemand bewegte sich am Rand ihres Blickfelds, und dann tauchte Ben neben Sydney
auf. Sie lächelte warm.
"Jetzt schulde ich Ihnen mein Leben schon zum zweiten Mal, Ben."
Ben erwiderte ihr Lächeln voller Wärme, und sie sah, daß er genau verstand,
was sie meinte.
...
Main
© 2001 Miss Bit