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Hinweis Nr. 53 - Arbeitslos und Spaß dabei

von Michael Winkler
gesendet am 24. Dezember 2003

 

 

 

“Die Angst vor der Langeweile ist die einzige Entschuldigung für die Arbeit.”

Jules Renard, franz. Schriftsteller (1864-1910)

 

 

Wunderbare Werbewelt

Die Welt der Werbung ist groß ... die Welt der Verfehlungen ebenso.

Der Bertelsmann Verlag (der zu den Top 5 weltweit zählt, www.wer-weiss-was.de/theme68/article759805.html) kann sich aufgrund seiner Größe auch überproportionale Verfehlungen leisten. So schaffte man es auf einer Werbeseite, die Bücher eines gewissen Lou Paget und des Dalai Lama äußerst günstig zu platzieren (siehe rechts). Zwischen dem „perfekten Liebhaber“ und der „perfekten Liebhaberin“, die beide „Sextechniken, die sie/ihn verrückt machen“ beinhalten, darf der Dalai Lama lächelnd von seinem „Buch der Freiheit“ schauen. Der Bertelsmann-Club, der offensichtlich nie um neue Marktstrategien verlegen ist (sonst hätte man wohl nie Napster gekauft), bietet hier also sein neues „Sandwich-Programm“ an. Das neue Marktsegment „Befriedigung-Zufriedenheit-Befriedigung“ birgt für jeden etwas ... für die suchende Frau, den weiblichen und männlichen Sucher sowie den suchenden Mann. Und das alles kurz vor’m Weihnachtsfest. Das ist sozusagen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten an einem Tag. Danke, Bertelsmann!

 

(Es ist vielleicht noch zu ergänzen, dass es sich bei der Abbildung der drei Bücher nicht um eine Photoshop-unterstützte Montage handelt, sondern um eine tatsächlich so erschienene Werbung!)

 

Da heute nun wirklich Heiligabend ist und kaum ein Mensch auf die Idee kommen wird, an diesem Tag e-Mails zu lesen (geschweige denn sie zu schreiben), wird der heutige Hinweis auch nicht allzu lang werden. Zudem wird ca. die Hälfte nicht von mir kommen ... aber dazu später. Ich möchte es nicht versäumen, allen Lesern ein Frohes Weihnachtsfest zu wünschen und einen Guten Rutsch ins Neue Jahr. Auf das es mindestens so gut werden möge wie dieses Jahr.

 

IMMER FÜR SIE DA!

 

Ob Dalai Lama oder Sextechniken ...

Bertelsmann lässt Ihnen die Wahl zwischen Liebe und Liebe!

 

Arbeitslos und Spaß dabei?!

Wer irgendwann einmal in den Umstand kommen (gekommen sein) sollte, ohne Arbeit zu sein, der weiß, dass dies nicht unbedingt eine glückliche Situation ist. Aber mal abgesehen davon, kann man bei 5 Millionen offiziellen Arbeitslosen und schätzungsweise 6-7 Millionen wirklich Arbeitslosen, schon nicht mal mehr von einer Randfraktion sprechen, sondern von einer großen Bevölkerungsgruppe. Nicht umsonst zählt der Indikator „Arbeitslosenquote“ in Deutschland (in den USA ist es eher das Bruttoinlandsprodukt) zu den wichtigsten für den Stand der Gesellschaft (in Deutschland also „wirtschaftliches Wohlergehen“). Dass dabei allzu oft Wohlstand mit Wohlbefinden (oder Lebensqualität mit Lebensstandard) verwechselt wird, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls haben die Politiker es im Fall der Arbeitslosen mit einer mitunter wahlentscheidenden Wählergruppe zu tun. 1990 waren es „wir Ossis“, die Helmut „Kohle“ Kohl aufgrund der angekündigten „blühenden Landschaften“ erneut zum Bundeskanzler machten. Heutzutage macht man den Arbeitslosen Versprechungen. Naja, ein Blick auf die Arbeitslosenquoten in Ost und West, lässt die Vermutung aufkommen, dass es eventuell immer noch die selben Leute sind, denen man die Versprechungen macht ...

Wie dem auch sei, knapp 5 Millionen Arbeitlose, reichlich 1 Million freier Stellen .. da fehlen nach Adam Ries immer noch knapp 4 Millionen Arbeitsplätze, die wohl auch durch Arbeitsteilung und Schaffung neuer Stellen kaum generiert werden können. Mal ganz abgesehen von dem Fakt, dass viele auch überhaupt kein Interesse daran haben, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist doch viel einfacher, die Wochenarbeitszeit von 40 auf 42 h zu erhöhen und den Lohn gleichzeitig um 10 % zu senken. Wenn man Glück hat, bleibt es bei der Menge der Arbeit, die man verrichten muss, kann aber auch 10 % mehr werden. Bei solchen Aussichten, kann man fast schon glücklich sein, wenn man seine Zeit, anders verbringen darf als mit „sich den A.... aufzureißen“.

 

Die Glücklichen Arbeitslosen

Seit 1996 gibt es deshalb die „Glücklichen Arbeitslosen“. Ihre Botschaft ist der Rückseite eines Buches eines ihrer Hauptprotagonisten Guillaume Paoli (französischer Staatsbürger korsischer Abstammung, wohnhaft in Berlin) „Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche – Aufrufe, Manifeste und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen“ (Verlag Klaus Bittermann, 2002) entnommen:

„Arbeit für alle werde es nie wieder geben, doch gerade dies sei eine historische Chance. Heute gäbe es bereits Menschen, die außerhalb von der Erwerbssphäre ein durchaus glückliches Dasein gefunden hätten. Nicht Arbeitslosigkeit sein das Problem, sondern Geldlosigkeit und mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz. Darum plädieren die Glückliche Arbeitslosen für eine angemessene, bedingungslose Entlohnung derjenigen, die auf die Mangelware Arbeit freiwillig verzichten. Voraussetzung dafür wäre freilich eine kulturelle Revolution, die sich gegen die alte Arbeitsmoral richten müsste, um die soziale Relevanz der Muße anzuerkennen.“

Das Buch lässt sich jedenfalls ganz gut lesen, selbst wenn man vieles kopfschüttelnd ablehnt. Nach mehrmaligem Nachdenken findet man einige Vorschläge aber vielleicht gar nicht mehr so abwegig ... Kleines Beispiel gefällig?

„Die Notwendigkeit von drastischen Sparmaßnahmen hatte wir frühzeitig erkannt und unseren Beitrag dazu öffentlich gemacht: die Abschaffung der Arbeitsämter. Diese Stasi-Nachfolgebehörde ist viel zu teuer und leistet nichts außer bürokratischen Schikanen. Bekanntlich hat noch nie jemand eine ehrenhafte Stelle über das Arbeitsamt bekommen, sondern nur sinnlose Termine, Pseudejobs, Drohungen und Ärger. Ebenso könnten wir uns die Statistikschönung und den peinlichen, monatlichen Auftritt des Herrn Jagoda sparen. Mit der eingesparten Summe wäre es dann möglich eine angemessene, bedingungslose Entlohnung der Nichtarbeitenden zu sichern.“

Der letzte Satz wird durch eine Fußnote ergänzt, die da lautet:

„Kurz darauf wurde die Statistikschönung öffentlich zugegeben und Jagoda in den Ruhestand geschickt. Zu diesem Anlass wurden Zahlen genannt. Jährlich werden 50 Milliarden für Pseudomaßnahmen und Leistungen ausgegeben; hinzu kommen 20 Milliarden allein für die interne Verwaltung der Arbeitsämter. Dividiert man diese Summe durch die (wirklichkeitsnähere) Zahl von 5 Millionen Erwerbslosen, dann würde theoretisch ein jeder monatlich 1166 Euro beziehen können.“

 

Wer sich für die Glücklichen Arbeitslosen und ihre Ziele interessiert ... www.diegluecklichenarbeitslosen.de.

 

Zu diesem Thema passt, so glaube ich, keine Geschichte besser als Heinrich Böll’s „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“

 

In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind und sicher ist, ein drittes Mal: klick. Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt. Aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab.

Durch jenes kaum meßbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist – der Landessprache mächtig - durch ein Gespräch zu überbrücken versuccht. "Sie werden heute einen guten Fang machen." Kopfschütteln des Fischers. "Aber man hat mir gesagt, daß das Wetter günstig ist." Kopfnicken des Fischers. "Sie werden also nicht ausfahren?" Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiß liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpaßte Gelegenheit. "Oh? Sie fühlen sich nicht wohl?" Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über.

"Ich fühle mich großartig", sagt er. "Ich habe mich nie besser gefühlt." Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. "Ich fühle mich phantastisch."

Der Gesichtausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: "Aber warum fahren Sie dann nicht aus?" Die Antwort kommt prompt und knapp. "Weil ich heute morgen ausgefahren bin."

"War der Fang gut?" "Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen." Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die Schultern. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis.

"Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug", sagt er, um des Fremden Seele zu erleichtern. "Rauchen Sie eine von meinen?" "Ja, danke."

Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.

"Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen", sagt er, "aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen. Stellen Sie sich das mal vor!"

Der Fischer nickt.

"Sie würden", fährt der Tourist fort, "nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren – wissen Sie, was geschehen würde?" Der Fischer schüttelt den Kopf.

"Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen – eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden...", die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, "Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rumfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren – und dann..." – wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. "Und dann", sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken wie einem Kind, das sich verschluckt hat. "Was dann?" fragte er leise.

"Dann", sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, "dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken." "Aber das tu ich ja schon jetzt", sagt der Fischer, "ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört."

Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

Heinrich Böll, Erzählungen 1950-1970, Köln 1973, 43ff., u.a. zu finden unter www.sai.de/literatur/BOELL.HTM

 

In diesem Sinne, ein Frohes Fest Euch allen und denkt bei hohem Negativstress im Neuen Jahr mal an diese Geschichte, Euer Micha.

 

PS: Der Titel „Arbeitslos und Spaß dabei“ stammt im übrigen nicht von mir, sondern wurde bereits 1994 als Single von Vicki Vomit (www.vicki-vomit.de) bekannt.