Junge Welt
01.10.2001
Die Militärstrategie der USA (Teil III und Schluß).
Die Fronten der Zukunft
Von Hans-Werner Deim
Die Unterhaltung eines starken militärischen Gesamtkomplexes und seine
entschlossene Nutzung für die Durchsetzung der nationalen Interessen setzen
nach amerikanischer Überzeugung die Anwesenheit und hohe Bereitschaft von
Streitkräften der USA in allen wichtigen Weltregionen voraus. Die Präsenz
in einem Lande läßt nach Auffassung des US-Verteidigungsministers
zu, in Gangstermanier auch die Anwesenheit in einem anderen Lande zu erwirken.
Wenn irgendein Staat das Versprechen der Zusammenarbeit mit den USA und der
Unterbringung amerikanischer Truppen auf seinem Territorium bricht, »müssen
die USA die Fähigkeit besitzen, auf dessen Territorium ihren Brückenkopf
auch nach gewaltsamer Türöffnung zu errichten. Diese Fähigkeit,
auf fremdes Territorium gewaltsam vereinte Truppen zu führen, sichert den
USA den Zugang zu den wichtigsten Häfen, Luftbasen und anderen bedeutsamen
Objekten.«
Globale
Truppenverteilung
Die amerikanischen Truppen in Europa, einschließlich der an den ständigen
Patrouillen im Mittelmeer beteiligten Marine- und Luftwaffenangehörigen,
zählen heute 114000 Mann. Vorentfaltet sind in Deutschland der Stab eines
Armeekorps, zwei Felddivisionen und die Ausrüstung für vier doppelbasierte
Panzer- und Mechanische Brigaden sowie je ein Kampfgeschwader der Luftwaffe
in Großbritannien, Deutschland, Italien und der Türkei. In der asiatisch-pazifischen
Region ist mit 210000 Mann die stärkste überseeische Streitkräftegruppierung
stationiert, von der mit 76 000 in Japan und Südkorea ein Armeestab, ein
Korpsstab, eine Marineinfanterie-, eine Infanteriedivision und fünf Kampfgeschwader
untergebracht sind. Im Nahen Osten (Bereich des Zentralkommandos) erreicht die
Personalstärke der amerikanischen Verbände unter Einbeziehung der
5. Flotte 28000 Mann. Die USA unterhalten in allen Bündnis- und Vertragsländern
Verbindungsgruppen, Militärmissionen, Wartungs- und Bedienungseinheiten
für wichtige Anlagen und Einrichtungen, die operativ für die US-Streitkräfte
vorbereitet wurden und ständig unterhalten werden.
In den Ländern
Lateinamerikas nehmen jährlich etwa 50 000 Angehörige der US-Streitkräfte
an gemeinsamen Erprobungs-, Kommando-, Stabs-, Truppenübungen und Manövern
teil. Die ständige Dislozierung und Aufgabenerfüllung in Diensthabenden
Systemen und Gefechtsdiensten außerhalb des kontinentalen Teils der USA
betrifft ohne Flottenkräfte 14 Prozent (190000) oder mit Flottenkräften
26 Prozent (352 000) des gegenwärtigen Friedensbestandes der Streitkräfte
der USA (1 365 000), 30 Prozent (vier von 13) der Divisionen der ständigen
Gefechtsbereitschaft und 39 Prozent (neun von 23) der Einsatzgeschwader der
Luftwaffe.
Waffenentwicklung
in den USA
Die USA entwickeln auf der Grundlage der neuesten Errungenschaften der Informatik,
der Kommunikations-,Computer- sowie kosmischen Aufklärungstechnik neueste
konventionelle Waffen. Mit ihnen können sie, wie der Jugoslawien-Krieg
zeigt, die Infrastruktur eines auf sich gestellten Landes zerstören, ohne
mit den gegnerischen Großwaffensystemen, sofern sie noch Veteranen längst
verflossener Jahrzehnte sind, in Duellsituationen zu treten und selbst nennenswerte
Verluste erleiden zu müssen.
Die Russen
sind den Amerikanern z. B. in der Entwicklung gepanzerter Gefechtsfahrzeuge,
von Abfang-, Jagd- und Schlachtflugzeugen sowie Fla-Raketen-Systemen überlegen.
Pilotexemplare neuer intelligenter Munitionsarten können nicht nur die
Amerikaner herstellen. Aber kein Land vermag das bisher in einer derartigen
Massenproduktion und mit einer derartigen Integration der neuen Waffen- und
Munitionsarten in die gemeinsam arbeitenden Systeme und Netze der Aufklärung,
Information, Navigation, Leitung, Führung und Sicherstellung der Teile
und Gattungen der Streitkräfte wie die US-Amerikaner. Das ist der Rahmen,
der auch konventionelle Waffen zu Mitteln der Abschreckung macht. Die Amerikaner
unternehmen Anstrengungen, um das System der Systeme zu schaffen, das diese
Integration und Vernetzung global ermöglicht. Erste Versuche der Erprobung
dieses Systems laufen im Pazifikkommando. Bis zu seiner Einsatzbereitschaft
werden noch Jahre vergehen.
In den Räumen
der Land-, Luft-, Luftabwehr- und Seegefechte sahen die US-Amerikaner lange
nicht die wichtigsten Sphären militärischer Praxis. Die im Jugoslawienkrieg
gewonnenen Erkenntnisse haben nicht alle Enthusiasten auf den Boden der Tatsachen
zurückgeholt. Trends und Tatsachen aber sind genauer zu unterscheiden.
Sonst erliegt man leicht den Bluffs und sattsam bekannten Seifenblasen.
Moderne
Präzisionswaffen lösen das Problem der dauerhaften Festigung der mit
ihnen erreichten Erfolge nicht. Man braucht dafür Truppen. Auch radar-
und lasergesteuerte Waffen können vom Ziel abweichen. Es gibt keine perfekten
Luftangriffe aus 4000 bis 5000 Meter Höhe. Luftstreitkräfte und Präzisionswaffen
sind den Beweis schuldig geblieben, eine manövrierende Armee bis zu ihrer
Gefechtsunfähigkeit bekämpfen zu können und sich dadurch für
die begrenzte Kriegführung besonders zu eignen. Wenn die Aufklärung
der Ziele aus großer Entfernung erfolgt, ist ein Zeitverzug bis zum Angriff
auf das Zielobjekt mit allen sich daraus ergebenden Folgen nicht
zu verhindern.
Auch Satellitenzielortung
und Satellitenwaffenlenkung sind keine Erfolgsgewähr, wenn Truppenführungsorgane
technisch nicht in das Führungsnetz eingeordnet sind. Distanzfeuer ist
keine Alternative zur Feuertätigkeit in der Gefechtsordnung der Truppen,
im besten Falle ihre Ergänzung. Aus den Gefechtsordnungen muß die
unmittelbare Leitung der Flüge der Schlachtflugzeuge erfolgen, besonders
bei schlechtem Wetter, sich dynamisch verändernden Lagebedingungen und
stark durchschnittenem Gelände. Zur Krise im militärstrategischen
Denken ist offensichtlich die in der operativen Kunst und Taktik getreten, die
der unsachgemäße Umgang mit den Gefechtseigenschaften und Einsatzgrundsätzen
kampfkraftbestimmender Waffen bewirkt hat. Aus ihr gibt es für die Amerikaner
kaum Auswege. Denn sie nehmen für sich selbst die höchsten Maßstäbe
der Humanität in Anspruch und billigen dem Gegner die niedrigsten zu, ihnen
liegt die »unbequeme« Kampfführung nicht, die auch ans eigene
Leben gehen kann.
Der kürzeste
Weg zum Öl
Die USA und ihre Verbündeten behaupten, nach den mörderischen Anschlägen
vom 11. September ihre Teilnahme am ihnen aufgezwungenen Krieg des 21.Jahrhunderts
vorbereiten zu müssen. Dabei sind sie nach dem Kalten Krieg den Kriegszustand
eigentlich nie so recht losgeworden. Ständig hatten sie mit militärischer
Gewalt gemaßregelt und blutig bestraft, um so ihre Interessen durchzusetzen.
Mit dem Erfolg im Kalten Krieg legten sie den kürzesten Weg zu den natürlichen
Energieträgern frei. Ohne Rohöl hat ihre Welt von heute keine Perspektive.
Im letzten Jahrzehnt gelang es ihnen, unter dem Deckmantel des Kampfes für
Menschenrechte ein US-Divisionsäquivalent im Nahen Osten und gemeinsam
mit ihren europäischen Verbündeten zwei Korpsäquivalente auf
dem Balkan vorzuentfalten. Der Hauptweg des kaspischen Erdöls nach Westeuropa
und in die USA ist jetzt sicherer als vorher.
Nun folgt als nächster Schritt, militärisches Potential der USA und der NATO in die nächste Nähe oder unmittelbar in erdöl- und erdgasfündige Regionen zu bringen. Damit wird in diesen Regionen auch dem wachsenden Widerstand gegen die Washingtoner Weltordnung begegnet. Die Qualifizierung der mörderischen Anschläge vom 11. September als Kriegsentfesselung wird die NATO-Länder, darunter Deutschland, zu scharfer Konfrontation gegen alle Staaten zwingen, die nicht bereit sind, sich dieser Politik bedingungslos zu unterwerfen. Dies wird seinen besonderen Ausdruck in zwei von ihnen mitzugestaltenden Komponenten finden: In operativ-strategischen und operativ-taktischen Spezialhandlungen und in operativ-strategischen und operativ-taktischen
Gefechtshandlungen.
Systematische Spezialhandlungen in nationaler Verantwortung oder mit Koalitionscharakter
haben ihre hohe Effektivität im Kalten Krieg unter Beweis gestellt. Sie
und nicht heiße Waffengänge fällten den Realsozialismus in Europa.
Sie wurden unter Verwendung ideologisch-religiöser, politisch-diplomatischer,
ökonomischer und nur zum Teil militärischer Einsatzweisen und vorwiegend
nichtmilitärischer Instrumente durchgeführt. Ihre Wirksamkeit war
um so stärker, als die Militärtheorie und -praxis ihre Grundlagen
übersah und dadurch keine Kenntnisse gewinnen und Erfahrungen für
ihre Abwehr sammeln konnte. So erwiesen sich gut ausgebildete und treue Soldaten
als nutzlos, als ihre Staaten unter der gezielten und geschickten Einwirkung
des Gegners wankten und von der geschichtlichen Bühne abtreten mußten.
Aufmarschplan
Militärische Vergeltungshandlungen, -schläge, -schlachten und -operationen
mit hoher Intensität können die US-Streitkräfte aus praktischen
Gründen gleichzeitig nur auf einem Schauplatz durchführen. Es hat
den Anschein, daß der erste Schauplatz des militärischen Gerichts
der afghanische sein wird. Auf dem Territorium des »Islamischen Emirats
Afghanistan«, das nur noch ein Staat anerkennt (Pakistan), kann man sich
ungezwungener und mit großem Abschreckungseffekt gegen andere austoben
als in einem weltweit anerkannten Staat. Gegen Afghanistan könnten auf
der Grundlage der Analyse der militär-politischen Lage folgende Handlungsvarianten
zur Anwendung kommen, hier aufgelistet in der Reihenfolge des wachsenden Kräfte-
und Mittelbedarfs und des Zeitaufwandes für ihre Vorbereitung:
selektive
Kernwaffenschläge auf Dislozierungspunkte und
räume
der Terroristen,
Feuerschläge
auf Punktziele, kombiniert mit Spezialoperationen zur Ergreifung oder Vernichtung
der Führungskerne der Terrororganisationen,
Luftoperation
mit begrenzter Zielstellung ohne Kernwaffeneinsatz,
großmaßstäbige
Operation aller Teilstreitkräfte zur vollständigen Zerschlagung der
Terrororganisationen und der Taliban sowie Entfaltung eines militärischen
Kontrollregimes,
Kombination
der Varianten.
Wenn die
Terroristen im Besitz von ABC-Waffen sind, ist der Einsatz kleinkalibriger Kernwaffen
zu Beginn oder im Verlaufe des militärischen Einsatzes nicht auszuschließen.
Politisch ist diese Variante unwahrscheinlich. Der Antiamerikanismus würde
einen neuen Höhepunkt erreichen.
Spezialoperationen
haben die größten Erfolgsaussichten. Die USA haben dafür 45000
Armeeangehörige allseitig vorbereitet. Im Einsatzfall könnten sie
von zwei Luftlandedivisionen des 18. US-Armeekorps unterstützt werden.
Auf den Operationsverlauf aber könnten sich nachteilig die auf 600 bis
700 Kilometer begrenzten taktischen Aktionsradien der taktischen Fliegerkräfte
auswirken, die ein wichtiger Bestandteil solcher Operationen sind. Spezialoperationen
können die terroristische Basis nicht umfassend sprengen.
Die selbständige
Luftoperation ist die Vorzugsform des Streitkräfteeinsatzes der USA im
letzten Jahrzehnt. Zur Verhütung unvertretbarer eigener Verluste werden
Erdtruppen nicht in Gefechte verwickelt oder erst nach entscheidender Schwächung
des Gegners durch Luftschläge. Für sie spricht die äußerst
geringe Luftabwehrfähigkeit der Terroristen und der Taliban. Massierte
Anflüge haben sich aber gegen einen schwachen Gegner als wenig effektiv
erwiesen. In Afghanistan gibt es im Gegensatz zu Jugoslawien keine Schlüsselobjekte,
mit deren Zerstörung staatliche und gesellschaftliche Notstände ausgelöst
werden können.
In der zuverlässigen
Aufklärung von Schlagobjekten haben die Amerikaner ihre Schwierigkeiten.
Bei der Operation »Wüstenfuchs« im Golfkrieg gegen den Irak
verfehlten sie 57 Prozent der zur Bekämpfung vorgesehenen Objekte. Das
Hauptproblem aber wird darin bestehen, geeignete Einsatzflugplätze für
die taktischen Fliegerkräfte zu finden. Die am Persischen Golf nutzbaren
sind zu weit von den zentralen Räumen Afghanistans entfernt. Sie müßten
bei ihren Anflügen in der Luft nachtanken. Die Effektivität des Einsatzes
wird das nachteilig beeinflussen. Strategische Bombenflugzeuge und seegestützte
Flügelraketen allein können nicht mit der erforderlichen Schlagintensität
handeln. Selbst wenn die kritischsten Elemente für die Durchführung
der Luftoperation eine Lösung finden, können mit ihr nicht alle Nester
der Terroristen ausgeschaltet werden. Diese drei Varianten wären geeignet,
die Forderung der amerikanischen Öffentlichkeit nach schneller und gnadenloser
Vergeltung in der nächsten Zeit zu erfüllen.
Eine vollständige
Lösung des Problems, von dem in den amerikanischen Führungskreisen
ausgegangen wird, könnte nur eine großmaßstäbige Operation
aller Teilstreitkräfte bringen. Die UdSSR konnte die Aufgabe der Kontrolle
des Territoriums Afghanistans und der Verhinderung des Zuflusses von Widerstandskräften
von außen nicht lösen. Ihr Kräfteansatz war mit drei MotSchützendivisionen
undeiner Luftlandedivision sowie wenigen hundert Kampfflugzeugen in insgesamt
sechs Kampfgeschwadern zu gering. Ausgehend von diesen Erfahrungen könnte
die Gesamtgruppierung der Streitkräfte der USA und der NATOumfassen:
10
bis 15 Divisionen,
bis
zu 2000 Kampfflugzeuge,
etwa
100 strategische Bombenflugzeuge mit Flügelraketen,
5
bis 10 Flugzeugträger,
einige
Dutzend Mehrzwecke-U-Boote mit Flügelraketen,
Hunderte
von Kampfschiffen der Hauptklassen.
Vom Zeitpunkt
der Auslösung der Entfaltung dieser Gruppierung mit allen erforderlichen
materiellen Mitteln für die großmaßstäbige Operations-,
Boden- und Küsteneinrichtungen könnten die erforderlichen Seestreitkräfte
die Seegebiete ihrer operativen Bestimmung in einem Monat erreicht haben. In
anderthalb bis zwei Monaten könnten die Koalitionsgruppierungen der Luftstreitkräfte
überführt und entfaltet sein.
Am längsten
würde die Verlegung der Kampftechnik der Landstreitkräfte im Schiffstransport
dauern, etwa fünf bis sechs Monate. Die für Handlungen geringeren
Maßstabes früher bereitgestellten Truppen, Kräfte und Mittel
fänden Aufnahme in der operativ-strategischen Gruppierung. Eine gemeinsame
Operation der Land-, Luft- und Seestreitkräfte könnte folglich frühestens
im März/April 2002 beginnen. Ein solcher möglicher Kräfteansatz
und eine derartige Struktur der Handlungen könnte die Teilnahme der Bundeswehr
nicht auf die wenigen hundert Spezialisten des Kommandos der Spezialkräfte
beschränken.
Fünf
Jahre und länger
Auf diese Weise hätten die USA die Fronten der Zukunft eindeutig dimensioniert.
Die Dauer des wie angekündigt länger währenden antiterroristischen
Feldzuges wird von der Anzahl der Länder bestimmt werden, die nacheinander
militärischen Gewaltoperationen ausgesetzt werden sollen. Jede davon wird
mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen. Neben Afghanistan gibt es aus US-amerikanischer
Sicht wenigstens noch drei große »Schurken«. Der Feldzug gegen
den internationalen Terrorismus in konzentrierter militärischer Form könnte
demnach fünf und mehr Jahre dauern.
Nach dem vor zehn Jahren entschiedenen Kampf der beiden Supermächte geht die Megamacht mit ihren alten und neuen NATO-Verbündeten zum Krieg gegen viele Völker und Staaten über. Diese werden die Kriege unter- und gegeneinander tunlichst unterlassen. Sie werden sich der westlichen Zivilisation entgegenzustemmen haben, die vorerst gegen die islamische vorgehen wird, wie unsinnig und verantwortungslos das auch ist und wie leidenschaftlich das auch bestritten wird.