von Michael Winkler |
“Die
Angst vor der Langeweile ist die einzige Entschuldigung für die Arbeit.”
Jules
Renard, franz. Schriftsteller (1864-1910)
Wunderbare
Werbewelt
Die
Welt der Werbung ist groß ... die Welt der Verfehlungen ebenso. Der
Bertelsmann Verlag (der zu den Top 5 weltweit zählt, www.wer-weiss-was.de/theme68/article759805.html)
kann sich aufgrund seiner Größe auch überproportionale Verfehlungen
leisten. So schaffte man es auf einer Werbeseite, die Bücher eines
gewissen Lou Paget und des Dalai Lama äußerst günstig zu platzieren
(siehe rechts). Zwischen dem „perfekten Liebhaber“ und der
„perfekten Liebhaberin“, die beide „Sextechniken, die sie/ihn verrückt
machen“ beinhalten, darf der Dalai Lama lächelnd von seinem „Buch
der Freiheit“ schauen. Der Bertelsmann-Club, der offensichtlich nie um
neue Marktstrategien verlegen ist (sonst hätte man wohl nie Napster
gekauft), bietet hier also sein neues „Sandwich-Programm“ an. Das
neue Marktsegment „Befriedigung-Zufriedenheit-Befriedigung“ birgt für
jeden etwas ... für die suchende Frau, den weiblichen und männlichen
Sucher sowie den suchenden Mann. Und das alles kurz vor’m
Weihnachtsfest. Das ist sozusagen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten
an einem Tag. Danke, Bertelsmann! (Es
ist vielleicht noch zu ergänzen, dass es sich bei der Abbildung der
drei Bücher nicht um eine Photoshop-unterstützte Montage handelt,
sondern um eine tatsächlich so erschienene Werbung!) Da
heute nun wirklich Heiligabend ist und kaum ein Mensch auf die Idee
kommen wird, an diesem Tag e-Mails zu lesen (geschweige denn sie zu
schreiben), wird der heutige Hinweis auch nicht allzu lang werden. Zudem
wird ca. die Hälfte nicht von mir kommen ... aber dazu später. Ich möchte
es nicht versäumen, allen Lesern ein Frohes Weihnachtsfest zu wünschen
und einen Guten Rutsch ins Neue Jahr. Auf das es mindestens so gut
werden möge wie dieses Jahr. |
IMMER
FÜR SIE DA! Ob
Dalai Lama oder Sextechniken ... Bertelsmann
lässt Ihnen die Wahl zwischen Liebe und Liebe! |
Arbeitslos
und Spaß dabei?!
Wer
irgendwann einmal in den Umstand kommen (gekommen sein) sollte, ohne Arbeit zu
sein, der weiß, dass dies nicht unbedingt eine glückliche Situation ist. Aber
mal abgesehen davon, kann man bei 5 Millionen offiziellen Arbeitslosen und schätzungsweise
6-7 Millionen wirklich Arbeitslosen, schon nicht mal mehr von einer Randfraktion
sprechen, sondern von einer großen Bevölkerungsgruppe. Nicht umsonst zählt
der Indikator „Arbeitslosenquote“ in Deutschland (in den USA ist es eher das
Bruttoinlandsprodukt) zu den wichtigsten für den Stand der Gesellschaft (in
Deutschland also „wirtschaftliches Wohlergehen“). Dass dabei allzu oft
Wohlstand mit Wohlbefinden (oder Lebensqualität mit Lebensstandard) verwechselt
wird, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls haben die Politiker es im Fall
der Arbeitslosen mit einer mitunter wahlentscheidenden Wählergruppe zu tun.
1990 waren es „wir Ossis“, die Helmut „Kohle“ Kohl aufgrund der angekündigten
„blühenden Landschaften“ erneut zum Bundeskanzler machten. Heutzutage macht
man den Arbeitslosen Versprechungen. Naja, ein Blick auf die Arbeitslosenquoten
in Ost und West, lässt die Vermutung aufkommen, dass es eventuell immer noch
die selben Leute sind, denen man die Versprechungen macht ...
Wie
dem auch sei, knapp 5 Millionen Arbeitlose, reichlich 1 Million freier Stellen
.. da fehlen nach Adam Ries immer noch knapp 4 Millionen Arbeitsplätze, die
wohl auch durch Arbeitsteilung und Schaffung neuer Stellen kaum generiert werden
können. Mal ganz abgesehen von dem Fakt, dass viele auch überhaupt kein
Interesse daran haben, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist doch viel
einfacher, die Wochenarbeitszeit von 40 auf 42 h zu erhöhen und den Lohn
gleichzeitig um 10 % zu senken. Wenn man Glück hat, bleibt es bei der Menge der
Arbeit, die man verrichten muss, kann aber auch 10 % mehr werden. Bei solchen
Aussichten, kann man fast schon glücklich sein, wenn man seine Zeit, anders
verbringen darf als mit „sich den A.... aufzureißen“.
Die
Glücklichen Arbeitslosen
Seit
1996 gibt es deshalb die „Glücklichen Arbeitslosen“. Ihre Botschaft ist der
Rückseite eines Buches eines ihrer Hauptprotagonisten Guillaume Paoli (französischer
Staatsbürger korsischer Abstammung, wohnhaft in Berlin) „Mehr
Zuckerbrot, weniger Peitsche – Aufrufe, Manifeste und Faulheitspapiere der Glücklichen
Arbeitslosen“ (Verlag Klaus Bittermann, 2002) entnommen:
„Arbeit
für alle werde es nie wieder geben, doch gerade dies sei eine historische
Chance. Heute gäbe es bereits Menschen, die außerhalb von der Erwerbssphäre
ein durchaus glückliches Dasein gefunden hätten. Nicht Arbeitslosigkeit sein
das Problem, sondern Geldlosigkeit und mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz.
Darum plädieren die Glückliche Arbeitslosen für eine angemessene,
bedingungslose Entlohnung derjenigen, die auf die Mangelware Arbeit freiwillig
verzichten. Voraussetzung dafür wäre freilich eine kulturelle Revolution, die
sich gegen die alte Arbeitsmoral richten müsste, um die soziale Relevanz der Muße
anzuerkennen.“
Das
Buch lässt sich jedenfalls ganz gut lesen, selbst wenn man vieles kopfschüttelnd
ablehnt. Nach mehrmaligem Nachdenken findet man einige Vorschläge aber
vielleicht gar nicht mehr so abwegig ... Kleines Beispiel gefällig?
„Die
Notwendigkeit von drastischen Sparmaßnahmen hatte wir frühzeitig erkannt und
unseren Beitrag dazu öffentlich gemacht: die Abschaffung der Arbeitsämter.
Diese
Stasi-Nachfolgebehörde ist viel zu teuer und leistet nichts außer bürokratischen
Schikanen. Bekanntlich hat noch nie jemand eine ehrenhafte Stelle über das
Arbeitsamt bekommen, sondern nur sinnlose Termine, Pseudejobs, Drohungen und Ärger.
Ebenso könnten wir uns die Statistikschönung und den peinlichen, monatlichen
Auftritt des Herrn Jagoda sparen. Mit der eingesparten Summe wäre es dann möglich
eine angemessene, bedingungslose Entlohnung der Nichtarbeitenden zu sichern.“
Der
letzte Satz wird durch eine Fußnote ergänzt, die da lautet:
„Kurz
darauf wurde die Statistikschönung öffentlich zugegeben und Jagoda in den
Ruhestand geschickt. Zu diesem Anlass wurden Zahlen genannt. Jährlich werden 50
Milliarden für Pseudomaßnahmen und Leistungen ausgegeben; hinzu kommen 20
Milliarden allein für die interne Verwaltung der Arbeitsämter. Dividiert man
diese Summe durch die (wirklichkeitsnähere) Zahl von 5 Millionen Erwerbslosen,
dann würde theoretisch ein jeder monatlich 1166 Euro beziehen können.“
Wer
sich für die Glücklichen Arbeitslosen und ihre Ziele interessiert ... www.diegluecklichenarbeitslosen.de.
Zu
diesem Thema passt, so glaube ich, keine Geschichte besser als Heinrich Böll’s
„Anekdote zur Senkung der
Arbeitsmoral“
In
einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter
Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben
einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu
fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen schneeweißen Wellenkämmen,
schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller
guten Dinge drei sind und sicher ist, ein drittes Mal: klick. Das spröde, fast
feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig
aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt. Aber bevor er das
Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase
gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand
gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit
ab.
Durch
jenes kaum meßbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit ist eine
gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist – der Landessprache mächtig
- durch ein Gespräch zu überbrücken versuccht. "Sie werden heute einen
guten Fang machen." Kopfschütteln des Fischers. "Aber man hat mir
gesagt, daß das Wetter günstig ist." Kopfnicken des Fischers. "Sie
werden also nicht ausfahren?" Kopfschütteln des Fischers, steigende
Nervosität des Touristen. Gewiß liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten
Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpaßte Gelegenheit.
"Oh? Sie fühlen sich nicht wohl?" Endlich geht der Fischer von der
Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über.
"Ich
fühle mich großartig", sagt er. "Ich habe mich nie besser gefühlt."
Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut
ist. "Ich fühle mich phantastisch."
Der
Gesichtausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht
mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: "Aber
warum fahren Sie dann nicht aus?" Die Antwort kommt prompt und knapp.
"Weil ich heute morgen ausgefahren bin."
"War
der Fang gut?" "Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren
brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend
Makrelen gefangen." Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft
dem Touristen beruhigend auf die Schultern. Dessen besorgter Gesichtsausdruck
erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis.
"Ich
habe sogar für morgen und übermorgen genug", sagt er, um des Fremden
Seele zu erleichtern. "Rauchen Sie eine von meinen?" "Ja,
danke."
Zigaretten
werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd
auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände,
um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.
"Ich
will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen", sagt er,
"aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes,
vielleicht sogar ein viertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf,
vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen. Stellen Sie sich das mal vor!"
Der
Fischer nickt.
"Sie
würden", fährt der Tourist fort, "nicht nur heute, sondern morgen,
übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal
ausfahren – wissen Sie, was geschehen würde?" Der Fischer schüttelt den
Kopf.
"Sie
würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei
Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen
kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich
viel mehr fangen – eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden...",
die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, "Sie
würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine
Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rumfliegen, die Fischschwärme
ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben. Sie könnten die
Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler
direkt nach Paris exportieren – und dann..." – wieder verschlägt die
Begeisterung dem Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt,
seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich
hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. "Und
dann", sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der
Fischer klopft ihm auf den Rücken wie einem Kind, das sich verschluckt hat.
"Was dann?" fragte er leise.
"Dann",
sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, "dann könnten Sie beruhigt hier
im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer
blicken." "Aber das tu ich ja schon jetzt", sagt der Fischer,
"ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört."
Tatsächlich
zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte
er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten
zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten
Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.
Heinrich Böll, Erzählungen
1950-1970, Köln 1973, 43ff., u.a. zu finden unter www.sai.de/literatur/BOELL.HTM
In
diesem Sinne, ein Frohes Fest Euch allen und denkt bei hohem Negativstress im
Neuen Jahr mal an diese Geschichte, Euer Micha.
PS:
Der Titel „Arbeitslos und Spaß dabei“ stammt im übrigen nicht von mir,
sondern wurde bereits 1994 als Single von Vicki Vomit (www.vicki-vomit.de)
bekannt.