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Hinweis Nr. 12 - Deutschland & Amerika - Teil 1

von Michael Winkler
gesendet am 16. August 2002

 

Ich befinde mich seit einigen Tagen wieder in Deutschland und hatte neben all den e-Mails nun auch die Gelegenheit, einige Dinge unter Freunden von Gesicht zu Gesicht zu diskutieren. Und ich weiß nun auch, warum schriftliche Dokumente so vorteilhaft für die Verbreitung von Informationen sind. Mündliche Wieder- und Weitergabe ermüdet. Das ist wahrscheinlich genauso wie mit den 300 Urlaubsfotos. Spätestens nach dem 2. Mal Erklären, verweist man alle weiteren Interessierten darauf, dass sie sich die Fotos selbst anschauen und bei Bedarf nachfragen sollen, wenn sie interessiert sind.

Ich habe momentan keinen Überblick darüber, wie viele der übriggebliebenen 380 Personen (15-20 haben sich austragen lassen – ja, auch das ist möglich J - kein Problem) die e-Mails wirklich lesen. Ich gehe eh davon aus, dass ein Großteil in den Sommermonaten im Urlaub ist und bei der Heimkehr eine überfüllte Mailbox vorfinden wird.  

Bevor ich über das für Deutsche so wichtige Thema „Das Dritte Reich“ schreiben werde, sind m.E. noch einige Vorbemerkungen nötig. Ab und zu kommt auch bei mir, trotz aller „Hartnäckigkeit“, ein Rückprall, der mich warnt und sagt: „Was, wenn alles nur erfunden ist?“
Dann hatte ich
¢ne schöne Zeit, etwas Arbeit umsonst und alle lachen mich aus. Sei’s drum ... Humor ist, wenn man trotzdem lacht. J

Immer wieder neigen einige Gesprächspartner dazu, in mir eine gewisse „Paranoia“ zu sehen. Nach dem 3. Mal habe ich mir dann mal das Bertelsmann-Lexikon zur Hand genommen und fand dort unter dem Stichwort „Paranoia“ folgendes: „Paranoia [die; grch., „Verrücktheit“], Geisteskrankheit mit Ausbildung eines in sich geordneten Wahnsystems; als Paraphrenie eine bessere Verlaufsform der ® Schizophrenie. Andere Formen sind das paranoide Syndrom u. die paranoide Psychopathie, eine abnorme Persönlichkeitsveranlagung.“

Olala, was sagt man denn nun dazu?

Also, mit der abnormen Persönlichkeitsveranlagung könnte ich mich ganz gut anfreunden J Leider weiß ich nicht, wie alt diese Definition ist und von wem sie stammt. Aber da wären wir wieder beim Wort „Normal“. Was ist bitte schön „normal“? Allgemein ist man wohl „normal“, wenn man nicht aus dem Rahmen fällt. War man im „Dritten Reich“ im landläufigen Sinne normal, wenn man alles mitgemacht hat? Waren Amerikaner noch normal, wenn sie sagten, der doppelte Atombombenabwurf gegen Japan war ein menschheitsverachtendes Verbrechen? Und heute, was ist heute normal, wo mindestens 50 % der Bevölkerung darauf pfeifen, ob sie überhaupt eine Persönlichkeit haben oder nicht?  

Mitunter fallen dann Sätze wie „Wenn ich ständig alles anzweifle und hinterfrage, mache ich mich doch selbst fertig.“ Dann setzt man sich doch lieber vor die „Tagesthemen“ oder die RTL-Nachrichten und akzeptiert die „3-Minuten-Wahrheiten“ – mundgerecht aufgewärmt.

Und manchmal denke ich mir dann so:
„Es könnte so einfach sein. Mach die Augen einfach zu, Micha. Nimm Dir
¢ne gute Flasche Wein. Reinige deinen Geist damit. Bitte diejenigen widerspenstigen Gehirnzellen, die dir „das Leben so schwer machen“, dass sie bitte zu denen gehören sollten, die der Alkohol gerade abtötet. Unterhalte dich mit Freunden mal über richtige Themen – dein Handy, deinen Hund, dein Auto, die Frau, der Du schon ewig hinterher rennst oder die dir hinterher rennt, das letzte Harry-Potter-Buch ... es gibt so viele Themen, mein lieber Micha. Warum bist du so dumm und uneinsichtig und beschäftigst dich mit dem „11. September und seinen Folgen“? Such’ dir ’nen besser bezahlten Job und lass’ die Leute doch machen. Reg’ dich mit ihnen über die Regierung auf und hoffe darauf, dass es bei der nächsten besser wird. Glaube endlich wieder dem SPIEGEL und erzähl deinen Kindern später mal, dass wahrscheinlich jeder einmal durch so eine Phase geht. Man gewöhne sich aber wieder daran – alles ist normal. Sei einfach ein normaler Mensch wie jeder andere auch! Es ist nicht so schwer – man muss nur wollen!“

Da stehe ich nun, die Augen zu und finde die Sache richtig gut. Richtig gut! – Was für ein schöner Traum ...

Ungefähr 10 Sekunden lang. Dann mache ich die Augen auf, gehe zum Spiegel (zu einem richtigen! – nicht die Zeitung) und bemerke, dass mir jemand die rosa-rote Brille aufgesetzt hat (oops & hoppla, vielleicht war dieser „jemand“ doch die Zeitung J). Ich erinnere mich plötzlich wieder an einige e-Mails und die darin enthaltene Frage: „Was ist eigentlich normal?“ Und dann weiß ich es wieder – es fällt mir wie Schuppen von den Augen: „Normalia“ ist das Land, wo wahrscheinlich 80-90 % der Bevölkerung leben. Im Kreislauf der Normalitäten, der ewig wiederkehrenden Probleme & Sorgen, des ständigen Auf’s und Ab’s, der immer wieder auf’s Neue auftauchenden Fragen, der kleinen Freuden und der großen Leiden.  

Wie einfach könnte doch das Leben sein? Arbeiten, schlafen, arbeiten, schlafen. Geld verdienen, Geld ausgeben, Geld verdienen, Geld ausgeben. Beziehungen anfangen, Beziehungen beenden, Beziehungen anfangen, Beziehungen beenden. Auto voll tanken, Tank leer fahren, Auto voll tanken, Tank leer fahren. Konstanz ist etwas Schönes. Man kann sich daran festhalten, weil man die Dinge kennt. Nur ist die Natur cleverer als alle, die da glauben, schon „clever genug“ zu sein. Irgendwann klopft sie bei jedem an die Hintertür des Gehirns und fragt: "Arbeitest Du um zu leben oder lebst du um zu arbeiten?"

Einige bemerkten richtig, dass die Welt schon immer so war – ob nun vor dem 11. September oder danach. Für mich war der 11. September letzten Endes auch nur ein Auslöser, der mich dazu veranlasste, diese e-Mails zu verfassen und zu verschicken. Für viele andere war es der Beginn des 2. Weltkrieges, die Atombombe auf Hiroshima, der Bau der Mauer in Berlin (gestern übrigens der 41. Jahrestag), der Golfkrieg oder der Bürgerkrieg in Ruanda oder es wird der 23. Mai 2003 oder der 14. August 2006 sein (rein zufällig gewählte Tage – ich war es jedenfalls nicht, wenn an diesen Tagen wirklich etwas passieren sollte J)  

Abschließen möchte ich mit einigen Auszügen aus dem aktuellen Buch von Arundhati Roy „Die Politik der Macht“:
„In einem weiteren Essay personifiziert Arundhati Roy die anonymen Mächte der Globalisierung und will uns überzeugen, dass mit ihnen ein neuer König in die Welt gekommen ist:
‚Mächtig, mitleidlos und bis an die Zähne bewaffnet. Ein König, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Sein Reich ist das Kapital, seine Eroberungen sind die aufstrebenden Märkte, seine Waffen stammen aus dem nuklearen Arsenal, seine Gebete sind Profitraten, und Grenzen kennt er nicht. Wer auch nur versucht, ihn sich vorzustellen und sein ganzes Wirken in den Blick zu bekommen, der muss sich an den Rand des vernünftigerweise Denkbaren begeben und darf keine Scheu haben, sich lächerlich zu machen.’(S.12 oder http://www.zmag.org/roy.htm)  

Warum sie sich mit den weniger erfreulichen Themen dieser unserer Zeit auseinandersetzt, erklärt sie auf S. 19
(auch http://www.zmag.org/southasia/endofimagination.htm):
„Der einzige Traum, den es sich lohne zu träumen ..., sei der Traum, dass man lebt, so lange man lebt, und erst stirbt, wenn man tot ist ...“
"Was bedeutet das?"
„Zu lieben. Geliebt zu werden. Nie zu vergessen, dass du unwichtig bist. Sich nie an die unsagbare Gewalt und gewöhnliche Ungleichheit des Lebens um dich herum gewöhnen. Freude auch an den traurigsten Orten suchen. Die Schönheit bis in ihren Kern verfolgen. Nie zu vereinfachen, was kompliziert, und nie zu verkomplizieren, was einfach ist. Stärke zu respektieren, aber niemals schiere Macht. Vor allem aber hinzuschauen. Versuchen, hinter die Dinge zu schauen. Nie den Blick abwenden. Und niemals vergessen.“

Dem lässt sich nichts mehr hinzufügen.

Einen schönen, sonnigen Tag noch, Euer Micha.

Diese e-Mail kann auch gern weitergeleitet werden – ich habe überhaupt nichts dagegen.

PS: Und während ich hier gerade etwas über die „clevere“ Natur schreibe, macht sie die Probe auf’s Exempel und beschert Dresden ein Hochwasser, welches wohl noch keiner der lebenden Dresdner gesehen hat. Wollen wir hoffen, dass es neben den menschlichen und finanziellen Verlusten vor allem ein Umdenken der Menschen bewirkt. Was auch immer wir tun, die Natur wird sich letzten Endes wehren.