USA 1996 Regie: James Ivory,
Buch: Ruth Prawer Jhabvala,
Musik: Richard Robbins,
Kamera: Tony Pierce-Roberts,
Schnitt: Andrew Marcus,
Darsteller: Anthony Hopkins (Pablo Picasso), Natascha McElhone (Francoise), Julianne Moore (Dora Maar), Joss Ackland (Henri Matisse), Peter Eyre (Sabartes), Jane Laptotaire (Olga Picasso), Joseph Maher (Kahnweiler), Bob Peck (Franãoise's Vater), Diane Venora (Jacqueline Roque), Joan Plowright (Francoise's Großmutter), Susannah Harker, Dennis Boutsikaros, Peter Gerety Kinostart: 3/1/1997
1943 lernt Pablo Picasso in Paris die junge Kunststudentin Francoise kennen. Aus einer Zufallsbegegnung entwickelt sich eine intensive und leidenschaftliche Beziehung zwischen der dreiundzwanzigjährigen und dem Maler, der schon über sechzig ist. Picasso ist ihr Liebhaber, ihr Freund und ihre künstlerische Inspiration. Francoise ist fasziniert von diesem Mann. Aber im Gegenzug erwartet Picasso von ihr bedingungslose Unterwerfung; Gefühle der Zuniegung, Verehrung und Liebe nützt er rücksichtslos aus. Nach einem über zehn Jahre währenden Wechselbad der Gefühle reift in Francoise der Entschluß, Picasso zu verlassen, denn seine ständige Untreue und sein herrschsüchtiger Charakter drohen sie zu zerbrechen. Mit ihren zwei kleinen Kindern Paloma und Claude baut sie sich in Paris ein neues Leben als Malerin auf. Sie ist die einzige Frau, die es je geschafft hat, Picasso zu verlassen. (Verleihprogramm)
Wie im Märchen geht es zu in diesem Film: Die Großmütter warnen ihre Enkelinnen vor den wölfischen alten Männern, und sogar die Ungeheuer geben Gefahrenhinweise. Sie möge sich in acht nehmen, denn sie betrete nun das Reich des Minotaurus, der jeden Tag zwei Jungfrauen verzehre, sagt Picasso zu seiner künftigen Geliebten Françoise Gilot, als sie ihn 1943 erstmals in seinem Atelier besucht. Aber das nützt alles nichts. Eine naseweise, schöne Enkelin, die dreiundzwanzig ist und Malerin werden möchte, will lieber Abenteuer erleben als heimzugehen.
Françoise ist, das weiß sie, nicht die erste Frau in Picassos Leben. Vor ihr waren "hunderte, tausende", und sie ist nicht die letzte. Nach gut zehn Jahren kündigt sie die Lebensgemeinschaft mit dem vierzig Jahre Älteren auf; mit zwei kleinen Kindern, Claude und Paloma. Die einzige Frau, so will uns James Ivorys Mein Mann Picasso weismachen, die je den Künstler verlassen habe. Picasso, das ist für Ivory ein dauerkreativer Verführer, vergnügungssüchtig, eingebildet, geizig. Ein Mann, der die Psyche seiner Frauen zerstört, sie aber dann wenigstens zum Psychoanalytiker schickt.
Anthony Hopkins spielt Picasso mit sichtbarem Genuß, lieber sieht man aber Natascha McElhone zu, in der Rolle der Großbürgertochter Gilot. Sie ist der Lichtblick in diesem sonst sehr mediokren Drama. Was soll einen hier fesseln? Die rüde eingesetzten Rückblenden? Die kleinen Episoden aus Picassos (Liebes-)Leben? Die pädagogische Erzählung aus dem Off, das ständige "Er sagte..." und "Er malte..."?
Authentizität darf man hier nicht erwarten. Die Erinnerungen Gilots durften nicht verwendet werden (man behalf sich stattdessen mit Arianna Stassinopoulos' Buch über Picassos Frauen). Die originalen Gemälde, die Zeichnungen, die Skulpturen Picassos mußten nachempfunden werden. Originalgetreu sind nur die Gemälde von Henri Matisse und Georges Braque. Dürftig für eine Monographie, die doch so sehr vom Leben erzählen will. Dafür gibt es Auftritte gedemütigter Ex- und Nebenfrauen und natürlich all die alten Anekdoten, etwa die von Picassos Privatsekretär, der in einer winzigen Wohnung hausen und noch die Zugfahrkarte (III. Klasse) selbst bezahlen mußte, wenn er den Meister im Süden besuchte.
Geht es nach dem Originaltitel des Films - Surviving Picasso, also "Picasso überleben" - dann ist die ganze Arbeit des Ivory-Teams umsonst gewesen. Man sieht zwar, wie sich die noch junge Françoise von ihrem Geliebten entfernt und ihn schließlich verläßt. Von ihr, ihren Empfindungen, ihrer Arbeit, ihrer Geschichte ist in diesem Film aber am allerwenigsten die Rede. In Ivorys Rückschau beherrscht Picasso vollkommen das Bild. Françoise Gilots Biographie hat den Maler nicht überlebt. Wenigstens nicht bei James Ivory. (Robert Weixelbaumer, DIE PRESSE)
CAN 1996 Regie: David Cronenberg,
Buch: David Cronenberg,
Musik: Howard Shore,
Kamera: Peter Suschitzky,
Schnitt: Ronald Sanders,
Darsteller: James Spader (James Ballard), Holly Hunter (Helen Remington), Elias Koteas (Vaughan), Deborah Unger (Catherine Ballard), Rosanna Arquette (Gabrielle), Peter MacNeil (Colin Seagrave) Kinostart: 3/1/1997
(...) Seine und des Autoren artifiziell entwickelte These, daß Opfer traumatischer Autounfälle eine pervers-sexuelle Stimulierung erführen (Mensch-Maschine-Erotik), ist hier so hanebüchen makaber und oft unfreiwillig komisch vorgeführt, daß man sich oft in fassungsloses Gelächter rettet. (Angie Dullinger, AZ, 6.11.96)
Mit Zensurdebatten in England war kürzlich David Cronenbergs neues Melodram "Crash" in den Schlagzeilen. Heute läuft der Film, der bei den Filmfestspielen in Cannes trotz Pornographie-Vorwürfen den "Spezialpreis der Jury" erhalten hat, regulär in Österreich an: Die unumgängliche, beklemmende Exkursion in ein Schattenreich erotischer Wiederholungstäter ist nicht zuletzt eine intelligente Antwort auf Hollywoods "Verhängnisvolle Affären".
Körper, die sich aus kunstvollen Fesseln befreien; lustvoll gepeinigte schöne Menschen; fatale Obsessionen, Fetische in raffinierter Ausleuchtung. Die erste Assoziation, die David Cronenbergs Crash beim Betrachter hervorruft, sind Erinnerungen an unzählige Verhängnisvolle Affären, die uns das amerikanische Studiokino zuletzt einträglich verkauft hat.
Ob Michael Douglas mit Glenn Close den Seitensprung wagte, der mörderischen Sharon Stone verfiel oder kurzfristig in Fataler Begierde seiner Vorgesetzten Demi Moore (die kurz vorher von Robert Redford ein Unmoralisches Angebot erhalten hatte): Dieselbe emotionale Erfrorenheit, die in diesen Hochglanz-Reißern heiße Erotik mehr herbeisehnte und simulierte als wirklich auslebte, beherrscht auch die Protagonisten von Crash. Gleich zu Beginn bearbeitet der Werbefilmproduzent James Ballard (James Spader) recht routiniert eine Mitarbeiterin auf seinem Metallschreibtisch. Seine Frau (Deborah Unger) zeigt unterdessen in einem Flugzeughangar Reizwäsche und mehr.
Beide hoffen später, daß "das nächste Mal" den rettenden Orgasmus bringen wird, während sich auf Straßen vor ihrem Appartment Autokolonnen durch die vorabendliche Großstadt wälzen. Zwei allein vor (und nach) dem Verkehrschaos: Es ist dies ein sarkastischer Ausblick auf jene Beschleunigungen und Kollisionen, die in Crash Aggregatzustände einer unkontrollierbaren Einsamkeit werden. Eines Schweigens, das noch die fürchterlichste Wunde bzw. den schlimmsten Kratzer im Lack als Ersatz für Nähe und Berührung stilisiert.
Eine kleine verschworene Sekte stellt in einem abgelegenen Waldstück den tödlichen Unfall von James Dean nach. Massenkollisionen auf der Autobahn werden Exkursionsziele für mehr als eigenwillige Aktfotografen. Leben und Liebe auf der wortwörtlichen Überholspur zeitigen aber wieder nur dieselbe verzweifelte Hoffnung auf "das nächste Mal – vielleicht".
Absurd? Kaum mehr als die zwanghaften erotischen Eskapaden von Herrn Douglas und Frau Moore. Und wenn Crash auf einem Roman von J.G. Ballard aus den frühen 70ern basiert, dann wurde dieser von den Gruppen-Phantasien der 90er, die gegenwärtig TV-Erotikmagazine (Peep!) präsentieren, längst eingeholt.
Absurd im Sinne etwa der Beckettschen Weltentwürfe ist David Cronenbergs Film aber sehr wohl. Schon das Warten auf Godot wurde mit sadomasochistischen Wiederholungstaten erleichtert, und Crash ist in vieler Hinsicht nichts anderes als eine brachiale Variante des existentialistischen Mythos von Sisyphos. Wo Hollywood seine Verirrten und Beschädigten immer noch in eine Moral von einer wie auch immer blöden Geschichte – Anständigkeit, Treue, Karriere – rettet, verweigert Cronenberg jede erlösende Sinnstiftung.
So wie Wladimir und Estragon früher die immer gleichen Hoffnungen mit mäßig abgewandelten Kurzsätzen überspielten, windet sich in Crash die Körpersprache in hechelnder Wiederholung. Daß der Film darüber zum Skandalon werden konnte, spricht zuallererst Bände über eine Doppelmoral, die sonst jede Nacktheit vermarkten läßt, solange nur die konventionelle Form gewahrt bleibt. Wenn etwa in England ein generelles Aufführungsverbot wegen Pornographie diskutiert wird (und daneben überall munter beklagt wird, wie "kalt" der Film sei!), dann stellt sich doch auch die Frage, worin wohl die Warmherzigkeit einer Duschszene mit Sharon Stone liegen mag.
Naturgemäß in einem konventionellen Davor und einem geläuterten Danach. Es sind also in erster Linie verlogene Kausalitäten, die Cronenbergs Kollisionskurs in Brüche gehen läßt. Es sind konventionelle Floskeln über "Spannung", "Entblößung", "Entäußerung", die er zerlegt. Und die eigentliche Frage ist, ob er dabei mit Stars wie Spader oder Holly Hunter in erlesenen Bildern (die bevorzugt nackte Damenhaut zeigen) konsequent genug vorgeht.
Tatsächlich wurden in unzähligen Maschinentheatern, Stahlskulpturen, Installationen, Experimentalfilmen und Videos ähnliche Motive radikaler variiert. Crash ist jedoch eines der ersten Werke, das die dort gewonnenen Einsichten ins Zentrum des spektakulären Kinos transportiert. Ein unabdingbarer Schritt in die breite Öffentlichkeit, der kaum rückgängig gemacht werden kann, zum Heil des sogenannten Großen Kinos, seiner Melodramen und Gefühlswelten. (Claus Philipp DER STANDARD vom 3. 1.1997)
Zwei Männer im Auto. Dazu eine Frau. James (James Spader) sitzt am Steuer, Vaughan (Elias Koteas) liegt mit Catherine (Deborah Unger) auf der Rückbank. Der Wagen fährt in eine Waschanlage. Man hört das Kratzen, Saugen und Schlürfen der Bürsten auf dem Blech. Vaughan und Catherine haben sich ausgezogen. James stellt seinen Rückspiegel ein, um den beiden zuschauen zu können. Wasser prasselt auf die Scheiben. Das Paar beginnt zu stöhnen. Die Bürsten sausen über den glatten Lack. Eine triefende, naß glänzende Hand zuckt von hinten über die Sitzlehnen. Der Fahrer starrt. Die Bürsten brüllen. Die Rückbank schreit. Crash heißt dieser Film. Jetzt weiß man, warum.
Eigentlich müßte der kanadische Regisseur David Cronenberg , geboren 1943, längst ein Klassiker des zeitgenössischen Kinos sein. Seit über zwanzig Jahren verfolgt er mit nie erlahmender Energie ein filmisches Projekt, das man in drei Worten zusammenfassen kann: Mutation, Deformation, Transformation. "Der Mensch ist etwas, das überwunden werden will", verkündete Friedrich Nietzsche. Viele fürchten diesen Satz. Cronenberg glaubt daran. Er zeigt menschliche Körper als Parasitenherde ("Die Brut"), fleischgewordene Videorecorder ("Videodrome") und telepathische Killerautomaten ("Scanners"). Er erzählt von Insektenmenschen ("Die Fliege"), komplementär gestrickten Zwillingen, die ohne einander nicht leben können ("Die Unzertrennlichen"), und Männern mit der düsteren Gabe des zweiten Gesichts ("Dead Zone"). Er ergründet literarische ("Naked Lunch") und sexuelle Aberrationen ("M. Butterfly"). Er entwirft Parallelwelten, in denen die Materie zur Maske des Unwirklichen wird. "Es lebe das neue Fleisch!" ruft die Hauptfigur in "Scanners", und Cronenberg, dessen Bilder schon immer auf der Höhe seiner Ideen waren, demonstriert von Mal zu Mal, von Film zu Film virtuoser und effizienter, wie dieses Fleisch aussehen könnte.
Cronenbergs Welt ist kein Budenzauber. Sie ist der Zwilling unseres Alltags. Die Visionen des Kanadiers liegen am Rand des technisch und menschlich Machbaren. Morgen wird dieser Rand überschritten sein. Cronenberg ist ein Realist der Zukunft - und der Schauder, den seine Filme auslösen, bloß ein Vorgefühl dessen, was uns erwartet. Kann sein, daß es noch schlimmer kommt.
Trotz alledem ist David Cronenberg ein Regisseur der kleinen Kino-Kollektive geblieben, ein Mann der Happy-few. Der Heiligenschein des Kultfilmers hat ihn sowenig gestreift wie die Aura des kommerziellen Erfolgs. Das liegt nicht an der Borniertheit des Publikums, sondern an Cronenberg selbst. Denn der Prophet der technologischen Verwandlung des Menschengeschlechts betrachtet die Abenteuer seiner Filmfiguren mit einer Ungerührtheit, die ans Unmenschliche grenzt. Für die Zuckungen des Innenlebens, für die Leiden der Kreatur hat Cronenberg, dessen Kamera-Auge sonst jedes Zittern der Epidermis gierig einsaugt, kein Organ. Sein Blick bleibt kalt. Zu kalt für Hollywood - zu kalt aber auch für ein Kino, das seine Menschenbilder jenseits der industriellen Stereotypen sucht. Im gewohnten Gefüge von Autorenund Industriefilmern hat Cronenberg keinen Platz. Seine Handschrift, wenn es sie gibt, steckt gerade in der unpersönlichen Glätte, mit der seine Visionen über die Leinwand laufen. Seine Phantasie ist eine Industrie für sich.
"Crash", Cronenbergs zwölfter Spielfilm, ist die Geschichte eines Frontalzusammenstoßes. James Ballard kramt in seinem Auto nach Nacktphotos, während er mit der linken Hand das Lenkrad hält. Sein Wagen gerät auf die Gegenfahrbahn, es kracht, ein Körper fliegt durch Ballards Windschutzscheibe. Gegenüber, im anderen Auto, sitzt eine Frau (Holly Hunter) und starrt Ballard an. Dann entblößt sie ihre Brust. Blut und Hirn ihres getöteten Beifahrers tropfen auf Ballards Sitz, während er auf den Körper der Frau stiert. Es ist, als hätte die vernichtende Energie des "crash" eine Kettenreaktion entfesselt, von der nicht nur die Hüllen der Fahrzeuge, sondern auch die Seelen ihrer Insassen verschlungen werden.
Diese Entfesselung ist Cronenbergs Thema. Die psychischen Verkleidungen und Armaturen, welche die Individuen für gewöhnlich davon abhalten, ohne Pause übereinander herzufallen, werden in "Crash" ebenso zerschmettert wie die Karosserien der unaufhörlich zusammenkrachenden Autos. Bald sieht man Ballard, der mit seiner Frau Catherine schon lange keine Höhepunkte mehr erlebt, in einer Flughafengarage mit seinem Unfallopfer Helen kopulieren, eingeklemmt zwischen den Polstern und Gestängen seines Wagens, in einer Umarmung schweißtreibendster Art. Dann betritt der finstere Vaughan die Szene, ein Krankenhausphotograph, dessen Freizeitvergnügen darin besteht, die Verkehrstodesarten berühmter Filmschauspieler lebensecht nachzuinszenieren - James Deans Genickbruch auf dem Highway, Jayne Mansfields Enthauptung auf dem Beifahrersitz ihres Autos: "Mein nächstes Projekt." Der blasse, blonde Ballard und seine noch blassere, noch blondere Frau geraten in den Bann dieser "Projekte" und ihres Urhebers. Vaughans schwerer, von Unfallnarben übersäter Körper wird zum Objekt ihrer erotischen Phantasien. Sie träumen von Vergewaltigung, von Wunden, Rissen, zerfetzter Haut. Und sie bekommen sie.
Denn nicht der Verkehr, im sexuellen wie im automobilen Sinn, ist das Ziel des Spiels, von dem "Crash" erzählt, sondern die Verletzung. Das Netz aus Haut und Stoff und Blech, in dem Cronenbergs Figuren gefangen sind, ist so dicht, daß nur noch rohe Gewalt die unterdrückten Triebe aus ihrer Einzelhaft befreien kann. Erst wenn die Oberflächen platzen, bersten, reißen, wenn die Körper sich in Blut und Schweiß verströmen, können die Wünsche heraus. Das Auto, von Technikern erfunden, um die Bewegungsfreiheit des Menschen zu erhöhen, hat seinen Spielraum nur noch mehr eingeengt; es muß zerstört, verbogen, zur Lusthöhle transformiert werden, um seiner Bestimmung wahrhaftig zu entsprechen. Deshalb sind in "Crash" der Unfall und der Geschlechtsakt eins. Hinter beiden steht dieselbe Verschmelzungsphantasie: Körper zu Körper, Blech zu Blech. Als Vaughan mit Catherine flirten will, rammt er ihren Wagen. Vielleicht steckt die Wahrheit über den modernen Geschwindigkeitsrausch ja nicht im Tempo, sondern in der Sehnsucht nach dem Aufprall.
"Crash", der Film, ist eine irritierende Mischung aus Tagtraum und Pamphlet, Obszönität und Spielerei, Intelligenz und Stumpfsinn. Schon nach zehn Minuten, nach dem ersten "crash", hat man begriffen, worauf Cronenberg hinauswill. Was bleibt, sind Variationen des Immergleichen: Unfälle und Paare, Sex und Metall. Das Drama dieses Konzeptfilms ist, daß er keins hat. Der manische Einfallsreichtum, mit dem er immer neue Bilder von versehrten, versengten, zerrissenen und kunstreich zusammengeflickten Körpern, von Schrott- und Rennautos anhäuft, ist selbst wie eine Prothese für totes erzählerisches Fleisch. Denn "Crash" ist leider auch ein Buch, ein Roman des englischen Autors James Graham Ballard, dessen Autobiographie "Das Reich der Sonne" Steven Spielberg vor acht Jahren verfilmt hat. Anfang der siebziger Jahre, als Ballards "Crash" im Gefolge von Burgess' "Clockwork Orange" erschien, mag der Roman eine Entdeckung gewesen sein. Heute wirkt seine pornographisch aufgemotzte Zivilisationskritik so verstaubt wie das Underground-Kino jener Zeit. Cronenberg hat dieses Buch nicht ausgeschlachtet, sondern penibel bebildert. Sein Film spielt in Toronto statt in London, doch seine Figuren reden Ballards britisches Blech. Auch so kann man Menschen deformieren.
Am Ende, nach dem letzten Zusammenstoß, liegt das Ehepaar Ballard neben einem Autowrack im Gras. "Bist du verletzt?" - "Ich glaube nicht." - "Vielleicht beim nächsten Mal." Vielleicht in einem Film von Cronenberg. Denn der "crash" ist noch immer sein Projekt. (Andreas Kilb, DIE ZEIT Nr. 45 vom 1. November 1996)
GEH' WOHIN DEIN HERZ DICH TRÄGT (VA DOVE TI PORTA IL CUORE)
I / F / D 1996 Regie: Cristina Comencini,
Buch: Roberta Mazzoni, Cristina Comencini nach Susanna Tamaro,
Musik: Alessio Vlad, Claudio Capponi,
Kamera: Roberta Forza,
Schnitt: Nino Baragli,
Darsteller: Virna Lisi (Oma Olga), Margherita Buy (Junge Olga), Galatea Ranzi (Ilaria), Valentina Chico (Marta), Tcheky Karyo (Ernesto), Massimo Ghini (Augusto), Luigi Diberti (Olgas Vater), Anna Teresa Rossini (Olgas Mutter), Lavinia Guglielman, Valerie Sabel Kinostart: 3/1/1997
Drei Frauengenerationen - Großmutter, Tochter und Enkelin - versuchen, die Spielregeln der Gesellschaft zu ihrer Zeit zu durchbrechen und ein Stück individuelle Freiheit zu erringen. Wie das alles passiert, erzählt das bewegende Brieftagebuch der ältesten Frau. Der mit viel Gefühl verfilmte Bestseller von Susanna Tamaro bekennt sich zur Kraft des Herzens und verborgener Empfindungen. Es dauert aber etwas lange, bis die Geschichte an Tempo gewinnt. (Margret Köhler)
In dem vor ihrem Tod verfaßten Brieftagebuch offenbart Olga ihrer Enkelin Marta ein Geheimnis und durchbricht damit die Lügen und das Schweigen, das nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Tochter ins Unglück gestürzt hatte. Marta wird dadurch von der Last der Vergangenheit befreit und kann ihrem Herzen folgen. (...) Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers, der mit der heimlichen Liebe und der versöhnlichen Generationenveständigung kein Klischee ausläßt, zunehmend sentimental wird und durch überdeutliche musikalische Untermalung und Naturmetaphorik verärgert. (Zoom, 8/96)
Die Geschichte von drei Frauengenerationen - Großmutter Olga, Tochter Ilaria und Enkelin Marta. Olga lebt in einer beengten gutbürgerlichen Welt, aus der sie sich in ein Verhältnis mit dem Kurarzt Ernesto flüchtet. Aus dieser Beziehung geht Ilaria hervor, ein Kind der überschwenglichen sechziger Jahre. Nach dem tragischen Tod Ernestos kann Olga ihrer Tochter nicht mehr ihre ganze Liebe schenken. Ilaria entfernt sich zusehends von ihrer Mutter, und eines Tages kehrt sie schwanger, aber allein aus einem Urlaub zurück. Nach einer Auseinandersetzung offenbart Olga ihr die wahre Identität ihres Vaters. Ilaria ist verzweifelt, rast mit Marta im Auto in ihren Tod. Marta entnimmt schließlich dem Tagebuch der Oma die Wahrheit über ihr Leben und ihre Herkunft, wird dadurch von der Last der Vergangenheit befreit und kann endlich ihrem Herzen folgen. Die Romanvorlage von Susanna Tamaro, die selbst Film studierte, ist in Italien der erfolgreichste Roman seit Der Name der Rose und seit Februar 1995 ohne Unterbrechung auf der deutschen Bestsellerliste. "Um aus einem Buch einen guten Film zu machen, muß man den Mut haben, es absolut neu zu schreiben. Und dafür wäre ich sicherlich nicht die Richtige gewesen. Das ist wie mit einer Köchin, die dieselbe Suppe zum x-ten Male aufwärmt. (...) Es ging darum, aus den gleichen Zutaten ein völlig neues Gericht zu schaffen... Ohne mich einzumischen, habe ich das Drehbuch gelesen und war sogleich von der Qualität dieser Arbeit tief beeindruckt" (Susanna Tamaro). (Katalog Filmfest München 1996)
Millionen von Leserinnen kann man nicht übergehen. Nachdem sie bereits der Romanvorlage der italienischen Autorin Susanna Tamaro zu Bestseller-Status verhalfen, werden sie mit der Verfilmung von Geh, wohin dein Herz dich trägt auch als Kinopublikum anvisiert. Die Geschichte dreier Frauen-Generationen ist als literarisches Vermächtnis angelegt:
Die Großmutter (Virna Lisi), bei der die junge Marta nach dem Tod ihrer Mutter aufgewachsen ist, hinterläßt ihr die Aufzeichnung ihrer Lebensgeschichte. Martas Herkunft, die Wurzeln familiären Unglücks, die Gründe für erbitterte Kämpfe hinter großbürgerlicher Fassade, sollen sich daraus erschließen, und die Möglichkeit, aus Fehlern der Vorfahrinnen zu lernen für eine bessere Zukunft.
Regisseurin Christina Comencini versucht immerhin, sich auf die selten thematisierte Fremdheit zwischen Müttern und Töchtern zu konzentrieren. Daß dies großteils auf das Niveau klischeehafter Lebenshilfe beschränkt bleibt, mag an der Romanvorlage liegen und wird vom glatten, einfallslosen Stil des Films nur betont. (irr, DER STANDARD vom 7/1/1997)
THRILLER, USA 1996 Regie: Ron Howard,
Buch: Richard Price, Alexander Ignon, nach Cyril Hume, Richard Maibaum
Musik: James Horner,
Kamera: Piotr Sobocinski,
Schnitt: Dan Hanley, Mike Hall,
Darsteller: Mel Gibson (Tom Mullen), René Russo (Kate Mullen), Brawley Nolte (Sean Mullen), Gary Sinise (Jimmy Shaker), Delroy Lindo (Agent Lonnie Hawkins), Lili Taylor (Maris Connor), Liev Schreiber (Clark Barnes), Donnie Wahlberg (Cubby Barnes), Evan Handler (Miles Roberts), Nancy Ticotin (Agent Kimba Welch), Michael Gaston (Agent Jack Sickler), Kevin Neil McCready (Agent Paul Rhodes), Paul Guilfoyle (Wallace), Allen bernstein (Bob Stone), Jose Zuniga (David Torres), Dan Hedaya (Jackie Brown), Iraida Polanco, John Oritz, Mike Hodge, Paul Geier Kinostart: 3/1/1997
Multi-Millionär Tom Wheaton erfährt, daß sein Sohn gekidnappt wurde. Gegen den Rat des FBI entschließt sich Tom, das Lösegeld nicht zu bezahlen - zur grenzenlosen Verblüffung seiner Frau. Für die Medien ist dies ein gefundenes Fressen. Aber was hat Tom wirklich vor? (Verleihprogramm)
Anstatt den Kidnappern seines geliebten Sohnen zwei Mio Dollar Lösegeld zu zahlen, setzt der Vater die Summe als Kopfgeld aus, wenn ihm jemand seinen Sohn wiederbringt und die Entführer ans Messer liefert. Seine Verzweiflung schlägt um in Haß auf die Verbrecher. Ein spannender Thriller, bei dem die Grenzen von Gut und Böse verwischen. Intelligente Mainstream-Unterhaltung mit Mel Gibson als Selfmade-Millionär, dessen geordnetes Leben aus den Fugen gerät. (M.K.)
(...) Regisseur Ron Howard stilisiert den Nervenkrieg zwischen allen Beteiligten mit Tempo, dramaturgischer Bravour und feinem psychologischen Gespür zum klassischen Film-noir. Der Zuschauer hat keine Chance, diesem aufregenden Wechselbad der Gefühle zu entkommen. (Angie Dullinger, AZ, 2.1.97)
Einer wird bezahlen lautet der deutsche Untertitel zum neuen Film mit Mel Gibson, Kopfgeld. Bezahlt haben schon viele, weshalb der Entführungsthriller sich mit über 100 Millionen Dollar Einspielergebnis nach bislang sechs Wochen Spielzeit im Dezember noch schnell unter die erfolgreichsten Filme des Kinojahres '96 katapultierte.
Das von Ron Howard (Apollo 13) inszenierte Remake eines 50er-Jahre-Krimis mit Glenn Ford, hat sich die traditionellen Werte und Handlungsmuster jener Dekade bewahrt: Die Kleinfamilie eines Großverdieners (Gibson als Selfmademan und Fluglinieneigner) wird durch die Entführung des Stammhalters brutal aus ihren Society-Aktivitäten gerissen. Während der Sohn von schmuddeligen Gestalten gepeinigt wird, die Mutter (Renee Russo) bangt und das FBI versagt, beschließt der Vater – seinerseits selbst zwielichtiger Drahtzieher einer Bestechungsaffäre – sich nicht länger dem Diktat des Gegners zu unterwerfen, sondern mannhaft den Spieß umzudrehen.
Mit einem ansehnlichen Ensemble (Gary Sinise, Delroy Lindo, Lili Taylor, u.a.) gelingen dem Regisseur auf Basis dieser klassischen Erzählung einige sehr schön ausgeführte Züge wie falsche Fährten um das Mastermind der Entführerbande oder eine finale aktionsreiche Konfrontation zwischen Gut und Böse.
Im Original unter dem Titel Ransom gestartet, verweist die Bedeutungsverschiebung von Löse- zu Kopfgeld auch auf ein entscheidendes Handlungsmoment: In einem höchst symbolischen Akt widmet der Held vor laufenden TV-Kameras die zwei Millionen Dollar, die sein Gegenspieler im Austausch gegen den entführten Sohn verlangt, in eine Prämie auf den Kopf des Bösewichts um. Nach dieser überraschenden Umkehrung der Opfer-Täter-Konstellation bricht jedoch auch in der Dramaturgie ganz massiv jener Blödsinn durch, der ansonsten vor allem in Dialogen blüht – ob nun der mitfühlende FBI-Chefermittler seiner Gattin am Telefon gesteht, er sei "froh, daß wir nicht reich sind!" oder ob Mel Gibson sich zu archaischen Rachephantasien hinreißen läßt ("Dann trage ich ihren Kopf auf einem Pfahl durch die Stadt").
Wenn in einem Film, der bis dahin hauptsächlich auf Suspense und solide Action vertraut, plötzlich der improvisierte psychologische Großangriff erfolgt und die Entführer darob in ohnmächtige Wut und Raserei verfallen, dann wirkt das eher lächerlich. Zumal das Ende ohnehin nur ungebrochen den Triumph des wehrhaften Familienvaters zelebriert. Kopfgeld setzt so letztlich jene einfältige Kinoerfolgsgeschichte fort, in die sich die Indepencence Days von 1996 schon eingeschrieben haben. (I. Reicher, DER STANDARD vom 7/1/1997)