Vertrauen
"I am - I feel"
Miss Parker sah auf die Uhr und zog eine Grimasse. Es war bereits weit nach
Mitternacht. Eigentlich sollte sie längst zu Hause sein und nicht mehr im
Centre. Sie unterdrückte ein Gähnen. In letzter Zeit war sie fast ständig müde
und, was noch schlimmer war, unkonzentriert. Vielleicht sollte sie auf Sydney hören
und Urlaub machen. Aber so, wie die Dinge lagen, schien ihr Urlaub keine sehr
verlockende Idee zu sein. Alles veränderte sich ständig, und wer konnte schon
sagen, wie es im Centre aussah, wenn sie aus dem Urlaub zurückkam?
In Gedanken versunken ging sie durch den langen Korridor, der zum Büro ihres
Vaters führte. Er hatte irgendwie merkwürdig geklungen, als er sie vor ein
paar Minuten angerufen und sie zu sich bestellt hatte. Irgend etwas war nicht in
Ordnung. Fast zögernd klopfte sie an und öffnete die schwere Tür. Es überraschte
sie nicht allzu sehr, außer ihrem Vater auch Lyle zu sehen - ihren Bruder. Der
Gedanke war noch genauso fremd und abstoßend wie vor ein paar Wochen.
Allerdings hatte sie auch gar nicht versucht, sich daran zu gewöhnen. Sie
traute Lyle nicht - Bruder hin oder her.
"Ah, Liebes, da bist du ja. Wir haben dich schon erwartet."
Ihr Vater lächelte sein distanziertes, kaltes Lächeln, während Lyle sie
gespannt, beinahe erwartungsvoll musterte und dabei grinste.
"Hallo, Schwesterchen."
Miss Parker zwang sich, das Lächeln ihres Vaters zu erwidern, und versuchte,
Lyle zu ignorieren.
"Hallo", sagte sie und war selbst erstaunt, wie müde sie klang.
"Der Tower hat einige Anweisungen in bezug auf Jarod erlassen, über die
ich euch informieren möchte."
Lyle wandte seine Aufmerksamkeit ihrem Vater zu. Miss Parker blieb an der Tür
stehen und lehnte sich an das kühle Holz. Mit großer Mühe konzentrierte sie
sich auf die Worte ihres Vaters, doch schon bald galten ihre Gedanken anderen,
viel unmittelbareren Problemen. Sie fühlte sich so müde, und dann waren da
noch diese gräßlichen Kopfschmerzen. Wenn sie doch endlich zu Hause wäre...
"Liebling, hörst du zu?"
Unmut schwang in der Stimme ihres Vaters mit. Irritiert sah sie ihn an.
"Daddy, ich... fühle mich nicht wohl. Es tut mir leid. Ich sollte lieber
nach Hause fahren."
Sie blinzelte, als die Welt vor ihren Augen verschwamm. Verdammt, was war los
mit ihr? Wut erfüllte sie, Wut auf ihre unerklärliche Schwäche und außerdem
ein unbestimmtes Angstgefühl. Irgend etwas stimmte nicht.
"Du siehst überhaupt nicht gut aus", stellte Lyle fest und kam auf
sie zu. Kurz bevor er sie erreichte, drehte er sich um.
"Ich sorge dafür, daß sie sicher nach Hause kommt, dann komme ich zurück."
"In Ordnung. Ruh dich ein wenig aus, Prinzessin. Wir brauchen dich doch, um
Jarod zurückzubringen."
Miss Parker fühlte den völlig unsinnigen Drang zu lachen. Sie mußte an seine
Reaktion denken, als er erfahren hatte, daß er einen Sohn hatte. Es schmerzte
sie noch genauso sehr wie damals. Wenn doch bloß ihre Mutter noch hier wäre.
Sie hatte ihre Tochter geliebt... Nein, es war gut, daß sie nicht wußte, was
aus Lyle geworden war.
"Komm", sagte Lyle leise und hielt sie am Arm fest. Widerstrebend
folgte sie ihm.
"Du mußt mir nicht helfen. Broots kann mich nach Hause bringen."
"Ich fürchte, Mr. Broots ist nicht mehr hier. Und schließlich bin ich
dein Bruder, nicht wahr? Ich warte schon lange auf diese Gelegenheit."
Sie runzelte die Stirn. Was meinte er damit? Ihr ungutes Gefühl verstärkte
sich, und sie versuchte, Lyles Hand abzuschütteln, aber er hielt sie fest. Er führte
sie zu einem Fahrstuhl, und unweigerlich stiegen die Erinnerungen an den
Todestag ihrer Mutter in ihr hoch. Blut, soviel Blut, überall Blut. Das Blut
ihrer Mutter. Mom... Die Luft roch verbrannt, und der letzte Schuß hallte noch
immer in ihren Ohren. Mom, bitte, sag doch etwas, bitte. Laß mich nicht allein!
Mom! Hände griffen nach ihr, zogen sie von ihrer Mutter fort. Nein! Bitte, laßt
mich zu ihr! Mom! Ich will zu ihr. Mom... Angst lähmte sie, formte sich in ihr
zu einer eisigen Hand, die ihr Herz umklammert hielt...
"Mom", wisperte sie. Lyle sah sie an, und ein Lächeln umspielte seine
Lippen, das ihr Gänsehaut verursachte.
"Oh, keine Sorge. Deine Reise wird nicht in einem Fahrstuhl enden, das kann
ich dir versichern."
Hatte er ihre Gedanken erraten? Wahrscheinlich war das nicht weiter schwer.
"Wo bringst du mich hin?"
Er antwortete nicht, und sie kämpfte gegen die beginnende Verzweiflung. Was
ging hier vor? Wenn sie doch bloß nicht so müde wäre. Sie mußte jetzt klar
denken, aber das fiel ihr zunehmend schwerer.
Ihr Blick fiel auf die Anzeige des Fahrstuhls, und die Verzweiflung verwandelte
sich in Panik. SL 21, SL 22, SL 23, SL 24... Der Lift hielt an. SL 24, das
tiefste noch intakte unterirdische Level. Alles darunter war seit der Explosion
nicht mehr zugänglich.
Lyle schritt durch den Korridor auf eine angelehnte Tür zu und zog sie
unerbittlich mit sich. Hinter der Tür lag ein Raum, der auf geradezu
erschreckende Weise dem Zimmer ähnelte, in dem Jarod den größten Teil seines
Lebens verbracht hatte. Was Miss Parker den letzten Funken Hoffnung raubte, war
der Mann, der sie dort erwartete.
"Sydney", flüsterte sie ungläubig. "Was ist hier los? Was soll
das alles?"
Er sah sie traurig an und schüttelte den Kopf.
"Es tut mir leid, Miss Parker."
Entsetzt betrachtete sie die Spritze in seiner Hand, dann versuchte sie, sich
loszureißen, doch Lyle hielt sie fest.
"Sydney, tun Sie es nicht. Bitte, Syd."
Miss Parker schloß die Augen, als sie den Einstich spürte. Sie spürte, daß
Lyle sie losließ, dann berührte sie jemand an der Schulter. Es fiel ihr
schwer, die Augen wieder zu öffnen. Sydney stand dicht neben ihr.
"Es tut mir wirklich leid", flüsterte er. "Ich werde für Sie
tun, was ich kann, das verspreche ich Ihnen."
"Ich... vertraue Ihnen nicht mehr Sydney. Nie mehr."
Sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen. Das Letzte, was sie wahrnahm, war, daß
er sie zu einem Bett führte und ihr sanft half, sich hinzulegen. Ihre Augen
fielen zu, und die Welt verschwand aus ihrem Bewußtsein.
***
Miss Parker sah auf die Waffe in ihren Händen und dachte nach. Sie wußte
genau, was sie zu tun hatte. Langsam drehte sie sich zu Jarod um, der sie
aufmerksam musterte. Obwohl er äußerlich völlig ruhig wirkte, ging er im
Moment wahrscheinlich Dutzende von Lösungsmöglichkeiten durch.
"Wir sollten von hier verschwinden", sagte er schließlich.
"Du weißt genau, daß wir hier nicht rauskommen", erwiderte sie
leicht gereizt. Seine Ruhe irritierte sie. Er zuckte mit den Schultern.
"Ich habe einen Plan."
"Ach, wirklich?" Na schön, Jarod. Dann wollen wir mal sehen, ob du
auch mit mir gerechnet hast. Miss Parker ging um ihn herum zu Angelo, der hinter
dem Holzstapel auf dem Boden saß. Angelo lächelte, als er sie sah, und sie
erwiderte das Lächeln, während sie sich neben ihn hockte. In den letzten
Monaten hatten sie eine Menge durchgemacht. Hoffentlich würde er verstehen, was
sie jetzt tun mußte.
"Angelo, bitte hör mir jetzt zu, ja?"
Er sah sie an und nickte.
***
Jarod beobachtete Angelo und Miss Parker, während er fieberhaft nach einem
Ausweg suchte. Er hatte die Möglichkeiten bereits auf einige wenige Szenarien
eingegrenzt. Die Aktionen des Centres waren für gewöhnlich leicht
vorhersehbar, aber besonders Mr. Lyle stellte eine unvorhersehbare Variable dar.
Miss Parker flüsterte etwas in Angelos Ohr, der daraufhin erschrocken
zusammenzuckte und vor- und zurück schaukelte. Sie redete beruhigend auf ihn
ein, bis er sich wieder entspannte.
"Bitte versprich mir, daß du dich immer daran erinnern wirst, was ich dir
gerade gesagt habe, Angelo."
"Angelo weiß... Versprechen."
"Danke", flüsterte sie. Sanft berührte sie seine Wange und stand
dann mit einem traurigen Lächeln auf. Jarod runzelte die Stirn. Sie hatte
irgend etwas vor, das konnte er spüren.
"Wir haben keine Zeit mehr, Parker", sagte er drängend.
"Ich weiß. Du mußt dich um Angelo kümmern. Er kann nicht ins Centre zurückkehren."
"Was hast du vor? Wir kommen hier raus, und zwar alle zusammen!"
"Sei kein Idiot, Jarod. Das Centre wird uns nicht alle entkommen lassen.
Lieber werden sie uns erschießen. Außerdem ist Lyle nicht wegen euch
hier."
"Ich sagte doch, daß ich einen Plan habe. Du kannst mir vertrauen."
Jarods Gedanken rasten. Er ahnte bereits, was sie vorhatte, und das konnte er
unmöglich zulassen, nicht einmal um seiner und Angelos Freiheit willen.
"Das tue ich. Aber ich kann nicht anders. Kümmere dich gut um
Angelo."
Bevor er sie aufhalten konnte, war sie mit erhobenen Händen hinter dem Holzstoß
hervorgetreten.
"Parker, nicht!"
***
"Lyle? Ich bin bereit, mich zu ergeben und ins Centre zurückzukehren."
Sie warf die Waffe zu Boden und drehte sich ein letztes Mal um.
"Verschwindet von hier! Und keine Diskussionen, Jarod, dafür ist es zu spät."
Ohne ein weiteres Wort ging sie langsam von dem Stapel fort, der ihnen während
der letzten halben Stunde Deckung geboten hatte.
"Das genügt jetzt, Miss Parker."
Sie blieb stehen, als sie Lyles Stimme hörte. Zusammen mit ein paar Sweepern
tauchte er aus seiner Deckung auf, seine Waffe auf sie gerichtet. Neben ihm
stand Sydney, einen besorgten Ausdruck in den Augen.
...
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© 2001 Miss Bit