Filmhaus Hasnerstraße - Filmkultur in Ottakring



In Österreich am 2. Jänner 1998 neu angelaufene Kinofilme


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LOLITA (LOLITA)

USA 1997. 137 Min
Regie: Adrian Lyne, Buch: Stephen Schiff, nach dem Roman von Vladimir Nabokov, Musik: Ennio Morricone, Kamera: Howard Atherton, Schnitt: Julie Monroe, Darsteller: Jeremy Irons (Humbert, Humbert), Dominique Swain (Lolita), Melanie Griffith (Charlotte Haze), Frank Langella (Clare Quilty), Dawn Mauer (Dominique Swains Body Double)
Kinostart: 2/1/1998

Der 1955 veröffentlichte Roman "Lolita" des Exilrussen Vladimir Nabokov (1899-1977) - anfangs als Pornografie verkannt und in vielen Ländern verboten - zählt mittlerweile zu den modernen Klassikern der Weltliteratur. Wie alle Werke Nabokovs lebt "Lolita" von der Musikalität seiner Worte, der Poesie seiner Dialoge. Mit ungewöhnlicher Sprachpracht und überraschenden Metaphern breitet Nabokov die Geschichte eines 37jährigen Literaturprofessors aus, der sich in eine 12jährige verliebt, und schon nach wenigen Seiten wird klar, daß dieses wortgewaltige Werk ein Buch zum Lesen und kein Roman zum verfilmen ist. Trotzdem wagte Stanley Kubrick 1961 eine erste filmische Adaption (fd 11 201), zu der Nabokov als Drehbuchautor gewonnen werden konnte. Nachdem er sein ursprünglich 400seitiges Skript auf 200 Seiten gekürzt hatte, wurde es von Kubrick und seinem Produzenten noch mehrmals umgeschrieben. So verwundert es nicht, daß nun unter der Prämisse (vermeintlich) gelockerter Moralvorstellungen ein Remake gedreht wurde. Die Wahl, den durch sein "Spiel" mit der Unmoral (u.a. in "9 1/2 Wochen", fd 25 587, "Ein unmoralisches Angebot", fd 30 229) vorbelasteten Adrian Lyne mit der Regie zu betrauen, schürte die Erwartungen auf eine romanadäquatere Umsetzung. Aber auch Lyne wagte sich nicht an die erotische Substanz der Vorlage, ergeht sich eher in den Unverbindlichkeiten gepflegter Literatur-Verfilmungen.
Sommer 1947: Hubert Humbert, ein aus Europa stammender Professor für französische Literatur, nimmt eine Stelle an einem College in Neuengland an und zieht als Untermieter in das Haus der Witwe Charlotte Haze und ihrer 12jährigen Tochter Lolita, von der er sich unwiderstehlich angezogen fühlt. Er heiratet schließlich die Mutter, um der Tochter nahe zu sein, die seine halb spielerischen, halb ernsten Annäherungsversuche kokett erwidert. Als Charlotte Lolita in ein Internat schickt bekommen seine Träume einen jähen Dämpfer. Aber das Schicksal kommt ihm zu Hilfe: Charlotte entdeckt sein verräterisches Tagebuch und stürzt nach einer Auseinandersetzung Hals über Kopf aus dem Haus - direkt unter die Räder eines Autos. Unfall oder Selbstmord? Erleichtert macht sich Humbert sofort auf den Weg zu Lolita. Doch erst nach ihrer ersten Liebesnacht erzählt er die Wahrheit, reist dann mit ihr - getarnt als Vater und Tochter - ein Jahr von Motel zu Motel durch die Staaten, bis sie schließlich in Bardsley landen, wo Humbert eine neue Professur annimmt. Dort führen beide ein unauffälliges "Familienleben", Lolita besucht die private Mädchenschule und engagiert sich in der Theater-AG. Aber immer häufiger kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Humbert und Lolita, die offensichtlich ein Doppelleben führt. Ehe Humbert hinter ihr Geheimnis kommt, schlägt sie ihm eine neue Reise vor. Wieder fahren sie kreuz und quer durchs Land, immer verfolgt von einem "unsichtbaren" Dritten. Als Lolita erkrankt und Humbert sie in eine Klinik bringt, wird sie von ihrem "Onkel" abgeholt und verschwindet spurlos. Humbert macht sich auf die Suche nach dem Unbekannten und der "Entführten", die ein demütigendes Versteckspiel mit ihm treiben. Erst drei Jahre später erhält er ein Lebenszeichen: Lolita ist inzwischen mit einem jungen Arbeiter verheiratet und erwartet ein Kind. Humbert sucht sie in ihrer armseligen Behausung auf, und Lolita gesteht ihm, daß sie ihn nie geliebt habe und immer schon, auch vor ihrer Begegnung, ein Verhältnis mit dem "Onkel" Clare Quilty hatte. In einem Akt der Verzweiflung erschießt Humbert Quilty.
Den ersten Kompromiß schloß Lyne - ähnlich wie Kubrick - mit der Gestaltung der Lolita-Rolle. Er machte aus der 12jährigen Romanheldin eine 14jährige und so aus einer absolut verwerflichen Liaison nur noch eine verbotene Liebe. Und die setzt er, trotz eines Body-Doubles für die erst 15jährige Hauptdarstellerin, in wenig erotische Bilder um. Ein eher verhaltener Kuß, ein bißchen nackte Haut, da ist nichts zu sehen, geschweige denn zu spüren von einer zur Obsession gesteigerten Liebe, die Humbert wie eine Droge höchstes Glück und unerträgliches Leid beschert. Zudem prallen mit der allzu flapsigen Schülerin Dominique Swain und dem distinguierten Schauspieler Jeremy Irons zwei Darstellertypen aufeinander, die sich nicht unbedingt gegenseitig "befruchten". Dominique Swain ist überfordert mit der im Roman angelegten Mischung aus Kindlichkeit und Vulgarität, und Jeremy Irons wirkt einfach unglaubwürdig, wenn er, wie in der Krankenhausszene, geradezu hysterisch aus der Haut fahren muß. Da wo der Roman deutlich wird, flüchtet Lyne sich in billigste psychoanalytische Metaphern: die Banane symbolisiert den Phallus, und Blut ersetzt jenen besonderen "Lebenssaft", über den hier nicht einmal geredet wird. Dafür fließt der "Ersatzstoff" reichlich in der orgiastisch inszenierten Schlußsequenz, deren aufgesetzte Gewalttätigkeit nicht zu dem eher uninspirierten Inszenierungsstil der vorangegangenen zwei Stunden paßt. Da hatte es Lyne nämlich trotz einiger modischer Steadycam-Fahrten über den Boden und einigen für Sekunden Dynamik vortäuschenden Handkamera-Einstellungen und schnellen Schnittfolgen nicht verstanden, die Ausdruckskraft des Sprachstilisten Nabokov ins Visuelle zu übertragen. So wirkt sein finaler "Ausbruch", in dem er den pädophilen Quilty als wahres Päderasten-Monster vorführt und seiner "gerechten" Strafe zuführt, letztlich wie ein verzweifeltes Schielen nach einem Publikum, dem man zur Befriedigung wenigstens einen "Kick" verschaffen muß. Und was noch fataler ist, die Liquidierung Quiltys kann auch als Ablenkungsmanöver von Lynes unentschiedener Haltung gegenüber Humbert verstanden werden, den er mehr als bemitleidenswerten "Süchtigen" denn als "Kinderschänder" zeichnet. Da macht er es sich genauso einfach wie Ennio Morricone, dessen einst unverwechselbarer Stil mittlerweile zur Stillosigkeit verkommen ist. "Ich bin kein Hund", hat Nabokov einmal geschrieben, "der mit dem Schwanz wedelnd zu euch rennt, mit der Wahrheit im Mund." So überläßt er auch in "Lolita" der Fantasie des Lesers die Antworten, während Lyne den Zuschauer mit zweifelhaften Botschaften bevormundet. (Rolf-Ruediger Hamacher, film-dienst)

Humbert Humbert (Jeremy Irons) steht nur auf weibliche Wesen, die das 14. Lebensalter nicht überschritten haben. Er führt das auf ein Kindheitserlebnis zurück, bei dem seine grosse Liebe an Typhus starb. Seitdem hat Humbert nicht aufgehört, nach ihr zu suchen, obwohl er schon längst kein Kind mehr ist. Der College-Professor scheint sie in der zwölfjährigen Lolita (Domique Swain), der Tochter seiner Untermietern Charlotte Haze (Melanie Grifftih), gefunden zu haben. Er macht ihr - halb spielerisch, halb ernsthaft - den Hof und Lolita erwidert seine Anstalten ebenso. Als Humbert Charlotte seine Liebe zu Lolita gesteht, ist die so verwirrt, dass sie auf die Strasse vor ein Auto läuft und stirbt. Das ist der Beginn einer aufregenden Reise durch die Staaten, bei der sich Humbert und Lolita immer näher kommen und so einiges merkwürdiges mit allen Beteiligten geschieht... (Expresso-Online.com)

Im tiefen, traurigen Humbertland. Von Nabokov über Kubrick zu Adrian Lyne und seinem verklärenden Blick auf «Lolita»
Sanftgrün sind die Wiesen mit ihren schwarzen Kühen, Ennio Morricones Flötenklänge von einer Melancholie sondergleichen, und Jeremy Irons' voiceover mit den berühmten ersten Zeilen des Romans ist so tieftraurig und zärtlich, dass sie durch Mark und Bein geht: «Sie war Lo, einfach Lo am Morgen . . . Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.» In somnambulem Slalom, so, wie Vladimir Nabokov ihn in seinem 1955 erschienenen Roman beschrieben hat, kurvt der vom Gift der ewigen Nymphchenliebe durchdrungene Humbert Humbert über die Landstrasse; die Pistole schlingert auf dem Beifahrersitz hin und her, das Gesicht ist blutverschmiert, die Augen sind erloschen. Quilty, der verderbte Rivale, das alter ego, der ihm Lolita geraubt hat, ist hingerichtet, mit dem grellen Sadismus, der ihm gebührt. Kein Zweifel: hier ist eine Liebesgeschichte der existentiellen Art zu Ende. Rückblende.
So fängt der Film an, der die Kinoindustrie seit Monaten in Atem hält, der einen Verleiher in Amerika noch immer sucht, dessen Start in Frankreich hinausgeschoben wurde, dem in England der «Daily Mail» einen Bannfluch entgegengeschleudert hat. Die nach Stanley Kubricks Version von 1962 neue, französisch finanzierte Verfilmung von Nabokovs Skandalroman durch Adrian Lyne ist das, was im Branchenjargon eine «hot potato» genannt wird. Was wunder: Der Film, der die leidenschaftlich liebende Ausbeutung eines zwölfjährigen (amerikanischen) Mädchens durch einen verschrobenen vierzigjährigen Europäer erzählt, ein wahrhaft «indecent proposal», liegt quer in einer moralischen Landschaft, in der die unfassbaren Taten der Dutroux und Konsorten geschehen sind. Eine Passion für kleine Mädchen geniesst gegenwärtig keinerlei öffentliche Billigung - wie artistisch abgesichert sie durch die Referenz eines grossen Romans auch immer sein mag. Und dies nicht nur in einem Amerika, dessen moralistisches Klima der aus England gebürtige Regisseur Lyne in jenem der fünfziger Jahre hat wiederfinden wollen.
Nabokovs Buch ist und bleibt ein grosser Roman. Nicht zuletzt in dem Sinne, als der jeweilige Zeitkontext seines Publikums die Lektüre stets neu steuert; provozierend bleibt sie in jedem Fall. «Lolita» heute zu lesen ist eine Zumutung, die mit den Dutroux und Konsorten zwar direkt nichts gemein hat und dennoch stets auf sie verweist. Humberts Abscheulichkeit, sein Zynismus (beispielsweise gegen die Mutter des Mädchens, die er geheiratet hat, nur um diesem nahe zu sein) werden ebenso unters Vergrösserungsglas gezerrt wie jeder leise Hinweis auf das, was der schreckliche Liebhaber in seinem Objekt der Begierde für immer beschädigt hat, mag ihm auch rein technisch jener «Charlie» im Sommercamp zuvorgekommen sein, mit dem der Roman in der Nacht der Wahrheit so genüsslich wie höhnisch Humbert und seine Leser narrt.
Angelegt ist das Buch als Rechenschaftsbericht aus dem Gefängnis, eine Beichte, die ebenso larmoyant wie schnöde ihre Adressatinnen und Adressaten bald als frigide Damen, bald als geflügelte Herren Geschworene anspricht, dergestalt Scherz mit gröbstem Missbrauch und verzweifelter Liebe, mit Sünde und Erlösung auf dem hohen Seil eines literarisch fulminanten Narzissmus treibt und die Lesenden mit dem Bekenntnis der Leidenschaft umgarnt, bis sie schwach zu werden drohen. Alles verstehen heisst alles verzeihen? Nein! Humbert Humbert ist nüchtern betrachtet nur ein Monster - manchmal aber eben doch auch sacré, und damit gilt es beim Lesen zu jeder Zeit von neuem fertig zu werden. «Lolita» ist schliesslich auch ein strapaziös zu lesender Roman voll von Wahn und Wahnsinn, von klinischer später Einsicht in eine Perversion, die nur zerstören konnte, was sie liebte, und die in der nymphet, im Nymphchen, immer bloss ein Versprechen zu lieben vermochte. Humbert der Erzähler, der am Ende mit seinem Doppelgänger und Nebenbuhler Quilty das Schäbigste und Kriminellste in sich selber zur Strecke gebracht hat, und der Humbert der Geschichte sind am Ende zumindest nicht mehr ganz derselbe. Deshalb der befremdliche Grand Guignol der Hinrichtung Quiltys, die der Roman mit beiden Filmen teilt.
Es ist diese gewiss verführerisch ironische, schamlos kokettierende, trügerische, aber bedeutsame Distanzierung zwischen dem Geschehen und seiner späteren Reflexion, die Adrian Lyne und sein Drehbuchautor Stephen Schiff für ihre sonst so überraschend getreue Kino-Adaptation von «Lolita» wenig genutzt haben. Humbert Humbert ist undiskutabel ein Scheusal, aber er ist, subjektiv, auch ein grosser Liebender. Und so ist der Film zum epischen Trauerspiel eines Roadmovie durch Amerikas Motel-Szenerie geraten, das wohl die Ironie der Geschlechts-Mesalliance brillant ausspielt und Humberts langsam brennende Passion und wachsende Paranoia der koboldhaften Launenhaftigkeit des Mädchens in rasenden, elliptischen Schnitten überfallartig und witzig gegenüberstellt. Doch Lolita hat auch Tränen und eine Wut, die der Film nicht einmal verschweigt, und dennoch wird Humberts Zynismus allzu gnädig weichgezeichnet. Lolita existiert im Roman nur als Humberts literarisches Memorial, im Film hat sie eine eigene Gestalt: Daraus hätte sich mehr machen lassen müssen im Sinne einer zeitgemässen Lektüre. Der Roman böte sie an: Humberts späte Begegnung mit der schwangeren Dolores alias Mrs. Richard F. Schiller in irgendeiner Suburb ist niederschmetternd, doch die Szene ist im Film verschenkt.
Einseitig ist Adrian Lynes Film für alle, die nun Humbert Humbert vielleicht nur in der Gestalt Jeremy Irons' kennen werden. Dabei wäre dieser Schauspieler wie prädestiniert dafür, Humberts extreme Ambivalenz dem Publikum gegenüber in der Schwebe zu belassen, mit der Nabokov gespielt hat. Irons' Humbert in seiner gebremsten Verrücktheit und schwarzen Not ist das Gegenstück zum aalglatten James Mason in Kubricks Film, dessen echte Tränen am Ende das Falscheste an ihm sind. Jeremy Irons geht zu Herzen, aber auf eine ungute Art. Nicht so weit, dass er letztlich gar nur zum Klischee-Opfer der von der 17jährigen Dominique Swain ebenbürtig verkörperten Kindfrau stilisiert würde, nachdem diese «les règles du jeu» eines Tages kapiert und ihm manipulativ entgegenzusetzen gelernt hat, doch bleibt der Film der Vorlage gegenüber die bedrohliche, die skandalöse Dimension schuldig. - Kubrick seinerseits hatte sich dem Konflikt des erotischen Potentials der Geschichte einfach entzogen: Seine «Lolita» (nach Nabokovs eigenem Skript) war ein eiskalter Film, eine Studie um Macht und Berechnung und Paranoia, in der Lolitas Mutter Charlotte (Shelley Winters) und vor allem der Clare Quilty von Peter Sellers zu wirklichen Gegenspielern Humberts aufgebaut waren: Dagegen wirkt nun die Charlotte von Melanie Griffith harmlos und der Quilty von Frank Langella im zischenden Lampenschein unter dem Ventilator als aufgesetztes Film-noir- Versatzstück. Lolita selbst war bei Kubrick gänzlich unerotisch - die inzwischen klassische Ikone der auf dem Rasen ihren Lollipop lutschenden Sue Lyon mit Sonnenbrille eine Humbertsche Anti-Phantasmagorie zu ihrer biederen Erscheinung im ganzen Rest des Films. Kubricks Kühnheit von damals, die das Publikum selber Stellung zu nehmen zwang, mag nun erst ganz deutlich werden im Vergleich mit Lynes Film, der die erotischen Erwartungen dezent und gekonnt bedient; beide können sie Nabokovs halsbrecherisch spielerischem Universum nicht gerecht werden, aber beide sind sie gewissermassen redlich in ihrem Bemühen. Was beim Kaliber dieses Romans nicht wenig ist. (Martin Walder, Neue Zürcher Zeitung, 9/1/1998)

Einst, in seiner Teenagerzeit, verstarb Humbert Humberts 12-jährige erste große Liebe Annabel an Typhus. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1947 und Humbert ist gut über die Vierzig hinaus, idolisiert aber weiter 12-jährige Mädchen.
Als er aus Europa nach Neuengland in die USA zieht, ist er von seiner neuen Unterkunft und vor allem der aufdringlichen Wirtin Charlotte Haze angewidert. Im Garten entdeckt er allerdings die 12-jährige Tochter Lolita und entscheidet sich prompt zum Verbleib bei den Hazes. Überglücklich schätzt er sich, als ihm Charlotte einen Heiratsantrag stellt. Zwar verachtet er die Mutter, aber auf diese Weise kann er ihrer Tochter noch näher sein.
Sehr zum Entsetzen des College-Professors wird Charlotte eifersüchtig auf ihre neckische Tochter und verbannt sie in ein Sommercamp, von dem sie direkt in ein Internat abgeschoben werden soll. Humberts Alptraum kulminiert in der Neugierde Charlottes, die in seinem Tagebuch blättert und seine wahren, verabscheuenden Gedanken über sie liest. Im einen Moment kündigt sie ihm die sofortige Scheidung an, im nächsten wird sie vom Auto überfahren.
Humbert nutzt die Gelegenheit und holt die ahnunglose Lolita aus dem Sommercamp ab, um mit ihr eine wilde Spritztour quer durch die Vereinigten Staaten zu starten. Den Tod der Mutter verschweigt er dem Mädchen zunächst. Gleich im ersten Hotel bringt er seine Stieftochter zu sexuellen Handlungen, die von nun an für ein Jahr nicht mehr abreißen. Mit Drohungen und Bestechungen macht er Lolita gefügig, die in einem Leben auf Rädern von ihm abhängig ist.
Humbert und Lolita lassen sich schließlich im kleinen Nest Beardsley nieder. Bald regt sich im Stiefvater das Gefühl, Lolita betrüge ihn mit einem Gleichaltrigen. Während sie sich wieder auf den Weg machen, stellt Humbert fest, dass ihnen jemand folgt – ein Erwachsener...
Manche Filme dürfen einfach nicht kontrovers sein. Z.B. Filme, die Inzest verherrlichen und die Opfer- und Täterrollen vertauschen. Lolita ist ein solches Schundwerk allererster Alarmstufe. Während allerdings die RedakteuerInnen dieses Magazines mit Schaum vorm Mund das Kino verlassen, müssen sie als Hammer oben drauf feststellen, dass ein Großteil der KollegInnen darüber nicht einmal ansatzweise nachgedacht hat und unsere Wut nicht nachvollziehen kann. Ja, der Film wird sogar als fortschrittlich gewertet.
Dabei ist das Lolita-Konzept allein seit Vladimir Nabokovs Romanvorlage von 1955 und spätestens seit Stanley Kubricks Verfilmung aus dem Jahre 1962 ein Schlag ins Gesicht aller Überlebenden, steht es für verführerische Mädchen (und Frauen), die gefährlich dumme aber angeblich aufrichtige Männer auf den falschen Weg führen und schließlich in den Ruin treiben. Seitdem wurden mehr als ein Dutzend namensgebende Lolita-ähnliche Stoffe produziert, darunter natürlich auch jede Menge Sex- und Blaxploitation-Streifen.
Das vorlagen-nächste Remake von Adrian Lyne nun fährt auf die Inzestgeschädigte, besonders im Anspruch eines seriösen Spielfilms, wie eine Salve von Ohrfeigen hernieder. Während in Kubricks Version der Täter eindeutiger als Übeltäter herausgestellt wird, der gar Mordgedanken gegen Charlotte hegt und dem nur der Autounfall zuvorkommt, fühlt sich der aus dem Off erzählende Protagonist in der '97er Version als zu Unrecht Angeklagter und formuliert die Lügen aus, mit denen die Überlebenden sexuellen Missbrauchs nach der Tat zu kämpfen haben – und hüllt sich nur scheinbar in einen den Täter verurteilenden Mantel. Zwar wird angedeutet, dass Lolita leidet, aber im Grunde hätte sich der Täter nichts vorzuwerfen:
Humbert, und mit ihm der Film, geht davon aus, dass es 12-jährige Nymphomaninnen gibt. Insgesamt drei Mal indoktriniert der Erzähler seine ZuhörerInnen mit diesem Begriff, verbindet ihn gar mit Wörtern wie "dämonisch". Mit dieser Lüge Nr. 1 wird den Opfern (und nun dem Publikum) von ihren Missbrauchern eingeredet, sie seien selbst diejenigen, mit denen etwas nicht stimme, die die Greueltaten provoziert hätten und damit Schlampen seien. Humbert benutzt diesen Begriff, der sich eigentlich auf mannstolle Frauen bezieht, bevor er je einen etwaigen Kontakt Lolitas mit Männern vorweisen kann. Sie kokketiert in ihrer aufblühenden Pubertät ein wenig herum und der über 40-Jährige deutet dies als teufliche Verführung um, auf dass er eine Entschuldigung gefunden habe, seine zukünftige Stieftochter zu missbrauchen.
Die Krönung dieser Unverschämtheit besteht in Humberts Rechtfertigung an eine "Jury", also dem Publikum, in der er sich darüber beschwert, dass er als "Daddy" nicht einmal der erste Sexualpartner in Lolitas leben sei, für ihn also der endgültige Freischein zum Missbrauch.
Lüge Nr. 2: Mädchen provozieren mit ihrer Kleidung und ihrem Verhalten sexuelle Handlungen, ja streben sie gar an. Es ist vollkommen egal, was Mädchen und Frauen anziehen, wenn ein Mann sie vergewaltigen will, dann tut er dies. Ohnehin hat Vergewaltigung nicht viel mit Sex zu tun, sondern mit der gewalttätigen Ausübung von Macht. In der '62er Version, möglicherweise durch die Zensurbestimmungen, ist Lolita denn auch vollkommen normal gekleidet. 1997 nun darf der 12-Jährigen der schleimige Basic Instinct-Stil übergegossen werden. Lolita zeigt ihr Unterhöschen, gewährt tiefen Einblick in ihren Ausschnitt und lässt sich in weißer Kleidung im Garten vom Sprenger benässen. Während es in Wirklichkeit natürlich Humbert ist, bzw. die niveaulose Kamera eines britischen Regisseurs, die Lolita an die Haut kriecht.
Lüge Nr. 3: Die Schlimmen sind die perversen Fremden, im Eigenheim darf dagegen alles gemacht werden. Zum einen werden Kinder und Jugendliche in den allermeisten Fällen von nahen Angehörigen im eigenen Zuhause missbraucht, zum anderen sind diese Fälle oftmals traumatischer, weil sie von jemandem aufs Tiefste betrogen werden, den sie lieben und von dem sie sich eigentlich geliebt fühlen. Im Film haben wir also den Charakter des Clare Quilty, der aus der Taufe gehoben wurde, um vom eigentlichen Täter daheim abzulenken und den Inzest zu bagatellisieren, indem der Fremde viel Schlimmeres anstellt: Er beutet Jugendliche und Kinder systematisch aus sexuellen und kommerziellen Gründen aus, zwingt sie zum Pornodreh und sei sowieso perverser. Pappa wird da richtig wütend, bringt Quilty zur Strecke und wandelt gar zum Helden an.
Lüge Nr. 4: Schwule sind Kinderschänder. Dies wird impliziert, indem Quilty Humbert anmacht, er möge nicht nur die Töchter, sondern auch deren Väter – und sich ekligst seinen Morgenmantel das Bein hochschiebt. Fakt ist, die meisten Täter sind nun einmal Heteros.
Lüge Nr. 5: Der Täter liebt das Mädchen. Mit Liebe hat es wahrlich nichts zu tun, wenn das Leben eines Schutzbedürftigen auf lange Zeit zutiefst zerrüttet wird. Die Macht des Beherrschens und die eigenen Bedürfnisse interessieren den Täter, nicht das Wohlergehen des Mädchens. Unglaublich, die einsetzende romantische Musikbegleitung, als der Missbraucher nach Jahren seine von ihm geflohene Stieftochter wiedertrifft.
Neben diesen bösartig verbreiteten Lügen reihen sich die weiteren Unverschämtheiten nahtlos aneinander. Angefangen mit der hysterisch-kreischigen Mutter als Hass-Sinnbild aller erwachsener Frauen für ach so arme genervte Männer, die selbstverständliche Übertragung IHRES Hauses an den unverschämten Ehegatten, nachdem sie die Scheidung ankündigt, fortgeführt mit der warnenden Symbolik an die Herren, sich nicht an jungen Mädchen die Finger zu verbrennen (wie Motten in Lichtfallen und in der Schulaufführung der Jäger an der Hexe, von Lolita gespielt), bis dahin, dass nicht etwa die Überlebende Alpträume bekommt und zur Alkoholikerin wird, sondern der Täter. Und das ihretwegen.
Nicht einmal filmisch taugt der neue Lolita etwas. Im Gegensatz zum Original inszenierte Lyne abstoßende Zahnspangen- und Lutscherfetichismen, die billigsten Phantasien des Prostitutionsgewerbes entsprechen. Eine Zumutung, dass sich andere Gedanken machen können, wie gut doch Dominique Swain die Lolita spiele. Was sagt das über die KritikerInnen und unsere Gesellschaft aus, wenn eine Schauspielerin sich über kriechende Kameras und dem Abspielen von Strich-Phantasien "entdecken" lassen muss?
Brächte es dem chauvinistischsten Film, der bisher in diesem Jahrzehnt in unsere Kinos gekommen ist, nicht unerwünschte Publicity, wir würden uns von unseren Schreibtischen erheben und ein paar Aktionen ausdenken. So raten wir nur, euch nicht den nächsten Monat oder länger mit dem Nachgeschmack dieses Missbrauch-Schunds zu belasten. (queerview)

Kaum hat das neue Jahr begonnen, beschert es uns schon eine monumentale Galionsfigur: Den kalifornischen Türsteher. Seit 1.Jänner darf in den Bars, Nachtclubs und Spiellokalen des sonnigen US-Bundesstaates nicht einmal mehr im Halbdunkel, an den diversen Tresen, geraucht werden. Verzweifelte Nikotinabhängige sind gezwungen, auf der Straße zu inhalieren, begeben sich dort aber in Gefahr, wegen Alkoholkonsums inhaftiert zu werden. Der (freiwillige) kalifornische Türsteher tut also folgendes: Eine Hand, die mit dem Glas, hält er ins Lokal; die andere, mit dem Glimmstengel, hält er nach draußen. Als perfekter Wendehals kommuniziert er gleichzeitig mit alkoholisierten und kettenrauchenden Kollegen.
Was für ein Bild! Trefflich paßt es zu einem Amerika, in dem die Grätsche zwischen „verantwortungsvoller“, hysterischer Sauberkeit und „liberalem“ anything goes immer atemberaubender anmutet. Siehe als jüngstes Beispiel Lolita, die Neuverfilmung des berühmten Romans von Vladimir Nabokov, wo man eigentlich davon ausging, daß die Anwürfe wegen Verherrlichung von Pädophilie, mit denen das Buch in den USA der 50er Jahre verboten wurde, längst überholt seien.
Weit gefehlt: Regisseur Adrian Lyne, einst für einen Softsexfilm wie 9 1/2 Wochen zum Liebkind der Unterhaltungsindustrie erhoben, muß heute mit Schrecken erleben, daß sein im übrigen recht harmloses Filmchen keinen Verleih findet. Dieselben Firmen, die beglückt zusehen, wie mit immer gröberen Gewalttätigkeiten ganze Heerscharen von Zusehern und Kunden mobilisiert werden, wollen mit der verhängnisvollen Affäre des Humbert Humbert nichts zu tun haben. Zwischen Zwang und Unterdrückung erweisen sich auch hier die neuen Puritaner als Verrenkungskünstler und Pharisäer. (Claus Philipp, DER STANDARD, 3/1/1998)

Vladimir Nabokovs „Lolita“: Immer noch ist die Tragödie eines alternden Mannes und einer kindlichen Nymphe den Moralhütern ein Dorn im Auge. Die jüngste Verfilmung, die jetzt in Österreich startet, findet keinen US-Verleih. Claus Philipp sprach mit Regisseur Adrian Lyne.
Interviews sind für Adrian Lyne gegenwärtig offenkundig Tanzveranstaltungen auf rohen Eiern: „Was halten Sie von meinem Film?“, fragt er sein Gegenüber gleich vorweg, und wenn ihm schon der x-te Kritiker bestätigt, daß er Lolita zugegebenerweise etwas farblos und harmlos finde, dann wirkt er, wenn schon nicht glücklich, dann doch zumindest erleichtert.
Diese Adaption von Vladimir Nabokovs meisterlichem Roman, die eigentlich gar nicht mit „einschlägigen“, pädophilen Szenen zwischen Humbert Humbert (Jeremy Irons) und der von ihm begehrten Nymphe (Dominique Swain) protzt, soll in Amerika also verboten oder zumindest nicht verliehen werden? Der gebürtige Brite und ehemalige Werbefilmer Lyne, erfolgsverwöhnt durch Blockbuster wie zuletzt Ein unmoralisches Angebot, kann es nicht fassen.
Lyne: Dieser Film ist mein bis dato ambitioniertestes Projekt. Sechs Jahre habe ich an ihm gearbeitet, mit Autoren wie David Mamet oder Stephen Schiff. Bei mir zuhause liegen Stapel von Briefen von Studiomanagern, die beteuern, daß sie stolz auf Lolita sind. Aber dann tauchten Partnerfirmen auf, Whiskeyfabrikanten, die sagen, daß sie mit Pädophilie nicht identifiziert werden wollen.
STANDARD: Diese Form von Zensur paßt ja wohl vortrefflich zu den gegenwärtigen Moraldiskussionen in Amerika.
Lyne: Ja. Erste Vorahnungen, von dem was da noch kommen würde, hatte ich, als ich von der Affäre rund um Schlöndorfs Blechtrommel in Oklahoma hörte: Daß man dort Hausdurchsuchungen bei Videoverleihen startete, nur weil sich in einer Szene zwei Kinder sexuell annähern.
Die Stimmung in den USA ist gegenwärtig schon so aufgeheizt, daß sechsjährige Kinder wegen sexueller Belästigung zwei Wochen der Schule fernbleiben müssen! Ein kleiner Bub küßte eine Klassenkollegin, und politisch korrekte Pädagogen heulten auf. Ich denke, es hat ein wenig mit diesem alten anglosächsischen Puritanismus zu tun – dieses krampfhaft moralisierende Verdecken und Wegschauen. Kürzlich habe ich mit Michael Douglas darüber gesprochen, der ja in meinem Film Eine verhängnisvolle Affäre mitspielte. Er meinte, das Klima im Land sei durchaus mit dem der frühen 60er vergleichbar, als Stanley Kubricks Adaption von Lolita so wild umfehdet war.
STANDARD: Bei Vergleichen mit diesem Vorgänger wird Ihrem Film immer wieder ein Mangel an Form und ein Hang zu dekorativer Werbe-Fotografie vorgeworfen. Woran haben Sie sich bei Ihrer Interpretation orientiert?
Lyne: Mein Vorbild, meine Vorlage war vor allem der Roman. Ich wollte vor allem Nabokovs bilderreiche Sprache auf die Leinwand bringen. Kubricks Film konzentriert sich letztlich ja mehr auf Humberts Gegenspieler Quilty, er wurde darüber also vor allem zu einer Tour de force von Peter Sellers. Das hat für mich nichts mit Nabokov zu tun: Mit seinem Witz, seiner Fähigkeit, die Verstrickungen dieser männlichen Monster auch mit einer romantischen Ebene zu versehen. Bei Kubrick ist nie das Gefühl da, daß es sich bei der Affäre zwischen Humbert und Lolita wirklich um eine Romanze handeln könnte.
STANDARD: Aber wenn Sie sagen, daß Ihr Film mehr vermitteln sollte als nur die Ebene der Pädophilie, dann sind Sie jetzt doch gewissermaßen ein Opfer Ihrer eigenen Vergangenheit. Nach Arbeiten wie Eine verhängnisvolle Affäre, 91/2 Wochen oder Ein unmoralisches Angebot, die immer mit dem Ruch der Perversion spekulierten, erwarten die Leute wohl auch jetzt gewisse Schlüpfrigkeiten.
Lyne: Das mag schon sein. Ich habe diese Filme aber nie als Möglichkeiten gesehen, Erotik kommerziell erfolgreich zu verkaufen. Alles was ich mache, passiert ohne jedes Kalkül. Wie schon bei meinem ersten sogenannten Hit Flashdance: Ein billig produzierter, kleiner Musikfilm wurde plötzlich zum Trendsetter! Dasselbe geschah auch mit den heruntergelassenen Jalousien in 9 1/2 Wochen, die plötzlich durch die Werbeclips geisterten.
STANDARD: Und davon wollten Sie sich mit Lolita distanzieren? Erotik vor dem Kühlschrank ist ja auch hier eine Gelegenheit, Frischobst zum Fetisch werden zu lassen.
Lyne: Diese Szene kann man bei Nabokov nachlesen!
STANDARD: Aber nicht in dieser polierten Art.
Lyne: Es ist ziemlich frustrierend, das in Kritiken zu lesen. Was kann ich dafür, wenn mein Stil letztlich auch die Werbeclips beeinflußt hat? Warum erwähnen die Leute immer nur die Sexszenen in meinen Filmen und nicht, daß ich mit Arbeiten wie Jacob’s Ladder auch völlig andere Dinge probiert habe? Kubrick hingegen, dessen Lolita damals mindestens so verrissen wurde wie jetzt mein Film, wird weiterhin als Genie verkauft. Dabei interessierte er sich nicht einmal für die Episode im Buch, in dem Humberts Pädophilie mit einer frühverstorbenen Jugendliebe erklärt wird.
STANDARD: Diese Sequenz erinnert bei Ihnen ein wenig an David Hamiltons Zärtliche Cousinen.
Lyne: Finden Sie? Nun ja, Hamilton erhielt zumindest eine Chance, daß seine Blicke in den Kinos öffentlich diskutiert werden konnten. (DER STANDARD, 3/1/1998)

Neuneinhalb Sekunden Nabokov, eine Banane und ein Vanilleeis. Hollywoods jüngste "Lolita" verflacht Vladimir Nabokovs geist- und wunderreichen Roman mit großem Erfolg: Adrian Lynes Themenverfehlung hat nicht nur keine Provokationen zu bieten, sondern auch keine Vision vom Kinomelodram.
Ein blutbespritzter Jeremy Irons sitzt im Auto, ein einsamer Mann, umwölkt von melodramatischer Musik: Erstaunlich humorlos, gemessen an der literarischen Vorlage, die dem Treiben hier zugrunde liegt, startet der jüngste Versuch, aus Vladimir Nabokovs großem zynischen Text Kino zu machen. Adrian Lyne, Regisseur von Neuneinhalb Wochen, Jacob's Ladder und Indecent Proposal (und somit seit längerem schon Vertreter eines Kinos der Humorlosigkeit), verfügt stilistisch und gedanklich über nichts, was ihn zu einem Nabokov-Sachbearbeiter qualifizieren würde. In Hollywood war man offensichtlich anderer Meinung: Das Ergebnis, Lolita im Weichzeichner, spricht für sich.
Schon Stanley Kubrick, dessen bizarre Lolita- Adaption von 1962 mit dieser neuen eigentlich gar nicht erst in Zusammenhang gebracht werden sollte, schon Kubrick hat es - mit Absicht, möglicherweise - nicht zuwege gebracht, die singuläre Sprache, den Tonfall Nabokovs in Bewegungsbilder umzusetzen. Nun aber, im Licht der vorliegenden Lyne-Lolita, bietet sich Kubricks Verfilmung trotz allem als Gegenmodell an, als leuchtendes Vorbild im Umgang mit literarischen Texten.
Lolita erzählt, soviel ist bekannt, von der unglückseligen Besessenheit eines alleinstehenden Herrn, von der Liebe zu einem Mädchen, das er Lo nennt. Das Mädchen ist sehr jung, frühreif: eine kleine femme fatale , die die private Katastrophe des Nabokov-Helden Humbert Humbert schließlich auslöst.
Statt Kubricks James Mason gibt nun Jeremy Irons den unglücklich Liebenden, statt Sue Lyons steht (die durchaus passable) Dominique Swain als Titelfigur im Bild, und Shelley Winters wird bei Lyne nun durch Melanie Griffith ersetzt.
Der anbetende Blick dominiert Lynes neue Lolita , ein naheliegender Blick, der die ganze Trivialität des erotomanen Lyne noch einmal ausstellt: Im feuchten Gras liegt Humberts Lo, in sich versunken, mit Schulmädchen-Zahnspange während der ersten Begegnung im Garten, und in Zeitlupe starrt die Kamera immer wieder auf den Körper des Mädchens (und schon mal, ganz pubertär, auch unter den Rock), als läge allein darin schon, in der Verdoppelung des obsessiven Blicks Humberts, eine Art Subversion.
Lolita ist einen weiten Weg gegangen von Nabokovs vielschichtigem Roman zum bloßen Kinokunstgewerbe Lynes. Langwierig und kreuzbrav erzählt der Amerikaner seine Geschichte, ohne Ahnung offenbar, was damit anzufangen sein könnte, was in der Erzählung liegt, die er benützt: ein Gesellschaftsbild, ein Amerika-Porträt, oder auch eine große Gelegenheit, die herrschende Moral zu lähmen und auszustellen.
Nichts davon bei Lyne, der nur den Buchstaben folgt und die Situationen des Buches rekapituliert. Der überraschende Tod der zänkischen Mama Lolitas bietet der einseitigen amour fou ungeahnte Möglichkeiten: Irons und Ziehtochter begeben sich auf die Reise, in ein Road-Movie und in die Chance, allein zu sein, immer in Angst aber vor Entdeckung - und bald verfolgt von einem Fremden, die eine allzu enge Beziehung zwischen der Minderjährigen und ihrem nervösen Daddy insinuiert.
Lyne hastet von Station zu Station, um wenigstens die Eckpfosten der Erzählung noch erreichen zu können: Nabokov im Schnelldurchlauf, wie die geistesabwesende Pflichtnacherzählung eines Schülers, der den Text daheim nicht recht verstanden hat. Und vor jeder plastischen Darstellung hat Lyne offensichtlich Angst: Die Abblende rettet ein ums andere Mal den um Bilder verlegenen Filmemacher, der in einem Knutschfleck am Mädchenhals bereits die Spitze der Vulgarität, das Äußerste der Präsentation von Sex im Kino zu erblicken scheint.
Irgendwann während der Arbeit an Lolita muß Lyne gespürt haben, daß all das viel zu wenig sein wird: Aber weil ja in Hollywood alles eine message haben muß, blieb dem Filmemacher noch die Flucht nach vorn, direkt in die hohe Moral (die hier natürlich die lupenreine Doppelmoral ist), als wäre dem Erotomanen, der Lyne gern wäre, und Nabokov selbst nicht gerade die moralische Position die allerfernste. Irons ringt also, wo es geht, um menschliche Tragödie, ein Opfer seiner Neigungen und des bösen Teenagers an seiner Seite. Er schlittert, seine besondere Form der Charakter-Schmiere praktizierend, schließlich ins Eifersuchtsmelodram und in die Panik, während sein Regisseur mit Alptraumsequenzen, verwackelter Handkamera und allerhand Zerrlinsen stetig aufrüstet; bis nichts mehr übrig bleibt als das manieristische Opernkino Lynes, das keine persönlichen Merkmale kennt und im Epigonalen voll aufgeht: Vladimir Nabokov, in Richtung Null verdünnt.
Wo immer Lyne aber lustig sein will, ist seine Lolita am unerträglichsten: wenn Irons' Obsession sichtbar zu werden droht, auf der Hollywoodschaukel mit der frechen Kleinen; oder wenn der Slapstick ruft, mit dem der Alltag einen biederen Kinderliebhaber eben so versorgt. Und erotisch ist dieser Film in etwa so sehr wie die Lebensmittel, die Lyne - wie gewohnt (siehe Neuneinhalb Wochen) - zu Hilfe ruft, um "Sinnlichkeit" zu illustrieren: Ein Glas Milch hinterläßt in Lolitas Gesicht einen lustigen Bart, und ihr Vanilleeis mit Schokoladensauce löffelt sie ausgesprochen sexualisiert - und auf der Bananenschale, wie bei Chaplin, rutscht, stolpert, stürzt Irons schließlich ins Lotterbett Lolitas. Ein Mann, der gar nicht anders kann als tragikomisch sein: Hier immerhin treffen sich, für einen kurzen Moment, die Anliegen des Schriftstellers und des Filmemachers. Nur die Kunst trennt Lyne und Nabokov halt für immer. In den 137 Minuten dieser Lolita werden selbst nachsichtige Gemüter mehr als neuneinhalb Sekunden Nabokov beim besten Willen nicht finden können.
Alles ist künstlich in Lolita, die Auseinandersetzungen und die Dialoge, die Dekors und die Probleme: Mit dem Thema Kinderpornographie in Zusammenhang mit diesem Film aufzufahren, wie das derzeit wieder passiert, ist schon deshalb tatsächlich hirnrissig. Lynes Lolita, ein Melodram von einsamer Banalität, wird aber am Ende auch davon nicht besser. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 3/1/1998)

"Über Sex mit einer Leiche würde sich niemand aufregen"
Der "Lolita"-Regisseur Adrian Lyne über Pädophilie, die Scheinheiligkeit der amerikanischen Gesellschaft und die Opferrolle Humbert Humberts.
SPIEGEL ONLINE: Herr Lyne, Sie haben mit ihrem neuen Film "Lolita" nicht viel Glück: Der Film hat in den USA bis heute keinen Verleih gefunden, und es ist unklar, ob er dort überhaupt je in die Kinos kommen wird.
Lyne: Bei "Lolita" habe ich mehr Briefe von Agenten und aus den großen Studios bekommen, als bei allen meinen anderen Filmen. Diese Leute können ziemlich hart in ihrem Urteil sein, aber bei "Lolita" waren die Briefe allesamt sehr positiv. Und trotzdem haben sie alle Angst davor, den Film ins Kino zu bringen.
SPIEGEL ONLINE: Der Sony-Konzern hat seine Absage damit begründet, "Lolita" passe nicht ins gegenwärtige "politische Klima" Amerikas.
Lyne: Das "politische Klima" ist in Amerika momentan so, daß sechsjährige Schulkinder wegen sexueller Belästigung nach Hause geschickt werden, weil sie einem anderen Schüler einen Kuß gegeben haben. Und in Oklahoma durchsucht die Polizei Videoverleihe und sogar Wohnungen nach Kopien von Volker Schlöndorffs "Blechtrommel"-Verfilmung. Ein Film, der die "Goldene Palme" und einen "Oscar" gewonnen hat! Wegen irgendeiner kurzen andeutungsweisen Sexszene zwischen einem kleinen Jungen und einem Erwachsenen. Da überrascht es mich natürlich nicht mehr, daß ein Film wie "Lolita" keinen Verleih findet. Ich bin stolz auf den Film und halte ihn für einen der besten, die ich je gemacht habe. Aber nach all dem, was in Amerika passiert ist - wie auch zum Beispiel diesem Prozeß wegen Mordes an einem siebenjährigen Mädchen - ist "Lolita" plötzlich unauflösbar mit der ganzen Pädophilie-Diskussion verstrickt.
SPIEGEL ONLINE: Was fürchten die Verleiher denn so sehr an ihrem Film?
Lyne: Sie wollen nicht als jemand gesehen werden, der etwas unterstützt, was auch nur ansatzweise mit Pädophilie zu tun hat. Die Leute sind momentan von dem Thema geradezu besessen, in Amerika genauso, wie in Frankreich, Belgien oder in Deutschland. Dabei habe ich ja nur einen Romanklassiker verfilmt, der weltweit in Schulen und Universitäten gelesen wird.
SPIEGEL ONLINE: Das Buch gibt es in jeder Buchhandlung zu kaufen, aber niemand in Amerika traut sich, den Film ins Kino zu bringen.
Lyne: Es ist grotesk, ja. Offenbar soll ich so tun, als würde das Thema Pädophilie gar nicht existieren. Aber ich glaube, ein Film kann genauso wie ein Buch Diskussionen auslösen, die am Ende immer etwas Positives bewirken. Zu sagen, man dürfe über ein bestimmtes Thema weder reden noch einen Film machen, finde ich nicht nur lächerlich, sondern auch faschistoid.
SPIEGEL ONLINE: Ist "Lolita" denn nun ein Film über die Liebe oder über Pädophilie?
Lyne: Ich glaube über beides. Was ich an Nabokovs Roman so schön finde, ist der Balanceakt, den die Romanfiguren ausführen. Es gibt Szenen, da denkt man sich: Oh Gott, wie ekelhaft, was dieser Typ dem Kind antut. Und an einer anderen Stelle lacht man über Humbert Humbert oder empfindet Mitleid mit ihm. Die Beziehung von Lolita und Humbert ist ein Machtkampf, bei dem Lolitas Position immer stärker wird. Einer der Gründe, warum ich "Lolita" verfilmen wollte war, daß Kubricks Verfilmung den Roman meiner Meinung nach nicht richtig widerspiegelte. Bei Kubrick ist Humbert nichts als ein abscheulicher, verachtenswerter Typ, den man nur hassen kann. Aber Nabokovs Roman ist viel ambivalenter.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Lolita erscheint ein paar Jahre älter als die Nabokovs.
Lyne: Am Anfang des Films ist sie fast 13, am Ende ist sie 17 Jahre alt und schwanger. Mein Problem war es, für die Rolle jemanden zu finden, der glaubhaft sowohl eine 13jährige als auch eine schwangere 17jährige spielen konnte. Ich konnte also keine zu junge Schauspielerin nehmen, sonst hätte sie das Ende nicht mehr spielen können. Zu Drehbeginn war Dominique Swain gerade 15 und ich glaube schon, daß sie auch im Film zum Teil wie eine 13jährige aussieht.
SPIEGEL ONLINE: Was ist es dann überhaupt, was Humberts Verhalten unmoralisch macht? Nur das Alter Lolitas?
Lyne: Ja, wenn man nach den Maßstäben geht, die hier und heute gelten, dann nehme ich an, daß es das Alter ist. Ich glaube, der Grund dafür, daß die Amerikaner so viel Angst vor "Lolita" haben, ist, daß ihnen das Thema einfach naheliegender erscheint. Ein Film über Nekrophilie etwa würde niemanden irritieren und über eine Sexszene mit einer Leiche würde sich auch niemand aufregen.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen also, Sex mit Minderjährigen entspricht eher den bewußten oder unbewußten Wünsche vieler?
Lyne: Ja, vielleicht. Nicht von jedem natürlich. Ich glaube, es gibt da eine Grauzone. In Amerika hält man es für bequem zu denken, Sexualität sei etwas, das mit dem Beginn der Volljährigkeit durchs Fenster geflogen kommt. Das ist natürlich Unsinn. Sexualität entwickelt sich Stück für Stück im Leben eines Menschen, mit elf oder zwölf Jahren, oder sogar mit neun oder zehn oder noch früher. Man wird sich allmählich seiner Sexualität bewußt, ohne anfangs zu wissen, was eigentlich dahinter steckt. Eine solche Unerfahrenheit auszunutzen, ist sicherlich furchtbar. Aber ich glaube eben, daß die Amerikaner auch deshalb vor dem Thema Pädophilie so viel Angst haben, weil ihnen das alles nicht so fern liegt.
SPIEGEL ONLINE: Halten Sie Humberts Verhalten denn überhaupt für unmoralisch?
Lyne: Da muß ich natürlich ja sagen.
SPIEGEL ONLINE: Heißt das, Sie müssen mit Ihren Äußerungen vorsichtig sein, um die Diskussion über Ihren Film in Amerika nicht noch anzuheizen?
Lyne: Nein, nein. Ich glaube wirklich, daß es verkehrt ist, was Humbert mit Lolita gemacht hat: Ich glaube, es ist falsch, wenn ein 40jähriger Mann ein zwölfjähriges Mädchen bumst, das nicht weiß, was es eigentlich tut.
SPIEGEL ONLINE: Kann es sein, daß Sie für "Lolita" keinen Verleih in den USA gefunden haben, weil Jeremy Irons als Humbert Humbert in Ihrer Verfilmung einfach zu sympathisch wirkt?
Lyne: Nein, ich glaube eher, daß irgend jemand von den großen Studios meint, das Thema Pädophilie verkaufe sich schwer. Alles, was man zur Zeit in der Zeitung liest, dreht sich um Pädophilie. Und Pädophilie ist so etwas wie das letzte große Tabu: Du kannst in einem Film unzählige Menschen über den Haufen schießen und ihr Gehirn in der Gegend herum spritzen lassen - die Leute würden sich einen Dreck darum scheren. Ich finde es aber zu einfach, Humbert nur als Haßobjekt darzustellen. Die Amerikaner hätten es gerne einfacher, sie schreien gerne: Hängt ihn auf! Aber dafür zum Beispiel, daß 1997 in Texas an mehr Leuten die Todesstrafe vollzogen wurde, als jemals zuvor seit den zwanziger Jahren, dafür interessiert sich hier niemand.
Das Gespräch führte Peter Zöttl. (SPIEGEL ONLINE 1/1998)

Ein Mann jenseits der 40 verfällt einer Zwölfjährigen, heiratet deren Mutter, treibt die Ehefrau in den Tod und beginnt ein Verhältnis mit dem Kind. Vladimir Nabokov hat vor 40 Jahren aus dieser Horrorstory ein Kunstwerk destilliert. Der Rang seines Romans „Lolita“ ist unumstritten.
Bei Adrian Lynes Neuverfilmung des Stoffs kommt nie der Gedanke an Kunst auf. Das ist durchaus verwunderlich, weil er sich streckenweise fast sklavisch an die Literaturvorlage hielt. Aber Lyne hat nur das Wort, nicht jedoch den Geist des Romans erfaßt. Und die Kamera wirkt demaskierend: Zu sehen ist die Geschichte eines psychisch abseitigen Mannes, der dringend einen Therapeuten braucht, aber gewiß keine kindliche (und kindische) Bettgenossin.
Assoziationen zu Reportagen über reale Fälle von Kindesmißhandlung sind unvermeidlich. Ein Debakel auf allen Linien: Lyne (“9 Wochen“) trägt mit seinem gelackten Filmstil zum Fiasko bei; Hauptdarsteller Jeremy Irons beschränkt sich darauf, mit Dackelblick still dahinzuleiden. Fazit: Einer der uninteressantesten Filme des Jahres - der in den USA aus den falschen Gründen (Puritanismus) keinen Verleiher findet. (KURIER)

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SPICEWORLD - DER FILM (SPICEWORLD - THE MOVIE)

GB 1997. 91 Min
Regie: Bob Spiers, Buch: Kim Fuller, Musik: Paul Hardcastle, Kamera: Clive Tickner, Schnitt: Andrea MacArthur, Darsteller: Emma Bunton (Emma), Geraldine Halliwell (Geri), Melanie Brown (Mel B), Melanie Chisholm (Mel C), Victoria Adams (Victoria), Richard E. Grant, Claire Rushbrook, Meatloaf, Roger Moore
Kinostart: 2/1/1998

Eine der Selbstverständlichkeiten des Showgeschäfts besteht in der Eigendynamik seines Merchandise-Apparates: ab einer bestimmten Anzahl verkaufter Artikel vollzieht sich die Entwicklung anderer Produkte fast zwangsläufig. Oder anders: Geht eine Geschäftsidee innerhalb der einen Unterhaltungsbranche auf, wird diese sofort auf andere Branchen ausgeweitet. Die "Spice Girls" waren mit ihrer 4,5 millionenfach verkauften Debütsingle "Wannebe" 1996 sofort ein Markenartikel - absolut folgerichtig, daß es nur ein Jahr später bereits einen großen Kinofilm zu diesem marktstrategischen Geniestreich gibt. Wiederum genauestens kalkuliert fungiert dieser Film als flankierende Werbemaßnahme zur parallel erscheinenden zweiten CD des Gesangsquintetts: Filmplakete werben für das gleichnamige Album und umgekehrt. Im Film werden die fünf stets gutgelaunten Mädels in ihrem durch London kurvenden Tour-Bus begleitet. Ein lang erwartetes Konzert in der ehrwürdigen Royal Albert Hall droht aus mehreren Gründen zu platzen, findet aber letztlich in triumphaler Weise doch statt. Weder die Streitigkeiten mit ihrem Manager oder die Intrigen einer hämischen Boulevard-Zeitung noch die nervenden Attacken eines Fernsehteams oder die Entbindung ihrer besten Freundin halten den Siegeszug auf. Daneben gibt es noch einen mysteriösen Geldgeber, ein Ufo mit Außerirdischen, eine Gondelpartie, die ebenso obligatorischen wie harmlosen Angriffe auf Kirche, Militär und Krone sowie eine Handvoll Cameo-Auftritte, z.B. von Bob Geldof, Gary Glitter, Bob Hoskins und Elton John.
Natürlich bildet die dünne Handlung lediglich ein Gerüst, um die zahlreichen Musiknummern der "Spice Girls" auffädeln zu können. In einer davon heißt es sinngemäß: "If you want my future, forget my past." Das ist nur zu logisch, denn es gibt gar keine Vergangenheit dieser Gruppe, abgesehen von den Planspielen am Computer ihres Managers. Wie die "Boys Groups", ihren maskulinen Vorläufern, stellen sie ein Ensemble verschiedener Typenmuster dar - die Sportive, die Exotische, die Strenge, die Infantile, die Mütterliche - , um beim Publikum höchstmögliche Kompatibilität zu erzielen. Musikalische Momente sind sekundär, werden von einer anonymen Gruppe im Hintergrund geliefert. Bereits mit den ersten Sequenzen verweist "Spiceworld" auf Traditionen des britischen Musikfilms, speziell auf die Beatles mit "A Hard Day's Night" (fd 12 877). Obwohl zwischen diesen beiden Filmen tatsächlich äußerliche Ähnlichkeiten bestehen, offenbart der Vergleich den Wertewandel der letzten 30 Jahre sehr deutlich. Was damals unmittelbarer Ausdruck eines allumfassenden Paradigmenwechsels war, präsentiert sich heute als Projektionsfläche einer perfekt austarierten Zitatenmaschinerie. In dieser Hinsicht ist "Spiceworld", wenn man so will, postmodern. Das Prinzip der "Fun Culture" besteht ja im unablässigen Reproduzieren fremdgefertigter Kulturfragmente, ohne dabei auch nur einen einzigen Gedanken mehr an deren eigentliche geistige Inhalte zu verschwenden. Auf diese Weise entsteht ein buntes, möglicherweise effektvolles Patchwork aus lauter Oberflächen, deren Wirkungsdauer mit der Länge des jeweiligen Musikstückes oder Films zusammenfällt. Es wäre schon zu viel, dabei von einer bewußten Verabschiedung von den Inhalten zu sprechen - Phänomene wie die "Spice Girls" funktionieren 1 : 1 und entsprechen den zugrundeliegenden Realitäten deckungsgleich. Sie sind mithin durchaus als "ehrlich" zu bezeichnen: Grelle Polaroids aus den späten 90er Jahren mit möglicherweise sehr rasch verblassenden Farben. (Claus Löser, film-dienst)

Frauenpower vom Reissbrett. «Spiceworld - The Movie»: mediale Überdosis statt filmisches Denkmal
Nachdem die englische Girlgroup Spice Girls die internationalen Hitparaden mit seichten Gesangskünsten überspült hat, beschert sie der Fangemeinde nun einen Kinofilm. Nicht viel mehr als ein weiterer Merchandisingartikel im Spice-Katalog der Videos, Bücher, Playstations, Puppen, Suppen, Deos und Bettbezüge.
Der Vorspann beginnt mit Silhouetten von Frauenkörpern, die sich rhythmisch zu balladesken Popklängen bewegen. Eine Ähnlichkeit mit dem Titeldesign der James-Bond-Filme ist offensichtlich. Dass hier die britische Populärkultur gefeiert wird, verdeutlicht sich schon in den ersten Metern Filmstreifen. Dann werden die Umrisse schärfer, und noch ein Stolz des Vereinigten Königreichs wird zur Schaubühne gnadenloser Selbstinszenierung von fünf Mädchen: Die Spice Girls befinden sich bei einem Auftritt von Top Of The Pops, Britanniens legendärster Hitparadenshow seit Jahrzehnten, und trällern seichten, einwandfrei arrangierten Spülpop.
Geri, Victoria, Emma, Mel B. und Mel C. Die Vornamen erscheinen im Vorspann. Die Nachnamen Halliwell, Adams, Bunton, Brown und Chisholm braucht der Fan nicht zu kennen, hingegen jedoch ihre Übernamen: Ginger, Posh, Baby, Scary und Sporty. Denn diese Merkmale bezeichnen die Images der pikanten Mädchen. - Chart-strategisch ein kluges Vorgehen: Im Samplingzeitalter, in dem alle synthetisierten Bands ihre Retortenherkunft verleugnen und nach Rock- Authentizität japsen, stilisieren sich die Spice Girls zu Kunstfiguren und Marketingwundern. Mit ihren Verkleidungen zementieren sie Eigenschaften, die schnell zu erfassen sind. Ginger Spice Geri gibt sich meistens im Outfit eines Pin- up-Girls. Mel B. kleidet sich vorzugsweise in Leopardenmuster, um ihrem «scary image» gerecht zu werden. Baby Spice Emma kokettiert im Babydoll, Sporty Spice Mel C. im FC Liverpool-Trikot. Die fünfte im Quintett nennt sich Posh Spice. Posh heisst soviel wie piekfein, im negativen Sinne bezeichnet das Wort Spice Girl Victoria als das oberflächliche Mode-Tussi des Quinternio infernale. «Girl Power» proklamieren sie, kämpfen mit Pumps, Stilettos und Plateauschuhen für Selbstrespekt und Freiheit.
«Spiceworld - The Movie» heisst der überlange Videoclip, der von Regisseur Bob Spiers hastig inszeniert wurde. Die Idee zum Film stammt vom ehemaligen Manager der Mädchen, Simon Fuller. Das Drehbuch schrieb dessen Bruder Kim, ein Gaglieferant für englische Comedy- shows, innert eines Jahres, gedreht wurde während 43 Tagen. Man stand unter Zeitdruck. Denn wie lange können sich die Spice Girls im Popbusiness noch halten, wann kommt der endgültige mediale Overkill? Diese Schnelligkeit macht sich im schludrig produzierten Film durch holprige Schnitte und übersteuerte Gekreischpassagen bemerkbar. Eine Story ist nicht ersichtlich, aber wen interessiert's? Hauptsache, die Fans sehen ihre Idole in ständig wechselnder Garderobe, die nach Proben und Parties ihrem grossen Auftritt in der Royal Albert Hall entgegenhühnern. Dazwischen werden sie mit aufdringlichen Journalisten, megalomanischen Verlegern, einer schwangeren Freundin und einem aufgekratzten Manager fertig, der von Richard E. Grant in üblicher hysterisch-neurotischer Manier dargestellt wird. Nicht einmal die Cameo-Auftritte verschiedener Grössen aus der Film- und Musikszene können den langen Werbespot für ihr neues Album aufpeppen. Dabei heisst doch die erste Single-Auskopplung «Spice Up Your Life!». Die notwendige Selbstironie für eine solch aseptische Pop-Satire ist nur in wenigen Momenten zu spüren. Etwa dann, wenn «Richter» Stephen Fry die Spice Girls in einer Traumsequenz zur Erfolglosigkeit verurteilt oder der Manager Clifford herumnervt: «Das ist kein Rock'n'roll. Rock'n'roll ist, wenn man die ganze Nacht aufbleibt, verprügelt wird und Fernseher aus dem Hotelzimmer schmeisst.»
Dennoch vergleichen die Produzenten «Spiceworld» mit Richard Lesters Beatles-Filmen «A Hard Day's Night» und «Help». Ob die fünf Spice Girls auf die Nachwelt die gleiche Wirkung hinterlassen werden wie die vier Jungs aus Liverpool, ist jedoch mehr als fraglich. (Andrea Vogel, Neue Zürcher Zeitung, 15/1/1998)

Die Spicegirls spalten die Nation seit ihrem Erscheinen in zwei Lager: Für die einen sind sie die Popsensation 1997 und für die anderen fünf mäßig talentierte Gören,die perfekt vermarktet werden. Egal auf welche seite man sich schlägt, kalt lassen die quirligen Girls, so scheint's, niemanden. Ihr Debütalbum schlug in die internationalen Charts mächtig ein. Es folgten PR-Maßnahmen,die von brauner Blubberbrause bis zum Deo so ziemlich alles mit dem Namen der Band vermarkteten. Da war es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis es auch noch einen Film über sie gibt.
Spiceworld – Der Film ist eine Persiflage auf das verrückte und hektische Leben der Mädchen. Fünf Tage lang dürfen die KinobesucherInnen das Quintett durch London begleiten, zu PR-Auftritten, Fototerminen, langweiligen Partys und den Proben zum ersten Liveauftritt in der alt ehrwürdigen "Royal Albert Hall". Als wäre das nicht alles schon aufregend genug, muss ncoh dem Baby der besten Freundin der Mädels auf die Welt geholfen werden. Die Presse bekommt in dem schrillen Streifen ziemlich ihr Fett weg. Der sabbernde Chefredakteur eines Boulevardblattes nutzt jede auch noch so kleine Chance, den neuesten Skandal in dicken Lettern zu verkünden und wird dabei von einem cleveren Paparrazo unterstützt, der auch vor Kloschüsseln nicht zurückschreckt, um seine Skandalfotos schießen zu können. Eigentlich wollen Mel C, Mel B, Emma, Victoria und Geri ja nur Spaß. Aber wie soll man Spaß haben, wenn einem ein Manager auf den Keks geht, dessen Nerven blank liegen, außerirdische Fans unbedingt Autogramme wollen und einem übereifrige TV-Fritzen Muskelprotze in Badehosen zur Seite stellen? Ihre Antwort auf alle heiklen Fragen des Lebens – Girlpower!
Spiceworld ist witzige und schnelle Unterhaltung. Mit einigen verbalen Seitenhieben auf die britischen Soaps, die aber leider bei der deutschen Synchronisation, wie überhaupt der typisch britische Humor, ziemlich auf der Strecke blieben. Trotzdem gibt es aber noch viel zu lachen. Neben den Mädels, die sich ständig über ihr Image aufregen, sind u.a. noch Meatloaf (als Fahrer des verrückten Spicebusses), Ex Mr. Bond Roger Moore (als der große Boss im Hintergrund) und Richard E. Grant (in der Rolle des gestressten Managers) zu sehen. In Cameos treffen die Spicegirls auf Elton John und Bob Geldorf, dem Mel B gleich noch eine neue Frisur verpasst.
Auch wenn der Rummel um die Mädchen und den Film groß ist, bleibt abzuwarten, ob Spiceworld der erhoffte Erfolg wird. Eins ist klar, man muss die Girls schon irgendwie mögen, um den Film unbeschadet zu überstehen. In diesem Sinne: Spice up your life! (queerview)

Acht Tage in der Woche! "Spiceworld": Halbwegs rasant zeichnen Bob Spiers und Kim Fuller den "Alltag" der Spice Girls. Ein als lebenslänglicher Spaß getarntes Plädoyer für die Acht-Tage-Woche.
Sie heilen autistische Kinder und küssen Außerirdische, sie wirken als Hebammen-Quintett, fahren mit ihrem knallbunten Autobus (mit Union Jack) durch ein swingendes London und lassen kreischen: die Spice Girls, Pop-Komtessen eines Vereinigten Königreiches, das sich derzeit in (hoffentlich) self-fulfilling prophecies des Optimismus ergeht. Tony Blair hat Pop zum nationalen Interesse erklärt, wohl wissend, daß dieser nicht nur wesentlicher Exportartikel ist, sondern auch die Stimmungslage der Nation beeinflußt. Das Popband-Match Oasis gegen Blur hat so eine weitere Bedeutung gewonnen: die wortkargen Aufbruchskünder gegen die grauen Raunzer.
Die Spice Girls, daran läßt Spiceworld keinen Zweifel, haben für Raunzen weder Zeit noch Lust. Drehbuchautor Kim Fuller und Regisseur Bob Spiers jagen sie durch einen Film, der auf Handlung großzügig verzichtet - und statt dessen das Thema des Pop auf seine simpelste Form bringt: hier der exklusive Pop-Clan in all seinem Glanz, seiner undurchdringlichen Aura der Hipness, dort der traurige Rest der Welt. Sogar Elton John bleibt nichts anderes übrig: Er muß den Spice Girls ein (etwas verquältes) Lächeln spenden.
"Are you part of the Spice phenomenon ?", fragt ein Türsteher, ein Zerberus zwischen diesen beiden Sphären. Wer darauf nein sagen muß, läßt alle Hoffnung fahren. Die magische Formel heißt: The young, the cute, the hip. Diese Formel haben die Manager der Spice Girls und die Macher dieses Films völlig berechnend aus Vorbildern der sechziger Jahre übernommen: Richard Lesters Beatles-Film A Hard Day's Night wird sogar im Presseheft offenherzig als Inspiration für Spiceworld angeführt.
Wie einst die Beatles, so sind auch die Spice Girls, sagt uns Spiceworld, zwar Getriebene in einem Unterhaltungszirkus, zugleich aber autark, weil unersetzlich. Sie machen Überstunden, aber freiwillig: Eight Days A Week, wie's bei Lennon/McCartney heißt. Ihr Leben ist die Arbeit, sie sind ohne perfekt geschnürten Wonderbra und exakt auf den Mondstand abgestimmte Schminke gar nicht möglich. Wer sie in einem privaten Moment zu ertappen meint, erliegt einer Illusion. Und wie Ringo Starr in A Hard Day's Night nur entkommen durfte, um den Solo-Clown zu spielen und als solcher wieder eingefangen zu werden, rennen auch die Spice Girls vor ihrem hektischen Manager (ziegenbärtig und scharf outrierend: Richard E. Grant) davon, nur um sich in einer weiteren Einstellung ihrer lebenslänglichen Image-Inszenierung zu finden: Es gibt für sie kein Leben außerhalb der Spiceworld, Punkt.
Ist dieser Film also ein würdiger Nachfolger von Lesters Meisterwerk? Nicht wirklich. Dafür fehlt es ihm doch an Witz, an Originalität, an Rhetorik. Absurde Szenen wie die mit Paul McCartney und seinem falschen Opa wird man in Spiceworld vergebens suchen, und die (karg gesäten) guten One-liners kommen nicht von den Girls, sondern von Roger Moore als Boss der Spice- Industrie. Insofern ist es, Girl Power hin oder her, doch noch eine Man's World.
Freilich setzt es einige mit Adrenalin gewürzte Musikszenen (etwa eine heftige Version von Gary Glitters "I'm the Leader of the Gang"), doch die eingebauten Video-Clips werden, bei allem Kostümwechsel, mit der Zeit (knappe eineinhalb Stunden) langweilig. Genauso wie der glockenhelle, mädchenhaft kichernde Optimismus, der - neben dem grundlegenden Faktum, daß sie fürchterlich hip sind und keinen hype scheuen - die einzige faßbare Botschaft der Spice Girls bleibt. "All you need is positivity!", rufen sie: Das Leben ist zwar, siehe oben, eine Arbeit, aber dabei doch eine Hetz. "Dedication, celebration, animation, good vibration, motivation, domination, baby nation, recreation, imagination, crazy nation", heißt es im Song "Move Over". Das vielfältige Reimlexikon der Affirmation... (Thomas Kramar, DIE PRESSE, 3/1/1998)

„Können Paten-Tanten Schwangerschaftsstreifen kriegen?“ Ach. Dieses müde Scherzlein ist einer der Höhepunkte von „Spice World - Der Film“. Die Spice Girls tun so, als wäre die Streifen-Frage eine intellektuelle Herausforderung. Außerdem tun sie so, als könnten sie schauspielen (können sie nicht!) und so, als könnten sie singen (worüber sich diskutieren ließe). Viele mimische Stichwortgeber geben im übrigen vor, sie wären von vollendeter Blödheit geschlagen, und weil immer die Kamera dabei war, wurde ein Film draus.
Eine Komödie? Ein musikalisches Lustspiel? Nein: Am ehesten wohl ein Spin off, jene moderne Kunstrichtung, deren Ziel es ist, eine unversiegbare Geldquelle gleich doppelt sprudeln zu lassen. Frei nach dem Motto: Wenn die Spice Girls schon in der Popmusik Abermillionen abcashen, muß das auch im Kino möglich sein. Wird schon stimmen. Und die Hits der Spice Girls sind natürlich der Gradmesser für den Film: Wem die am Ohr vorbeigehen, der wird unter „Spice World“ leiden.
Wer sie hingegen liebt, der bekommt einen 90-Minuten-Startreff mit seinen Idolen. Da ist es dann egal, daß das Drehbuch so dünn ist wie eine Wassersuppe. Ähnlich wie der legendäre Beatles-Film „A Hard Day’s Night“ liefert „Spice World“ einen Blick hinter die Kulissen ins Alltagsleben der Stars. Zu sehen sind: Die Girls mit ihrem närrischen Manager, mit ihrem feldwebelhaften Tanzlehrer, mit ihren furchtbar bösen Widersachern aus der Paparazzi-Presse.
Wenn der Story die Luft ausgeht (also alle paar Minuten), wird wie ein Videoclip eine Traumsequenz eingeschnitten. Mit Zitaten aus allen Film-Genres von Horror bis Science Fiction. Das einzig wirklich Komische: Der Film läßt die Sexy Girlies in einer vollkommen erotikfreien Zone agieren. Kein einziger Mann kommt den Mädchen bis auf Kußweite nahe. (KURIER)
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