GB USA 1997, 90 Min Regie: Mel Smith,
Buch: Richard Curtis, Robin Driscoll, Rowan Atkinson,
Musik: Howard Godell,
Kamera: Francis Kenny,
Schnitt: Chris Blunden,
Darsteller: Rowan Atkinson (Mr. Bean), Harris Yulin (George Grierson), Peter MacNicol (David Langley), Pamela Reed (Alison Langley), Burt Reynolds (General Newton) Kinostart: 29/8/1997
Zuwachs ist selten im Olymp der großen Filmkomiker, deren unverwechselbare Komik über alle Sprachbarrieren hinaus verstanden wurde. Es scheint, als habe der Nachruhm Keatons und Chaplins, Harold Lloyds und Jacques Tatis deren ohnehin ins Überwirkliche stilisierte Figuren vollends jeder menschlichen Dimension enthoben. Somit mutet es fast als Sakrileg an, die originelleren Komiker unserer Zeit mit ihnen zu vergleichen. Aber ist nicht Jim Carrey doch ein würdiger Nachfolger von Jerry Lewis, dessen comic-hafte, physiognomische Überzeichnung nun die Komik menschlicher Darstellung vollends in die Sphäre des Trickfilms überführt? Und ist nicht Loriots würdevoller Anachronismus mit Tatis Exkursionen in entmenschliche Zukunftsperspektiven zu vergleichen?
Die Figur, die Rowan Atkinson erfunden hat und verkörpert, läßt sich kaum so einfach ableiten. Eher schon muß man eine ganze Ahnengalerie aufbieten, um "Mr. Bean" auf die Spur zu kommen. Schon die knappe Form seiner Fernsehepisoden erinnert an die Ein- und Zweiakter der Stummfilmzeit, er selbst agiert wortlos in ihnen, was die Internationalität seines Erfolgs erklärt. Aber dieses große Kind, das schon die alltäglichsten Lebenssituationen hoffnungslos überfordern, widerspricht radikal jener romantischen Idee poetisierter Kindlichkeit, die Harry Langdon einst personifizierte, und seine Zerstörungswut speist sich nicht aus dem rückhaltlosen Überlebenswillen des jungen Chaplin. Buster Keaton ist er durchaus verwandt im Umgang mit der Tücke der Objekte, doch ist Bean weder ein Artist noch ein visionärer Abenteurer, kein "Navigator" und kein "Sherlock Junior". In seinem Egoismus und seiner Rücksichtslosigkeit steht er den Stars der Hal-Roach-Studios unverkennbar nahe, Charley Chase und natürlich Laurel und Hardy.
Mr. Bean lebt aus der Kombination all dieser Attribute, vor allem aber ihrer Adaption auf die verkleinernden Proportionen des englischen Kleinbürgertums. Und nicht zuletzt aus jener makaberen Schadenfreude, die traditionell mit englischem Humor identifiziert wird. Wenn Mr. Bean nun nach Los Angeles reist, sollte man dies nicht allein aus dem Bemühen seiner Produzenten erklären, die dort noch relativ unbekannte Komikergröße zu etablieren. Dies ist weniger ein Hollywoodfilm als eine kleine britische Filmkomödie, die sich vor allem einen Gegenstand für ihre Schadenfreude vorgenommen hat - und das ist Amerika selbst und das sonderbare Volk, das dort zu Hause ist - die Amerikaner. Als Bilderkurier hat man Bean nach Kalifornien entsandt, vor allem natürlich um den ungeschickten Museumswärter loszuwerden, auch wenn man ihn gegenüber den amerikanischen Kollegen als Koryphäe auf dem Gebiet der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts ausgeben muß. Ist es doch endlich gelungen, das berühmteste Werk eines amerikanischen Malers, Whistlers "Mutter", für ein amerikanisches Museum anzukaufen.
Voller Vorfreude empfängt ihn der dortige Museumskurator Langley, auch wenn seine Familie bald Reißaus nimmt vor dem tölpelhaften Gast: Erlesene Einrichtungsgegenstände gehen zu Bruch, ein von Bean zubereiteter Truthahn explodiert samt Mikrowelle und Küchenmobiliar. Warum sollte es da dem Stolz amerikanischer Kunstgeschichte besser ergehen? In einem kurzen Moment mit dem Gemälde allein gelassen, verwischt Bean versehentlich das Antlitz von Whistlers "Mutter", um es darauf durch eine Bleistiftzeichnung zu ersetzen.Während sein armer Gastgeber um seinen Job fürchtet, entscheidet sich Bean für einen heimlichen Raubzug, ersetzt das zerstörte Bild durch ein auf alt getrimmtes Poster und hält schließlich sogar eine Rede von so vielsagender Unkenntnis, daß ihm insbesondere ein der Kunstwelt feindselig gegenüberstehender Stifter Beifall bekundet - jener amerikanische General, der das Bild aus reinem Patriotismus ankaufte.
Bei der Überführung von Atkinsons Komik in eine abendfüllende Spielfilmdramaturgie stellten sich Probleme, die bereits Chaplin zu lösen hatte. Die an sich schweigsame Bean-Figur mußte im Tonfilm notwendigerweise sprechen lernen, was hier auf ebenso dezente wie überraschende Weise gelingt: Wie spätestens die Museumsrede offenbart, hat Bean nämlich auch dann nichts zu sagen, wenn er wahre Wortkaskaden entwickelt. Die Geschichte selbst aber geht den denkbar primitivsten Weg. Der mit seinem biederen englischen Anzug in Amerika ohnehin deplaziert wirkende Bean wird vom Drehbuch wie ein Außerirdischer behandelt - vergleichbar jenem Fellmonster namens Alf, das im Fernsehen jahrelang eine ganze Familie tyrannisierte. Nun ist es eben Bean, der seiner Gastfamilie zur Plage wird, was der Autonomie seiner Figur, die sich in der ursprünglichen Fernsehserie sehr souverän mit den selbst angezettelten Problemen auseinandersetzte, erheblich schadet und den Charakter bisweilen über Gebühr verniedlicht. Hatte Rowan Atkinson früher einen ganzen Kurzfilm lang Zeit, einer Situation alle komödiantischen Facetten abzuringen, wirken seine komischen Auftritte nun wie Nummern in einer Revue. So bedauerlich dies ist, so gelungen sind doch einzelne Episoden: jene Szene etwa, in der er das beschädigte Gemälde zu retten versucht und es dabei vollends zerstört, ist Bean at his best. So ist dies zwar nach den Regeln der Gattung alles andere als eine große Komödie, aber doch ein partiell hinreißendes Bravourstück eines großen Komödianten. Und eine passable Eintrittskarte in den Komikerolymp. (Daniel Kothenschulte, film-dienst)
Rowan Atkinson, der Mann, dessen Fernseh- Blödeleien sich jenseits von Gut und Böse bewegen, soll Kinostar werden. Bean, der Film - ein wenig gelungener Einfall.
Darf man über Mr. Bean, den britischen Weltabgeordneten des infantilen Humors, lachen? Muß man aus Mr. Bean, nur weil es die erfolgreichste TV-Serie in der Geschichte des englischen Fernsehens ist, einen Kinofilm machen? Die erste Frage darf man ohne schlechtes Gewissen mit "ja" beantworten. Die zweite hätte man auch verneinen können, ohne sich der Richtigkeit des Untertitels von Bean, dem Kinofilm, vergewissern zu müssen: "Der ultimative Katastrophenfilm".
Mr. Bean ist TV-Unterhaltung par excellence: Ein Mann ohne Geschichte und ohne Entwicklung rempelt sich durch eine Welt ohne Veränderungen. Einer, der sich der Tücken des Alltags erwehrt, indem er das ewige Kind spielt und die Dinge am Laufen hält, indem er sie falsch anpackt.
Nicht, daß dieser Mr. Bean im Kino ein wesentlich anderer wäre: Aus notorischer Tolpatschigkeit zerstört der Mann alles, was ihm in den Weg kommt: ein millionenschweres Ölgemälde, eine Karriere, den Frieden einer Familie und die Ruhe eines Police-Officers. Ausgerechnet der linkische Museumswärter Bean nämlich wird von seinem Arbeitgeber, der "Royal National Gallery of England", nach L. A. geschickt, um dort als Kunstexperte den Rückkauf des berühmten amerikanischen Gemäldes "Whistler's Mother" aus Paris zu kuratieren. Die Katastrophe ist angebahnt, es kann aus allen Rohren geblödelt werden.
Aber Mr. Bean wäre nicht Mr. Bean, wenn es ihm mit seinen drei linken Händen und der Sensibilität einer Brechstange im Gebiß eines Zahnarzt-Patienten nicht gelänge, letztlich doch alles noch gerade zu biegen. Ob Mr. Beans Einlagen nun sehr witzig sind oder Dieter-Hallervorden-Niveau haben, ist Geschmackssache. Daß sie allerdings an der Erzählhandlung des Films hängen wie Holzgelenke an einer Stoffpuppe, macht den Film zum albernen Monstrum.
Die Pointe des Films - die katastrophale Entscheidung der Kunstwelt also, Bean in die Nähe von etwas Wertvollem zu lassen - wäre gerade richtig für einen Halbstunden-Bean. Im gegebenen Fall aber kleistert Regisseur Mel Smith lauter "typische" Bean- Situationen an den Rand einer Alibi-Handlung. Zur totalen Katastrophe aber wird der Film in der deutschen Synchronfassung: Daß man Mr. Bean in einem abendfüllenden Spielfilm reden lassen muß, ist schon Handicap genug; die Art, in der seine Stimme synchronisiert wurde, bringt den Komiker um. So etwas ist wirklich bedauerlich; denn, irgendwie gern haben wir ihn doch alle, den Mr. Bean. (Robert Buchschwenter, DIE PRESSE, 28/8/1997)
Filmreif. Das Wort hat einen unappetitlichen Beigeschmack gewonnen. Mr. Bean sprengt nämlich die Enge jener Fernsehkanäle, die ihm seit Jahren heimatliche Eingeweide waren, strampelt sich aus der untersten Lade des Humors frei und erklimmt unter dem fröhlichen Beifall seiner treuen Fans die erdumspannende Kinoleinwand. Und siehe, die Bohne wächst dabei über sich hinaus. Schießt allerdings auch üppig ins Kraut und geht schließlich in die Binsen - ohne dabei nicht einmal deren Weisheit anzunehmen.
Rowan Atkinsons körperbehinderte Komik als von nur irgendeines Gedankens Blässe angekränkelt zu bezeichnen wäre ohnehin lächerlich. Seine Gestik konvulvischer Zuckungen ist die schreiende Körpersprache stumpfsinniger menschlicher Kreatur samt ihren existentiellen Nöten und niedrigen Instinkten. Seine Geistesblitze versprühen nicht einmal den Luxwert der Tranfunzel. Ein ungewaschener Haufen Unglück, der viel weiter als nur zum Himmel stinkt. Der bösartige Tölpel als unreiner, verunreinigter Tor. Rach-, eifer-, miesel-, mager- und schwindsüchtiger Kretin. Ein Mehrfaltspinsel, dessen Schweigen wirklich echten Goldwert hatte. Das wissen wir, weil er jetzt fürs Kino das Sprechen gelernt hat. Das die noch schlechtere Nachricht.
Doch diesmal schickten die stets dem Nächstliegenden (und seien's Hundstrümmerln) verpflichteten Gagschreiber Atkinsons ihren lustigen Gemütskrüppel über den großen Teich: zum bewährten Mentalitätenmatch Engländer gegen Amerikaner. Und gleichzeitig auch in die affektierte Eitelkeitenarena marketingorientierter Hochkultur. Satire und Selbstironie, bei Bean bisher nicht die Bohne vorhanden, bringen in diesem wuchernden Umfeld doch noch wesentlich mehr Lacher auf einen gemeinsamen Nenner.
Als vermeintlicher Kunstexperte aus England, der dem patriotischen Ankauf des berühmten Portraits von Whistlers Mutter aus französischer Schmach mithuldigen soll, muß er natürlich mehr Humorarbeit leisten als bei den üblichen Minimalsketches. Das hat zur Folge, daß er neben der Erfolgsrolle des Elefanten im Porzellanladen dort auch den geprügelten Hund in der Wäschetonne und den Spatz in der Hand abgeben muß. Diese Ankuschelung an den bisher stets verweigerten, notorisch versöhnlich endenden komödiantischen Normalfall bringt dem bisherigen Rabiathumoristen den Aufstieg um mindestens drei Schubladen. Aus gewisser Sicht ein Abstieg. (KURIER)
F 1997. 127 Min Regie: Luc Besson,
Buch: Luc Besson, Robert Mark Kamen, nach einem Roman von Luc Besson,
Musik: Eric Serra,
Kamera: Thierry Arbogast,
Schnitt: Sylvie Landra,
Darsteller: Bruce Willis (Korben Dallas), Gary Oldman (Zorg), Ian Holm (Cornelius), Milla Jovovich (Leeloo), Chris Tucker (Ruby Rhod), Luke Perry (Billy), Brion James (General Munro), Tiny Lister jr. (President Lindberg) Kinostart: 29/8/1997
Ägypten 1913. Unbehelligt von der Neugier der Menschen lagern vier geheimnisvolle Steine seit Jahrtausenden in den Tiefen einer Herrscher-Pyramide. Nur ein Priester kennt die enorme Macht der Steine, die die materialisierten Symbole der vier antiken Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft sind. Zusammen mit einem sagenumwobenen fünften Element besitzen sie die Kraft, die Verkörperung des Bösen, das alle 5000 Jahre durch eine Dimensionenspalte in unser Universum dringt zu besiegen. Als ein Team von Archäologen dem Mysterium der Universellen Macht der vier Steine auf die Spur zu kommen droht, landen außerirdische Mondoshawan auf der Erde und nehmen den langgehüteten Schatz an sich.
New York, 2259. Gefahr droht aus dem All. Ein riesiger, ständig an Größe zunehmender Komet rast auf die Erde zu. Ein Priester namens Vitus Cornelius (Ian Holm), der über die Macht der vier Steine im Zusammenspiel mit dem fünften Element aus der jahrhundertelangen Überlieferung weiß, erzählt Präsident Lindberg (Tiny Lister Jr.) von den Mondoshawan, die zur Einlösung ihres Versprechens, die Erde zu schützen, nun zurückkehren.
Alles deutet darauf hin, daß sich die Pforte zwischen den Dimensionen wieder geöffnet hat. Der Vernichtungsfeldzug des Bösen hat begonnen, denn was sich Terra so bedrohlich nähert, ist nichts anderes als die materialisierte Anti-Energie, das absolut Böse.
Die Mondoshawan sind zwar mit dem rettenden Stein-Paket unterwegs zur Erde, doch kurz vor ihrer Ankunft werden sie von den feindlichen Mangalores angegriffen und vernichtet. Nur eine einzige Hand wird von den ausgesandten irdischen Truppen gefunden und genetisch analysiert. Nach der Dechiffrierung der außerirdischen DNA klonen die Wissenschaftler ein mit übermenschlichen Kräften begabtes Wesen, das die Erde retten soll.
Doch dem wunderschönen Mädchen, genannt Leeloo (Milla Jovovich), gelingt die Flucht. Sie begegnet dem Lufttaxi-Fahrer Korben Dallas (Bruce Willis) einem ehemaligen Angehörigen einer Spezialeinheit des Militärs, der nach einem lebensgefährlichen Einsatz den Dienst quittiert hatte.
Korben bringt Leeloo zu Cornelius, der in dem geheimnisvollen Mädchen sofort die Trägerin des fünften Elements erkennt. Um die Erde retten zu können, müssen allerdings erst noch die vier Steine gefunden werden. Da erzählt Leeloo dem hoffnungsschöpfenden Priester, daß sich diese gar nicht an Bord der Mondoshawan befunden hätten, sondern im Besitz der Diva Plavalaguna (Maiwenn Le Besco) sind. Leefoo, die die berühmte Sängerin kennt, ist entschlossen, zusammen mit Cornelius und Korben, der sich längst in das Mädchen verliebt hat, das Vergnügungsraumschiff Fhloston anzufliegen, wo die Diva sich aufhält.
Daran versucht sie allerdings Zorg (Gary Oldman, Foto) der Abgesandte des Bösen und größte Waffenhändler des Universums, mit all seiner enormen Macht zu hindern. Dennoch gelingt es dem Trio, das Raumschiff nach Fhloston noch rechtzeitig zu erreichen.
Dort angekommen, geraten die Weltenretter mitten in eine riesige Party, in deren Verlauf auch der größte Star der Galaxis, die Diva Plavalaguna, auftreten soll.
Ihre Rechnung haben die drei Helden allerdings ohne ihren Kontrahenten Zorg gemacht. Er ist ihnen mit seiner Bande dicht auf den Fersen. Und weit draußen im All hält der monströse Anti-Materie-Komet weiterhin unbeirrbar Kurs auf Mutter Erde. Der ultimative Showdown zwischen Gut und Böse steht kurz bevor... (Verleihprogramm)
Was dem Deutschen Roland Emmerich sein "Independence Day" (fd 32 118), ist dem Franzosen Luc Besson sein "Fifth Element". Beide Filme verfolgen utopische Sujets, könnten jedoch verschiedener nicht sein. Während Emmerich es mit auftrumpfender Direktheit hält, webt Besson ein fantastisches, dekoratives Geflecht aus kinobekannten Sci-Fi-Rudimenten. Beide Filme münden in superteure Zerstörungsorgien der gewohnten Art, beide geben sich nicht viel mit Story und Logik ab, doch sie scheinen diametral entgegengesetzten kreativen Hemisphären zu entstammen. Bei Emmerichs Film langweilt sich nicht nur allmählich der Verstand, sondern auch das Auge; bei Besson hingegen gibt es so viel zu sehen, daß man kaum zum Nachdenken über die konstruierten Platitüden der "Handlung" kommt.
Versuchen wir dennoch anzudeuten, worum es geht. "Das fünfte Element" beginnt 1914 in einer ägyptischen Grabstätte, wo der Zuschauer mit vier mystischen Steinplatten bekanntgemacht wird. Sie symbolisieren die vier Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser. 300 Jahre später kommt den Steinen lebensrettende Funktion zu. Doch um die schwarze Masse materialisierten Übels abzuwenden, die auf die Erde zurast, bedürfen sie der Verbindung mit dem "fünften Element", welches das Leben schlechthin ist. Nicht nur der Präsident der Föderation, als deren Zentrum ein in die dritte Dimension übersteigertes New-York-Metropolis sichtbar wird, sondern auch der faschistoide Agent des Bösen versuchen den Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen. Das Symbol des Lebens nimmt in einem Frankensteinschen Labor die Gestalt einer jungen Frau an, die sich von ihren Fesseln befreit und auf der Flucht im Lufttaxi eines ehemaligen Elitemajors endet. Der und ein mysteriöser Priester enträtseln schließlich das Geheimnis der Elemente und wenden in letzter Sekunde die Vernichtungskatastrophe ab, nicht ohne daß zuvor die Ferienidylle eines intergalaktischen Kreuzfahrtschiffes nach allen Regeln pyromaner Kinotechnik zerstört worden wäre.
All dies, was man Handlung nennen könnte, wird in winzigen Appetithäppchen verabfolgt und stellt sich im Verlauf der zwei Stunden, die der Film dauert, als gar nicht so wichtig heraus. Man gebe sich auch nicht der Erwartung hin, daß Personen durchgezeichnet oder Handlungsfäden sinnvoll zu Ende gesponnen würden. Luc Besson, dem die Idee zu "Das fünfte Element" angeblich bereits als Halbwüchsiger gekommen ist, angelt sich virtuos an den Markierungspunkten der halbwüchsig gebliebenen Story entlang, um Augen und Ohren des Zuschauers zu unterhalten. Kostüme, Dekors und Effekte sind ihm wichtiger als die Verfolgung der Handlungslinie. Er weiß, daß Science Fiction als Camp-Erlebnis nicht von logischen Zusammenhängen, sondern von möglichst bizarren entwicklungstechnischen und metaphysischen Andeutungen lebt. Die mixt er kräftigt zu einer bunten und lauten, aber fast niemals langweiligen Melange aus Dutzenden von Erinnerungsfetzen filmhistorisch versierter Kinogänger, letztlich moderiert von einer Drag-Queen als eine Art Super-Freak-Show, in die eine blaufarbene galaktische "Diva" sogar ein paar überraschend poetisch-sentimentale Töne einbringen darf. Es gibt keinen Augenblick in "Das fünfte Element", der nicht Zitat, Eloge oder Parodie eines berühmten filmischen Vorgängers ist. Die Hommage auf das Genre wird zum Prinzip erhoben. Und es ist nicht zuletzt das Wiedererkennen, das Bessons Film vergnüglich macht. Von Fritz Langs "Metropolis" und Karl Freunds "The Mummy" über Carpenters "Dark Star" und Roger Vadims "Barbarella" bis zu "Star Wars", "Total Recall" und immer wieder "Blade Runner" - Besson badet in cineastischen Ekstasen.
Es ist eine Frage dessen, was man als Zuschauer erwartet, wenn man heute in einen mit umgerechnet 150 Mio DM produzierten Science-Fiction-Film geht, ob man schließlich zufrieden oder enttäuscht aus dem Kino kommt. Besson vertraut darauf, daß die simplistischen, aber wirkungsvollen Versatzstücke der Filmgeschichte genügend Reiz abgeben, um auch das heutige Publikum zufriedenzustellen, wenn sich der Film bei ihnen nie zu lange aufhält und vor allem nie mit ausgestrecktem Finger auf sie zeigt. Niemand im Parkett läßt sich gern als dumm verhöhnen, wenn er etwas nicht erkennt. Deshalb hält es Besson mit der Verpackung. Ob das auf allen horizontalen und vertikalen Ebenen zu Leben erweckte New York des 23. Jahrhunderts, ob die wie metallische Rieseninsekten daherkommenden Abgesandten ferner Galaxien, ob das gigantomane Dekor futuristischer Vergnügungsreisen oder auch nur all die Kostüme, Frisuren und Schminken - "Das fünfte Element" hüllt jede Szene in eine schillernde Folie unablässig erfindungsreicher Verpackung, die ihn von der Mehrzahl seiner uniformen amerikanischen Konkurrenten jüngster Produktion deutlich unterscheidet. Bessons Film ist französisch in demselben Sinn, in dem die Kreationen Pariser Modeschöpfer französisch sind. Design ist alles! Wem das einen Kinobesuch wert ist, der kommt bei "Das fünfte Element" auch auf seine Kosten. (Franz Everschor, film-dienst)
So ähnlich kennen wir das schon aus der Biographie von Steven Spielberg: Ein kleiner Junge träumt das Kino weiter. Er denkt sich selbst kleine Filme aus. Und wenn er dann ein mächtiger Regisseur ist, kann er nicht anders, als die Drehbücher seiner Kindheit zu realisieren. Heutzutage zeitigt das bekanntlich unzählige, millionenschwere Z-Pictures – infantilen Ramsch mit Dolby-Sensorround.
Luc Besson, seit Subway und Nikita Frankreichs Kinokassenliebling, leidet seit Jahren darunter, daß derart große Gesten ewiger Jugendlicher eigentlich nur in Hollywood möglich sind. Unterstützt von Gaumont und amerikanischen Finanziers durfte er nun mit Das fünfte Element beweisen, daß man in der Alten Welt auch anders kann. Zwar bedarf es erst recht wieder eines US-Stars (Bruce Willis), um international zu reüssieren, aber in Kostümen von Gaultier kommt auch europäische Exzentrik zu ihrem Recht.
Ein abgehalfterter Taxifahrer und eine überirdisch durchtrainierte Replikantin (Milla Jovovich) sollen die Vernichtung der Erde durch extrem gehässige Außerirdische verhindern: Als Teenager wurde Besson zu diesem Plot angeblich nach dem Besuch von Taxi Driver und Bladerunner inspiriert. Er läßt ihn mit Archäologen in der Tradition von Indiana Jones beginnen, spinnt ihn auf intergalaktischen Kreuzfahrten weiter in der Tradition alter Katastrophenfilme, die hier mit opernhafter Gestik Marke Diva kollidieren, um schließlich bei der Suche nach einem "fünften Element" für die Weltenrettung zu enden, das angeblich etwas mit Liebe und Leidenschaft zu tun hat.
Exakt diese beiden Gefühle läßt Bessons Film aber völlig vermissen. Wenn Serge Daney schon über ein Unterwasserabenteuer des Regisseurs, Le Grand Bleu, schrieb, dieses vermittle lediglich werbetaugliche Ideen von "Meer", so läßt sich dies trefflich auf das Kalkül von Das fünfte Element übertragen. Ein einziger großer Ideensalat wird hier serviert. "Action", "Leidenschaft", "Komik", "Zukunft", "Gefühle": All das wirkt in den PR-Trailern bezeichnenderweise besser plaziert als im Film selbst, der in seinem tosenden, gelackten Manierismus völlig kaltläßt.
Wie kann man etwa einen großartigen Komiker wie Lee Evans in der Rolle eines kleinen Pagen dermaßen ohne Pointen verhungern lassen? Inszenatorische Eleganz ist Bessons Sache nicht – Hauptsache, alles, was teuer war, ist im Bild zu sehen. Willis rumpelt denn auch über die Szene, als wäre er selbst ein wenig fassungslos über das, was rund um ihn abläuft. Er muß eine gewisse Sehnsucht nach einem anderen Umgang mit den üblichen Action-Schemata verspürt haben, als er bei Besson unterschrieb. Hier gibt er, ganz originell blondiert, erst recht den Hampelmann. (Claus Philipp, DER STANDARD, 27/8/1997)
«The Fifth Element» oder Im Weltall nichts Neues. Science-fiction verkommt im Kino zum puren High-Tech-Game
«Ich bin ein bescheidener Künstler», sagt Luc Besson von sich, und sein 90-Millionen-Dollar teurer Blockbuster, «The Fifth Element», sei «ein intimer, persönlicher Science-fiction-Film», in welchem «das Gute gegen das Böse kämpft und der Held alle rettet». Viel mehr ist ihm zum Genre nicht eingefallen, seit er sich als einsamer 16jähriger ohne Fernseher und Freunde aus seinem Provinzmief ins All träumte. Klein-Lucs pubertäre Vision eines 23. Jahrhunderts, in dem ein fliegender Taxifahrer Abenteuer erlebt, sollte ursprünglich ein Roman werden. Aber dann wurde Besson Cineast, und so landete die Story denn als teuerste Produktion der französischen Filmgeschichte im Kino.
Alle 5000 Jahre droht dem Universum eine Katastrophe. Nur die Vereinigung aller fünf Elemente kann sie abwenden. Im 23. Jahrhundert nun rast ein riesiger Feuerball auf die Erde zu. Wie der Geistliche Cornelius weiss, ist diese Kugel das Böse an sich, das alles Leben vernichten will. Die Mondoshawan, gute käferähnliche Aliens, bringen darum das fünfte Element, den «perfekten Krieger», zur Rettung der Erde. Dabei werden sie aber abgeschossen von den Mangalores, den kriegerischen Aliens. Diese handeln im Auftrag des irdischen Waffenfabrikanten Zorg, der als Handlanger des nahenden Bösen amtet. Vom fünften Element ist nur ein Fetzen übrig, doch im Nu wird daraus ein Klon gezogen: eine kampftüchtige, rothaarige junge Frau, die unverständliches Zeug plappert. Leeloo, wie sich das Wesen nennen wird, flieht aus dem Regierungslabor und stürzt vom Hochhaus ins fliegende Taxi von Korben Dallas. Klar, dass der abgehalfterte Spacefighter ihr widerstrebend helfen wird; klar, dass sie allerhand Zoff mit Zorg und den Mangalores haben werden; klar, dass sie sich verlieben und das Böse am Ende besiegen werden.
Besson hat keine Mühe gescheut, sein Märchen in Szene zu setzen. Sieben Zeichner mussten 8000 Skizzen nach seinen Ideen anfertigen; die Comics-Künstler Jean «Moebius» Giraud und Jean-Claude Mézières leisteten Designarbeit, während Jean-Paul Gaultier die Kostüme entwarf; für die Rolle des unfreiwilligen Helden Korben Dallas sagte Bessons Traumbesetzung Bruce Willis zu. Als wär's ein kleiner Autorenfilm, kontrollierte Besson alle Phasen der Produktion und führte oft eigenhändig die Kamera. Doch zwischen Keimzelle und Inszenierung von «The Fifth Element» sind 22 Jahre vergangen, in denen das Science-fiction-Genre enorme Sprünge gemacht hat. Und wer zu spät kommt, den straft die Geschichte. Zwar ist spätestens seit der Moderne die Originalität im absoluten Sinne unmöglich, doch gerade anhand der diesjährigen Reeditionen der «Star Wars»-Trilogie und von Terry Gilliams «Brazil» erkennt man, warum jene den Poundschen Imperativ des «Make it new!» erfüllen und zu Kinoklassikern geworden sind, während Bessons Opus sich in sterilem Epigonentum erschöpft.
George Lucas gelang es 1977 in «Star Wars», Rittersagen, Western, Märchen, Kriegsfilme und Science-fiction-Abenteuer zu einem neuartigen, aber stimmigen Mix zu verquirlen, ihn mit einer animistisch angehauchten New-Age-Philosophie abzuschmecken und mit exzellentem Gefühl für Rhythmus und einem gerüttelt Mass Selbstironie anzurichten. Seine Schmuddel-Zukunft (die nominell «a long time ago» liegt) konterkarierte den aseptischen Futurismus von Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey» und prägte das Genre nachhaltig. Die Trilogie hat gut gealtert und ist in die globale Populärkultur eingegangen.
«Brazil» (1985) verliess das Science-fiction- Abenteuer-Schema, leitete sich vielmehr von den surrealen und beklemmenden Visionen Kafkas und Orwells ab. Das vom Dramatiker Tom Stoppard geschliffene Drehbuch und Gilliams eigenwillige Bildsprache, die sich der abendländischen Kunst bedient und sie ironisch verdreht, machen die Geschichte des kleinen Beamten, der in die Maschinerie einer totalitären Gesellschaft gerät und sich in seinen kühnen Träumen darüber hinausschwingt, zur zeitlosen Parabel, die der Phantasie des Publikums viel Platz einräumt.
Bessons postmodernes Potpourri jedoch gemahnt an nichts ausser an andere, meist bessere Filme der letzten zwei Jahrzehnte sowie an die visuell einfallsreicheren Comics seiner Mitarbeiter Mézières («Valérian») und Moebius (die «Incal»- Serie). Kenner stolpern im digital verkleisterten «The Fifth Element» nicht nur über «Brazil» und «Star Wars», sondern auch über «Star Trek», «Stargate», «Blade Runner», «Species», «12 Monkeys», «Total Recall», «Die Hard», «Diva» oder «Raiders of the Lost Ark». Weil Besson aber nichts Neues daraus macht, ist das konfuse, gewalttätige, sentimentale und kindische Ganze weniger wert als die Summe seiner rezyklierten Bestandteile.
Bruce Willis' müder Held Korben wirkt im Vergleich zu seinem zerrissenen Zeitreisenden in «12 Monkeys» (ebenfalls von Terry Gilliam) platt. Gary Oldman, mit Hasenzähnen und Hitlerfrisur ausstaffiert, kann nicht plausibel machen, warum der habgierige Zorg einer Kraft dient, die alles Leben (auch seines) auslöschen will. Jungmodel Milla Jovovich turnt als Leeloo dekorativ und von Gaultier (kaum) bekleidet herum, und Ian Holm, der als Cornelius dem Film etwas von der Ironie und Würde zu verleihen sucht, die sein Landsmann Alec Guinness in «Star Wars» einbrachte, scheitert an läppischen Slapstick-Szenen. Die grösste Nervensäge des Films jedoch ist ein unablässig quasselnder DJ (Chris Tucker), der einen hübschen Kurzauftritt von Mathieu Kassovitz schnell vergessen lässt.
Fünf Minuten vor Schluss würgt Besson noch eine philosophische Idee hinein, die er gallisch- eloquent als «sympa» charakterisiert: «What's the use of saving life when I see what you do with it?» fragt Leeloo, wo doch alles, was die Menschen erschaffen, zum Zerstören diene. Aber da sie selbst eingangs als «perfekter Krieger» beschrieben wurde, verpufft ihr pazifistischer Einwand ins Leere. Ein Jahr nach Roland Emmerichs «Independence Day» bestätigt nun also Bessons seichtes Eskapismus-Epos den Verdacht, dass die Rettung des Kinos vor dem Feuerball des amerikanischen Kommerzes nicht aus Europa kommen wird. (Michel Bodmer, Neue Zürcher Zeitung, 22/8/1997)
(...) Dieser Film ist wirklich ein Unterhaltungskunstwerk. "Das Fünfte Element" zitiert Filmklassiker aller Genres, von Die Hard über Blade Runner und Stargate bis hin zu Krieg Der Sterne, und erreicht ohne Probleme den Standard dieser Filme, wenn er ihn nicht sogar übertrifft. Die Special Effects setzen neue Maßstäbe, insbesondere die Aufnahmen der Flugsgeräte in den Schluchten Manhattans sind meines Erachtens bisher unerreicht. Auch die Kostüme, die der bekannte französische Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier hergestellt hat, sind alleine eigentlich schon einen Kinobesuch wert. Bruce Willis ist in diesem Film in seinem Element. Er ist wieder einmal der harte Kerl, der auch in der brenzligsten Situation immer noch ein Lächeln im Gesicht hat. Sehenswert ist auch Gary Oldman in der Rolle Zorgs, der auf mich wirkte, wie ein Hitler im 23. Jahrhundert. Er trägt eigentlich nur den Bart etwa fünf Zentimeter zu tief und sein Seitenscheitel ist extremer. (heinz-online)
Ich versteh' mich ja selber nicht ganz. Da ist etwas gewaltig naiv, albern, scheußlich gewalttätig. Gespickt mit kitschigem Mystizismus, aufgeblasen mit übertriebenen Spezialeffekten, basierend auf einfältigster Philosophie. Und dennoch sitzte ich offenmundig da, glotze romantisch, staune infantil, lebe mit. Ein bombastisches Machwerk voller Geschmacksverirrungen, lächerlichem Aberglauben, primitivem Futurismus. Von der damit zugeschütteten eindimensional-anbiedernden Lovestory gar nicht zu reden...
Und trotzdem bleibe ich höllisch gespannt am Ball. Amüsiere mich prächtig. Genieße reinen Herzens. Ein Science-fiction- und Actionfilm hat mich wieder einmal verführt. Diesmal war es das außenseiterische Regiewunderkind Luc Besson, dem die Erschaffung eines umfassenden Kinouniversums aus faszinierendem Blödsinn, grandiosem Aberwitz und bizarrem Märchenschwulst gelang. Das sogenannte Gute kommt weiblich, nackt, rotblond und stammelnd auf diese Welt (Besson kann und will den Franzosen nicht verleugnen).
In Wahrheit ist das fünfte Element an seiner unübersehbar hollywoodorientierten Fantasmagoriensammlung der echte Esprit francais, eingekleidet von Jean-Paul Gaultier und gesponsert vielleicht von der Pariser Taxi-Innung. Um Irrtümer von vornherein garantiert einzuschließen, hat Besson sich als Sozius für das Ewigweibliche Bruce Willis geholt. Den Homme americain schlechterdings. Der schießt als heldischer Taxifahrer des 23. Jahrhunderts westernartig allem Unausgegorenen in diesen European Star Wars den Weg frei. Wenn er sich nicht gerade mit Fuzzy Logic den Sinn des Lebens erklärt.
Gary Oldman stellt sich den beiden Rettern der Menschheit mit abgefeimter Physiognomie und einigen Wunderwaffen im Solde des absolut Bösen entgegen. Welches wiederum in Hutzelknautschgestalt eines der lieberen Maskottchen aus Horrorkabinettfluchten wie von Steven King figuriert. Vielleicht gehört es zu den überzeugendsten Facetten des Spektakels , daß es ihm gelingt, inmitten aller Aus- geburten exterrestrischen Abschaums den Menschen selbst als seltsamstes und unbegreiflichstes aller Lebewesen zu entlarven. Staunt die zauberisch schöne Lichtgestalt Milla Jovovich: "Alles, was ihr schafft, verwendet ihr, zu zerstören!" Stimmt ja. Und wenn es nur Illusionen sind. Wie jene, daß unsereins gegen derlei Verführung gefeit ist. (KURIER)
F 1996. 103 min Regie: Claire Denis,
Buch: Claire Denis, Jean-Pol Fargeau,
Musik: Tindersticks,
Kamera: Agnès Godard,
Schnitt: Yann Dedet,
Darsteller: Valeria Bruni-Tedeschi (Boulangere), Grégoire Colin (Boni), Vincent Gallo (Boulanger), Alice Houri (Nenette), Gérard Meylan, Jacques Nolot Kinostart: 29/8/1997
Die in Marseille angesiedelte Beziehungsgeschichte eines Geschwisterpaares, das sich nach langer Trennung und trotz gegenseitiger Ablehnung immer intensiver annähert. Der junge Mann betreibt eine mobile Pizza-Bäckerei und hat sich recht und schlecht im Alltag eingerichtet; seine 15jährige Schwester ist schwanger und bedarf dringend einer Hilfe. Wie die Figuren entblättert auch der Film selbst Sensibilität und Intelligenz erst nach und nach, versteckt seine Substanz hinter einem fast eklektisch wirkenden ersten Eindruck. Dabei verweigert er sich dem Diktat eines streng austarierten Handlungsgerüsts und offenbart gerade dadurch jene Freiräume, die intelligentes Kino ausmachen.
Der knapp 20jährige Boniface, kurz Boni genannt, hat sich seinen Alltag im Hafenviertel von Marseille recht und schlecht eingerichtet: mit seinem Zwergkaninchen, der vollautomatischen deutschen Kaffeemaschine, auf die er besonders stolz ist, und seinen hartnäckigen, akribisch in einem kleinen Notizbuch aufgezeichneten Masturbationsfantasien. Mit einer mobilen Pizza-Bäckerei bedient er Hafenarbeiter ebenso wie Nachtschwärmer - aber nur, wenn es seine Geldknappheit unbedingt erfordert. Als Besitzer eines kleinen Hauses, das er von seiner jung verstorbenen Mutter geerbt hat, ist er gegenüber seinen Altersgenossen sogar in einer ausgesprochen privilegierten Position und bildet für sie eine Art Mittelpunkt. Irgendwo gibt es noch seinen Vater, der einst seine Mutter und ihn verlassen hat, ein Ladenbesitzer und "Lampenheini" - hin und wieder schickt Boni einen Fluch in seine Richtung. Nichts könnte Boni weniger gebrauchen als seine kleine Schwester Nénette, die seit Trennung der Eltern beim Vater aufgewachsen ist - und niemand anderes als sie steht eines Tages vor seinem Haus, quartiert sich stillschweigend ein. Daß sie, im wahren Sinne des Wortes, ein Problem mit sich herumträgt, stellt sich erst langsam heraus: Nénette ist schwanger. Die beiden Geschwister nähern sich trotz lautstark nach außen hin artikulierter Abneigung immer weiter an. Boni wächst gar in einem Maße über seine vorgeblichen Lebensmaximen hinaus, das ihn grundlegend verändern wird.
Der eigentlich klassischen Konstellation einer Annäherung zwischen zwei Menschen, die lange voneinander getrennt waren und durch ihre Begegnung eine Katharsis erfahren, vermag Claire Denis verblüffend neue Facetten abzugewinnen. So werden die Figuren auf eine fast beiläufige Weise eingeführt, ihr Tun wirkt zufällig, scheint keiner stringenten Handlungslogik zu unterliegen. Erst nach und nach läßt sich erahnen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. So wie sich Boni lange dagegen wehrt, seinen bequemen, aber wenig verantwortungsvollen Lebenswandel aufzugeben, so zögernd offenbart der Film quasi seinen Plot. Die Kameraarbeit von Agnès Godard entspricht wiederum diesem Verfahren: ganz dicht schließt sie zu Gesichtern und szenischen Details auf, schafft damit eine Intimität, die zunächst nur Behauptung ist, sich aber schnell mit individueller Charakteristik anreichert. Auch die Montage wirkt auf den ersten Blick eklektisch, fast abrupt, ist voller harter Anschlüsse und eigentlich "überflüssiger" Einstellungen. Es handelt sich hier um eine höchst originelle Mischung aus intellektuellem Understatement und formaler Experimentierfreude. Claire Denis verweigert sich dem Diktat eines streng austarierten Handlungsgerüsts und vermag gerade dadurch, ihren Helden, sich selbst und nicht zuletzt dem Zuschauer jene Freiräume einzuräumen, die intelligentes Kino erst ausmachen. Struktur und Substanz ihres Films werden nicht ausgestellt, erweisen sich aber als um so tragfähiger. Wenn man will, stellt auch dies eine Analogie zu Bonis Verhalten dar, der nicht viel Worte macht, im entscheidenden Moment aber seinen inneren Qualitäten entsprechend handelt. Seine Lauterkeit ist in gleichem Maße verinnerlicht und selbstverständlich wie das innovative Potential von Claire Denis filmischer Arbeit. Die Regisseurin äußerte einst in einem Interview mit Michael Omasta: "Was werden Leute denken, die diesen Film in 50 Jahren sehen? Wird man sehen können, daß ein gewisser Stolz darin liegt, ein menschliches Wesen zu sein? Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß es Menschen gibt, denen man dieses Recht nimmt. Ich glaube, daß das eigentliche Thema meiner Filme ist. Und vermutlich auch der Grund, weshalb ich überhaupt Filme mache." Dem braucht eigentlich nur hinzugefügt werden, daß zur Integrität von "Nénette et Boni" auch subtiler Humor, Selbstironie und Spiellaune gehören. Vor allem Valéria Bruni-Tedeschi glänzt an der Seite von Vincent Gallo als Bäckersfrau (und in einer Reihe versteckter Rollen) und ist wundervoll gegen ihren sonstigen Typ besetzt. (Claus Löser, film-dienst)
Claire Denis setzt in ihrem neuen Film wieder auf geschickt verschachtelte Alltagsbeobachtungen: Am Mittwoch wurde "Nénette et Boni" als STANDARD-Leserpremiere im Wiener Filmcasino präsentiert.
Nénette et Boni trägt die Namen seiner Protagonisten, so, wie sie einmal unter eine Kinderzeichnung gekritzelt auftauchen. Antoinette (Alice Houri) und Boniface (Grégoire Colin), Schwester und Bruder, werden für kurze Zeit zusammengeführt, als die schwangere 15jährige Nénette aus dem Internat abhaut und sich bei Boni einquartiert.
Die beiden Hauptdarsteller haben schon in US Go Home (1994), Claire Denis’ Beitrag zur Reihe "Tous les garçons et les filles de leur âge", ein Geschwisterpaar dargestellt. Mit ihnen hat Denis ihr Interesse an Jugendlichen beibehalten. In seiner Konstruktion ähnelt Nénette et Boni jedoch viel mehr J'ai pas sommeil (1994).
Wie dort bleiben auch hier Motive und Hintergründe (Familie, Mordgeschichte, Vaterschaft) weitgehend unerklärt und unbewertet – obwohl der Film sich nahe an seinen Personen bewegt. Nénette et Boni ist weniger von einer Erzählung dominiert als von Details, vielen Großaufnahmen, Blicken und wenig Dialog. Er zeigt konzentriert Verschiebungen, Veränderungen, Übertragungen, die in kleinen und in großen Zusammenhängen vor sich gehen.
Schauplatz ist Marseille, eine Stadt, die sich in vielerlei Hinsicht in Auflösung und Umwandlung befindet. Alles ist mobil: Das Haus, das Boni von seiner Mutter geerbt hat, ist eine Durchgangsstation für heimatlose Freunde. Waren zirkulieren abseits von dafür vorgesehenen Orten und werden nachts in Wohnungen gehandelt, wo sie unter Betten im Kinderzimmer lagern.
Boni betreibt einen fahrenden Pizzastand; am Ende wird er vehement die Möglichkeit zur Vaterschaft ergreifen, während seine katzenhafte Schwester, deren Innenleben noch entrückter bleibt als das ihres Bruders, weiterzieht.
Es gibt in Nénette et Boni einen kleinen Erzählstrang, der klar in einer Abfolge von Ursache und Wirkung organisiert ist: Gleich zu Beginn sieht man einen Mann einer Gruppe von Zuwanderern Codekarten verkaufen, die unbegrenztes Telefonieren ermöglichen. Später telefoniert eine Frau von einer Zelle aus. Noch später unterbricht die Sozialarbeiterin ihr Beratungsgespräch mit Nénette, um sich bei der Post über ihre horrende Rechnung zu beklagen.
Hier schließt sich, über den Film verteilt, in wenigen Bewegungen ein kleiner Kreis – allerdings verbleiben die Beteiligten anonym, das Geschehen in der Distanz. Sobald man nahe an Einzelheiten und einzelne Personen herantritt, scheint der Film zu vermitteln, werden Ordnung und Überblick unmöglich.
Umgekehrt erlaubt die Nähe den Blick auf stumme Glücksmomente: Eine neue Kaffeemaschine besitzen, Gerüche aufnehmen, sich im Wasser treiben lassen oder heimlich jemanden ansehen – Empfindungen manifestieren sich in Gesichtern, im körperlichen Ausdruck und ohne Worte. Am weitesten von nüchterner, distanzierter Wahrnehmung entfernt sind Bonis sexuelle Phantasien, die auf die Bäckersfrau in seinem Viertel ausgerichtet sind.
Darin überlagern einander Wirklichkeit und Traum, alles ist Pastellfarben-fedrig, pudrig, leicht – und kulminiert in der Inszenierung der Zuneigung zwischen der Bäckerin (Valéria Bruni-Tedeschi) und ihrem Mann (Vincent Gallo), in einer traumhaft schönen musikalischen Sequenz, begleitet von den Beach Boys ("God Only Knows"), die inmitten der Improvisiertheit und Brüchigkeit der anderen Lebensgemeinschaften wie ein altertümliches, erträumtes Relikt wirkt. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 28/8/1997)