USA 1998. 113 Min
Regie: Victor Nunez,
Buch: Victor Nunez,
Musik: Charles Engstrom,
Kamera: Virgil Mirano,
Schnitt: Alberto Garcia,
Darsteller: Peter Fonda (Ulee Jackson), Patricia Richardson (Connie Hope), Christine Dunford (Helen Jackson), Tom Wood (Jimmy Jackson), Jessica Biel (Casey Jackson), Vanessa Zima (Penny Jackson), Steven Flynn (Eddie Flowers), Dewey Weber (Ferris Dooley), J. Kenneth Campbell (Sheriff Bill Floyd)
Kinostart: 8/5/1998
Mit reichlich Verspätung startet "Ulee`s Gold" in Deutschland (US-Start 13. Juni 1997). Peter Fonda (der Sohn von Henry) stellt einen ehrbaren Bienenzüchter in dritter Generation dar. Sein Sohn Jimmy (Tom Wood) sitzt im Gefängnis und auch seine Schwiegertochter Helen (Christine Dunford) ist vom geraden Weg abgekommen. Ulee ist jedoch bereit, ihr zu helfen und holt sie aus den Händen der unfähigen Soziopathen. Doch das Zusammenleben der beiden führt zum Konflikt. Dabei steht Ulee die hilfreiche Nachbarin (Patricia Richardson) zur Seite.
Eine packende Beschreibung und professionelle Darstellung der Charaktere macht den Film sehenswert. In die Handlung werden immer wieder Bezugspunkte zum Bienenvolk gezogen, die es ermöglichen, in das Innere Ulee`s Einblick zu erhalten. (film.de)
Ein Bienenzüchter in den Sümpfen von Florida, der bereits für seine beiden Enkelinnen sorgt, muß seine drogensüchtige Schwiegertochter aufnehmen und mit den Problemen seines inhaftierten Sohnes fertigwerden. Das behutsam unter die Oberfläche dringende Porträt eines einfachen, aufrechten Menschen und seiner Zeitumstände, mit viel Gespür für die kleinen Dinge und verborgenen Gefühle inszeniert und von Peter Fonda bemerkenswert unaufdringlich gespielt. Ein beachtlicher Film abseits aller Hollywood-Klischees. (Kinotip der katholischen Filmkritik)
In der Szene der amerikanischen Independents, der von Hollywood unabhängigen Filmemacher, ist Victor Nunez einer der beständigsten und kompromißlosesten. Schon nach seinem vielversprechenden Erstlingsfilm "Die junge Frau" (1979, fd 22 761) hätte er einen Vertrag mit Universal in der Tasche haben können, aber der eigensinnige Regisseur dachte nicht daran, sich an ein Studio zu verkaufen. Von Leuten, die an sein Talent glaubten, trieb er immer wieder Geld auf, um alle paar Jahre einen Film drehen zu können. Ökonomisch und mit viel Selbstvertrauen schreibt er seine Drehbücher selbst, produziert, führt Regie, steht meist auch noch hinter der Kamera und macht den Schnitt. Er verläßt sich auf Sujets, von denen er etwas versteht. Alle seine Filme spielen in Florida, in deren wenig populärer Hauptstadt Tallahassee Nunez lebt, und in ihrem Mittelpunkt stehen Menschen, deren Denken und Handeln das Thema ist, ohne daß darüber die Reibungen am politischen und sozialen Umfeld verlorengehen würden. Nunez war schon dabei, als vor 20 Jahren das heute einflußreiche und allgemein anerkannte "Independent Feature Project" und das "Sundance Institute" gegründet wurden. 1993 erhielt er für den Film "Ruby in Paradise" - einen seiner besten, der unverständlicherweise in Deutschland nie herausgebracht wurde - den Grand Jury Prize beim Sundance Festival in Park City. Wem Victor Nunez bisher noch kein Begriff ist, der sollte mit dessen neuem Film "Ulee's Gold" versuchen, Zugang zu einer geistigen Welt zu finden, von der kaum vorstellbar ist, daß sie in demselben Land existiert, das die Sinne des Kinopublikums mit "Independence Day" und "Con Air" zu betäuben pflegt.
Bei Nunez und vor allem bei "Ulee's Gold" muß man nämlich noch genau hinsehen, muß man bereit sein, die vielen leisen Zwischentöne wahrzunehmen, darf man Handlung nicht mit Action gleichsetzen. Obwohl der Ton von Dolby ist und der einstige "Easy Rider"-Star Peter Fonda die Hauptrolle spielt, entspricht "Ulee's Gold" so wenig unserer Vorstellung vom amerikanischen Film, wie etwa die Poesie May Angelous mit den Romanen eines John Grisham zu tun hat. Ähnliches gilt für die Hauptfigur Ulysses Jackson, einen Bienenzüchter in den Sümpfen von Florida, der rein gar nichts mit Hollywoods Filmhelden gemein hat. Dieser Ulysses Jackson macht es dem Publikum nicht leicht, Kontakt zu ihm zu finden. Er ist ein Mann in den Fünfzigern, der vor sechs Jahren seine Frau verloren hat und an einer Gehbehinderung aus dem Vietnamkrieg leidet, dessen Sohn im Gefängnis sitzt, dessen Schwiegertochter drogenabhängig ist und der wohl oder übel seine beiden Enkelinnen aufziehen muß. Ulee, wie man ihn nennt, macht sich keine Illusionen. Er tut seine tägliche Arbeit ohne Klagen, aber er hat auch nicht mehr viel an Liebe und Herzlichkeit zu geben. Sein Alltag gleicht einem strengen Ritual, für das die harten, aber stereotypen Verrichtungen seines über Generationen vererbten Gelderwerbs einen passenden Hintergrund abgeben. Doch eines Tages wird Ulees Leben auf den Kopf gestellt. Sein Sohn bittet ihn, sich der Schwiegertochter anzunehmen. Mit ihr lädt sich Ulee nicht nur eine Drogensüchtige mit all den damit verbundenen Problemen auf, sondern auch die bedrohlichen Nachstellungen von zwei Gangstern, die einst mit seinem Sohn gemeinsame Sache gemacht haben und nun hinter der irgendwo im Wald vergrabenen Beute her sind. Die Situation zwingt den Eigenbrötler, das Visier hochzuklappen, hinter dem er sich vor der Umwelt in Sicherheit zu bringen versucht. Seine selbstverständliche Rechtschaffenheit erscheint Ulee angesichts der Ereignisse als ein höchst relatives Gut, und seine innere Abkapselung - Flucht vor sich selbst und vor den eigenen Gefühlen - gewährt keinen Schutz mehr.
"Ich konzentriere mich auf das, was vor der Kamera passiert, nicht auf die Kamera selbst", hat Nunez in einem Interview gesagt. Das und: "Wir sind dabei, das Bewußtsein vom Wunder des täglichen Lebens zu verlieren." Bessere "Gebrauchsanweisungen" für die Rezeption seiner Filme gibt es nicht. Die zwei Sätze summieren alles: die Unterordnung des Stils unter die Thematik, die dienende Funktion des Filmemachens im allgemeinen, die Offenheit für die kleinen Dinge und die verborgenen Gefühle. Nunez gehört zu den immer seltener werdenden Filmemachern, denen äußerer Aufwand verhaßt ist, deren Filme aber durch einen immensen Reichtum an Detailbeobachtungen und an menschlicher Wärme aufblühen. Die Vorzüge seiner Arbeitsweise erschließen sich nicht immer gleich aus den ersten Bildern (am wenigsten bei "Ulee's Gold"), sondern sie bedürfen der Geduld, des Einlassens auf seine behutsame Erzählweise und des Willens, völlig zu vergessen, wie amerikanische Filme für gewöhnlich zu funktionieren pflegen. Für die Rolle des Ulysses Jackson hat Nunez in dem lange Zeit quasi arbeitslosen Peter Fonda den idealen Partner gefunden. Weit entfernt von jeder Starallüre spielt Fonda den Part mit einer geradezu stoischen Verschlossenheit, die kaum gestattet, daß sich sein Mund einmal zu einem Lächeln verzieht. Um so schwerer wiegen die kleinen Reaktionen, aus deren Summe sich allmählich das Porträt zusammensetzt, das Nunez von Anfang an vorgeschwebt haben muß. In ihrer Beherrschtheit und Unaufwendigkeit ist dies eine der ganz großen Darstellerleistungen des letzten Filmjahres, jenseits der wahrnehmbaren äußeren Ähnlichkeit dem Vorbild des Vaters - Henry Fonda - in John Fords "Früchte des Zorns" (fd 2636) und in Hitchcocks "Der falsche Mann" (fd 6058) vergleichbar. (Franz Everschor, film-dienst)
Ein in sich gekehrter Imker wird von den Frauen seiner Umgebung aus der Isolation zurückgeholt, um eine gefährliche Situation zu überstehen und die Familie wieder zusammenzukitten.
Ulee Jackson, Chef und einziger Mitarbeiter einer kleinen Imkerei im Marschland von Florida, lebt nach dem Tod all seiner Freunde in Vietnam und dem Verlust seiner Frau zurückgezogen in seiner jegliche zur Verfügung stehende Kräfte verzehrenden Arbeit. Sein Sohn Jimmy steckt seit einem missglückten Banküberfall hinter Gittern, dessen Frau Helen hat ihre Familie verlassen. Ulee zieht deren beiden Töchter Penny und Casey eher verbittert auf.
Eines Tages wird die langsam schwelende Unzufriedenheit von Großvater und Enkelinnen gestört, als Jimmy seinen Vater um Hilfe bittet: Helen stecke in Schwierigkeiten. Ulee bricht nach Orlando auf, um seine mental angegriffene Schwiegertochter aus der Obhut alter Freunde des Ehepaares abzuholen. Es stellt sich heraus, dass diese Freunde, Eddie und Ferris, an dem Bankraub beteiligt waren und soeben herausbekommen haben, dass es Geld gibt, das Jimmy vor seiner Festnahme beiseite schaffen konnte. Dieses fordern sie nun ein: Wenn Ulee es ihnen innerhalb einer Woche nicht beschaffen könne, sähe dies schlecht für die in seiner Obhut stehenden Enkelinnen aus.
Die kommende Woche wird für den abgespannten Mann zum Prüfstein seiner Kräfte. Die Hochsaison der Honigernte hat begonnen, von der die Existenz seines Haushaltes abhängt. Er muss seine psychisch überlastete Schwiegertochter pflegen, die unter normalen Umständen längst hätte eingewiesen werden müssen. Und er muss das Geld finden und mit zwei Schwerverbrechern fertig werden.
Doch es kommt Hilfe von unerwarteter Seite. Die Nachbarin Connie Hope, die mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen hat, steht Ulee zur Seite und die Familie rafft sich auf, ihre zerrissenen Verbindungen wieder zu flicken...
Die Bedrohung durch Eddie und Ferris ist sehr real, nimmt aber nur einen untergeordneten Rang in der Geschichte um die Selbstfindung des introvertierten Bienenzüchters ein. Denn dieser Film wird von den Charakteren vorangetrieben. Allen voran Ulee, von dem dessen Darsteller Peter Fonda weiß, dass er der beste Charakter ist, den er je gelesen hat. "Das ist eine Sorte von Rollen, für die du Geld zahlst, um sie spielen zu dürfen."
Schmerz, Verlust, Unverständnis und Enttäuschung sind die dominierenden Gefühle Ulees gegenüber seinen Mitmenschen, denen lediglich aufgrund der Umstände noch ein Platz in seinem Leben eingeräumt wird. Als Folge hat sich Ulee einen dicken Mantel umgelegt, mit dem er jegliche Störungen abwehrt. Doch die Geschehnisse sind diesen Sommer größer als er selbst. Ulee muss aus seinem Schneckenhaus herausfinden und handeln, seiner Verantwortung gegenüber seiner Familie einen neuen Sinn geben. Spontan bricht seine Verachtung für seine Schwiegertochter hervor, die ihre Töchter zurückließ. Gerade sie wird es sein, die ihn unterstützt so gut es geht, zusammen mit ihrer Ältesten, die erkennt, wenn ihre jugendliche Rebellion zweitrangig geworden ist. Ulee lernt, sich auf die Frauen seiner Familie und Nachbarschaft zu verlassen, und alle werden sich auf ihn verlassen können.
Drehbuchautor und Regisseur Victor Nunez ist ein Liebhaber der Nuancen, der tiefen Gefühle und Abwehrmechanismen. Mit Peter Fonda hat er einen Schauspieler gefunden, wie kein anderer für diese Rolle vorstellbar wäre. Keinem zweiten Film dieser Saison gelingt es, das Innenleben eines Charakters derart einprägsam auf die Leinwand zu bannen und gleichzeitig ein großes Gefühl der Verantwortung für seine von ihm abhängingen Mitmenschen zu geben. Selten hat ein Film eine kaputte Familie so respektvoll zueinanderfinden und ihren Kampf der Geschlechter sorgsam überkommen lassen. Ulee's Gold ist eine fast zweistündig verbrachte Qualitätszeit, die in ruhigen Momenten immer wieder ihren Weg in das Gedächtnis der ZuschauerIn finden wird, und damit ein wirklich gut angelegtes Kino-Ticket. (Queer View)
„Ulee’s Gold“, eine sehenswerte Geschichte aus Florida mit Peter Fonda
Ulysses Jackson ist ein schweigsamer Mann. Er hat viel erlebt, das macht wortkarg. Sein Beruf reduziert die Kontakte auf ein Minimum. Zu Beginn sehen wir ihn mit seinem Pick-up in die Stadt kommen. Er liefert jene Ware aus, die dem Film von Victor Nunez den Titel gibt: Ulee’s Gold, Honig bester Qualität, eine Ware, bei der das Warten ein wesentlicher Produktionsfaktor ist. Die Kontrakte mit dem Zwischenhändler werden mit Handschlag unterfertigt.
Ulee erwartet vom Leben nicht mehr viel. Weil er aber Familie hat, hat der Film auch eine Geschichte. Zwei halbwüchsige Enkeltöchter leben bei Ulee, die Mutter ist in das Drogen-Milieu von Orlando, Florida, abgetaucht. Der Sohn sitzt im Gefängnis, zwei Gangster wollen Dollars aus der verschwundenen Beute sehen. Ulee muß reagieren. Er tut das bedächtig, nimmt immer wieder umständlich seine Brille ab, es sieht nicht so aus, als wäre er dem Chaos, das in sein Leben bricht, gewachsen.
Peter Fonda spielt Ulee als einen sanften Aussteiger, einen bescheidenen Hagestolz. Am liebsten würde er wohl in diese Landschaft verschwinden, die in allen Honigfarben leuchtet. Das Drehbuch, das Victor Nunez selbst geschrieben hat, setzt starke Kontraste zwischen der Stadt, in die Ulee immer wieder fahren muß, weil dort die Krisen ausbrechen, und der Natur, in der Ulee dem Spiel seine Regeln diktieren kann – deswegen holt er die Mutter der Mädchen zu sich ins Haus, wo sie einen Entzug versucht, deswegen wird es für die Gangster auch prekär, als sie ihm in den Sumpf folgen.
Man muß genau hinsehen, um die Qualitäten von Ulee’s Gold zu erkennen: Sie liegen in der Inszenierung der Familie, nicht so sehr in der Darstellung von Peter Fonda. Fonda spielt einen Mann, dessen melancholische Weltflucht ohnehin alles zurückhält, was nach außen dringen könnte: Seine Kunst besteht also zum Großteil darin, möglichst wenig zu spielen.
Effektiver funktioniert das Understatement in der Regie: Wie Victor Nunez hier eine zerrüttete Situation entwickelt, ohne daß er einen großen Auftritt braucht, das erinnert manchmal an einen ähnlichen Film aus dem Vorjahr, Sling Blade von Billy Bob Thornton. Nur war in Sling Blade eine grundsätzliche Gewalt der Verhältnisse deutlicher zu spüren und auch zu sehen, während bei Ulee’s Gold die Geschichte darauf hinausläuft, daß wieder Ordnung sein kann, daß die Dinge ihren Lauf nehmen können, daß die Störfälle ein Ende finden.
Deswegen wirkt vor allem die Gangster-Handlung ein wenig wie ein Vorwand, durch den Bewegung in eine Geschichte kommen soll, die sich eigentlich lieber der Kontemplation, dem Naturerlebnis, der Gesundung durch simples Warten auf den nächsten Honig überlassen würde. Ulysses Jackson ist ein Bienenzüchter an der Grenze zweier Welten – fast scheint er näher bei Marcello Mastroianni, dem Bienenzüchter bei Angelopoulos, aber weil er in einem amerikanischen Film spielt, muß er sich auch mit einem entsprechenden Konflikt herumschlagen. Die Art, wie er ihn meistert, zeigt dann aber, daß er doch im richtigen Land lebt: Er stellt sich dem Showdown. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 9/5/1998)
Die Rückkehr des Ulysses, der Aufschub der Gewalt
"Ulee's Gold", ein neues Familiendrama aus dem tiefsten Florida (Regie: Victor Nunez), versorgt Peter Fonda mit einem erstaunlichen Comeback - und das Kino mit einer wunderbar naturalistischen Re-Lektüre der Odyssee.
Odysseus ist müde. Seine Penelope ist seit sechs Jahren tot, der Sohn sitzt im Gefängnis. Die Schwiegertochter Helen hat sich davon gemacht und Odysseus die Enkeltöchter zur Pflege hinterlassen. Eine von ihnen steht jetzt neben ihm im Werkzeugschuppen und betrachtet ein altes Bild seiner Freunde. "Dein Großvater hat überlebt, weil er listig war", murmelt er dazu. Das Foto zeigt junge Männer in Vietnam, ein volles Platoon vor dem Aufbruch in den Krieg. Odysseus, den hier alle Ulee (stellvertretend für Ulysses) nennen, ist als Einziger zurückgekehrt. Ulee's Gold erzählt mit sehr realistischen Kunstmitteln eine einigermaßen untypische Familien- und Gangstergeschichte.
In kaum acht Tagen und Nächten vollzieht sich die Filmhandlung, vier davon schläft Ulee nicht. Er ist Bienenzüchter in Florida, und das bedeutet harte Arbeit ohne Feierabend. Ausführlich folgt der Film seinem Helden dabei, wie er Bienenstöcke übers Land verteilt, Wildschäden repariert, die Waben nach Hause bringt, schleudert, den Honig abfüllt. Es sind die Bienen, die dem Imker den Zeitplan diktieren. Da muß das Private zwischendurch erledigt werden, ganz gleich, wie drängend es ist.
Dreißig Jahre nachdem er auf dem Motorrad Richtung Florida aufbrach, ist Peter Fonda nun doch noch im gelobten Land seiner Easy Rider angekommen. Peter, Sohn von Henry, Bruder von Jane und Vater von Bridget - hat in seine Rollen immer wieder gerne ein Stück Autobiographie eingebracht. Auch in Ulee's Gold kann man ihn, die Privatperson, in seiner Rolle wiedererkennen: in der Melancholie und der Trauer etwa über die verlorene Zeit, die er selbst auf der Flucht vor dem bürgerlichen Familienleben verbracht hat. Aber tatsächlich erinnert Peter Fondas extrem zurückhaltende Vorstellung noch mehr an seinen eigenen Vater: Auch Henry Fonda, das kann man auch aus Peter Fondas in den USA soeben erschienenen Autobiographie "Don't Tell Dad" herauslesen, war ein Mann, der aus dem Gefängnis seines Selbst nicht ausbrechen konnte, der seine Gefühle zähmte, bis nur noch die Aggression blieb: Auch er war, um im Bild zu bleiben, ein trauriger Odysseus.
In seiner sehr freien Fortsetzung der Odyssee setzt Regisseur Victor Nunez seinen Helden stetig wachsendem Druck aus. Der inhaftierte Sohn bittet Ulee, seine Frau Helen (Christine Dunford) aus Orlando zu holen, wo die Heroinabhängige aufgetaucht ist. Falsche Freunde wollen Helen gegen die Beute aus einem Raubüberfall eintauschen, um die sie sich betrogen fühlen. Für den Fall, daß er nicht spurt, drohen sie Ulee unverhohlen, Jagd auf seine Familie zu machen. Ulee wirft die Drogenkranke auf den Beifahrersitz und fährt erstmal nach Hause. Das sieht allerdings weniger nach Rettung aus, als nach brutaler Freiheitsberaubung mit Zwangsentzug. Helen ist auf Cold Turkey und ihre Töchter, die von ihrer Rückkehr überrascht werden, kennen diesen Anblick gut genug, um sich gleich selbst übergeben zu wollen. Kaum erwacht, erinnert sich dann auch die Schwiegertochter wieder an Ulee: "Jedermanns Leben, in das du dich jemals eingemischt hast, hat sich doch in Scheiße verwandelt!".
Seinen Suspense bezieht Ulee's Gold aus dem ständigen Aufschub der Gewalt. Die Gangster drohen mit dem Allerschlimmsten, und auch dem still vor sich hin brodelnden Ulee möchte man jederzeit einen mörderischen Ausbruch zutrauen, doch Nunez arbeitet konsequent weiter mit Andeutungen und Verdachtsmomenten, verläßt den Standard- Parcours filmischer Erhitzung. Das erhöht die Spannung und läßt ihm zugleich die Zeit, seinen Figuren en passent mehr und mehr Fülle zu verleihen.
Fonda steht da mittendrin als Mann, der um nichts in der Welt wieder in die Fallen der Vergangenheit tappen will. Die Zeiten des "großen Dschungelkämpfers", als den ihn seine Enkeltöchter ansehen, sind vorbei, aber schwerer noch ist es für diesen modernen Odysseus, aus dem selbstgebauten Gefühlsgefängnis auszubrechen.
Morgens am Fenster sehnt er sich - zur Nachbarin (Patricia Richardson) - auf die andere Straßenseite. Als sie herüber kommt, um nach dem Rechten zu sehen, fehlen ihm die richtigen Worte und die richtigen Gesten. Die Rückkehr in die Welt der anderen, soviel ist klar, wird Ulee ohne fremde Hilfe nicht zuwege bringen. (Robert Weixelbaumer, DIE PRESSE, 9/5/1998)
In den ersten Minuten des Films spricht der Imker Ulee, der eigentlich Ulysses Jackson heißt, erstmal gar nix. Wir sehen ihm bei seiner Arbeit zu und erkennen, daß das Los eines Bienenzüchters nicht nur Honiglecken ist. Aber auch wenn Ulee spricht, ist es meist still. Das hat wohl mit der Ruhe zu tun, die von diesem Mann ausgeht. Unermüdlich kümmert er sich um seine Bienen und seine Enkeltöchter, die bei ihm leben, da sein Sohn im Gefängnis und Schwiegertochter Helen irgendwo und auf Drogen ist.
Abgesehen davon ist Ulees Frau gestorben, und diese Seelenwunde ist ebenso sichtbar wie das Hinken, das ihm nach einer Kriegsverletzung geblieben ist. Er trägt sein Pinkerl vorbildlich und still. Ulees Leben gerät in Turbulenzen, als er Helen nach Hause holen muß und als dann auch noch zwei Gangster die Familie bedrohen. Selbst in diesem Augenblick behält Ulee scheinbar seine stoische Ruhe. Nur an seinen Augen ist etwas von dem Kampf zu erkennen, der in seinem Inneren tobt: mit dem Mut der Verzweiflung versucht er seine ganze Energie zu mobilisieren, um die ohnehin zerbrechliche Familie zu schützen.
Wer hätte nicht gerne so einen Ulee zu Hause; diesen Brummbär, der wahrscheinlich „Sich regen bringt Segen“ auf sein Kopfkissen gestickt hat, den richtigen Präsidenten wählt und das Teehäferl immer auf die Untertasse stellt. Ulee ist die personifizierte Correctness. Darüberhinaus ist Ulee Peter Fonda oder umgekehrt. Genau kann man das nicht sagen, aber es scheint schwer vorstellbar, daß die beiden, zumindest streckenweise, nicht identisch wären. So wie er seit Jahren als das Biker-Idol schlechthin gilt, weil der „Easy Rider“ den wahrscheinlich längsten Schatten der Welt warf. Oder nein, der gehört Vater Henry. Denn obwohl Peter immer versucht hat, nicht nur als Sohn einer Schauspielerlegende akzeptiert zu werden, taucht die überdimensionale Vaterfigur gerade jetzt wieder auf, wenn vielerorts seine darstellerischen Qualitäten als Ulee mit dem Stil Henry Fondas verglichen werden.
Wie dem auch sei, mit dem „method acting“ eines Robert De Niro wird man Peter Fondas Spiel sicher nicht verwechseln; denn wenn es dazu ein Gegenteil gibt, dann wohl diese minimalistische Expressivität, diese kraftvolle Behutsamkeit, die man hier zu sehen bekommt - und die Peter Fonda hoffentlich zur endgültigen Emanzipation von easy rider und heavy father verhilft. (Heike Obermeier, KURIER)
Weitere Kritiken der IMDb, offizielle Site: http://www.teleport.com/~patv/uleegold.htm
USA 1997. 85 Min
Regie: Gregg Araki,
Buch: Gregg Araki,
Kamera: Arturo Smith,
Schnitt: Gregg Araki,
Darsteller: James Duval (Dark Smith), Rachel True (Mel), Nathan Bexton (Montgomery), Chiara Mostroianni (Kriss), Debi Mazar (Kozy), Kathleen Robertson (Lucifer), Joshua Gibran Mayweather (Zero)
Kinostart: 8/5/1998
Zwischen Fetich-Kult und Party-Apokalypse, versucht Dark, wahre Liche und echte Gefühle zu finden. Es ist eine Reise am Abrund: Sado-Maso, Drogen, Selbstmord und Totschlag, die Suche nach sexueller Erfüllung. Eine Generation, die alte Grenzen verloren zu haben scheint und doch auf der Suche nach der Erfüllung ihrer Träume und Sehnsüchte an neue Grenzen gerät. (Verleihprogramm)
Über ein Dutzend Jugendliche wollen in einem anonymen, gesichtslosen Los Angeles auf unterschiedlichste Weise ihrer Sehnsucht nach Nähe und einer übermächtigen Zerrissenheit entkommen. Sex in verschiedensten Spielarten, extrem ausgeflippte Parties und Drogen scheinen jedoch die einzigen Antworten auf fehlende Nähe und Beziehungslosigkeit zu sein. Ohne den Versuch einer Distanzierung macht sich der Film die Oberflächlichkeit der geschilderten Verhältnisse zueigen. Poppige, grelle Farben und genüßlich ausgestellte groteske Situationen und Effekte liefern dieses für den Regisseur typische "Teen Angst Movie" letztlich aber eher dem Verdacht der prätentiösen, selbstgefälligen Provokation aus.
Das Los Angeles der 90er Jahre ist ein "waste land", geprägt von tristen Fassaden und verlassenen Betonflächen, die Autos ein Zuhause bieten mögen, auf denen Menschen aber wie ausgestoßene Fremdkörper wirken. Oder von trendigen Appartments, in denen die Pop-Kultur sich selbst gebiert und die Wirklichkeit schon längst verdrängt hat bzw. völlig mit ihr verschmolzen ist. Kunst und Moden führen eine Art Eigenleben ohne gestaltungsfähige Instanz. Denn die Menschen - und das sind bei Araki und seinen "Teen Angst Movies" die Jugendlichen - sind schon längst nur noch damit beschäftigt, in einer Art ständiger Mimikry bestmöglichst in der künstlichen Oberfläche aufzugehen. Dabei sind sie selbst schon zu Kunstprodukten stilisiert, die in einer Art Widerhall aus früheren Zeiten noch so etwas wie die Sehnsucht nach Gefühlen registrieren, dabei im selben Moment aber nur Kälte erleben. Eltern, Schulen oder soziale Einrichtungen existieren offenbar nicht mehr. Dies ist der Zustand nach einem gesellschaftlichen Overkill, hinausgeschleudert ins Nirgendwo, ohne Vergangenheit und Zukunft. Nicht zufällig erblickt man im Ausschnitt des Appartementfensters der Hauptfigur keine gewöhnliche Stadtkulisse oder Landschaft, sondern ein kaltes Weltraum-Szenario.
Dieses deprimierende Bild zeichnet Gregg Araki freilich nicht gerade in realistischer Darstellungsweise, sondern in einer eigenartigen Melange aus Trash, Werbeästhetik, Manierismus, Sozialdrama und Surrealismus. "Nowhere" ist ein Gruppenfilm (mit einem etwas herausgehobenen Charakter namens Dark), der sprunghaft-fragmentarisch zwischen den Schauplätzen und Personen wechselt - fast schon ein Thesenfilm im modisch-gelackten Gewand der 90er Jahre, der weniger der Psychologie seiner Figuren oder der Logik einer Story folgt, sondern eher der Visualisierung einer Idee von totaler Verlorenheit. Die Jugendlichen scheinen allen Verpflichtungen entledigt zu sein und bewegen sich in einem Vakuum, das sie entweder durch das Experimentieren mit unterschiedlichsten sexuellen Spielarten (sei es mit dem anderen oder mit dem gleichen Geschlecht), Drogenkonsum, Parties, TV-Berieselung oder im besten Falle noch mit Herumgammeln auszufüllen versuchen. Haltlos stürzen sie sich in die Beziehungen, die der Tag so mit sich bringt. Manches erinnert an die Teenager aus "Kids", wenngleich ansonsten zwischen den Filmen und erst recht zwischen ihrem jeweiligen Stil Welten liegen. Verzweifelte Sehnsucht spricht aus vielen Gesichtern, besonders aber aus dem von Dark Smith. Als ihm seine Geliebte Mel zu verstehen gibt, daß sie wegen ihm nicht auf ihre Freundin Lucifer verzichten wolle, gilt es, die Sehnsüchte auf eine andere Person zu projizieren. Montgomery kommt da in all seiner kalifornischen Schönheit gerade recht, und so dreht sich immer alles irgendwie im Kreise: Eine Enttäuschung bewirkt keine Besinnung, sondern eine reflexartige Suche nach neuer momentaner Erfüllung und Befriedigung. Araki erfindet ebenso groteske Situationen wie grelle Konstellationen, um nur immer wieder über dieser abgrundtiefen Leere und Hoffnungslosigkeit zu kreisen. Keine Figur kann trendy, kitschig, bunt, cool oder hipp genug sein, um in dieses Pandämonium der "Doom Generation" aufgenommen zu werden. Ein perverser "Baywatch"-Star und ein ausgerechnet in dieser Öde gestrandeter Außerirdischer (oder ist es doch das altvertraute Lagunenmonster?) fallen in dem hier versammelten Kreis kaum noch besonders auf.
Araki, sowohl entschiedener Verehrer der Pop-Kultur als auch erklärter Adept des Godardschen Kinos, ist neben Gus Van Sant der bekannteste Vertreter der filmischen "Queer"-Szene. Seit "Three Bewildered People in the Night" ("Verirrte in der Nacht", 1987) ist er im Underground-Kino eine feste Größe. Das Schicksal von Außenseitern (besonders aus der Homosexuellenszene) hat keiner so radikal und grell überhöht dargestellt, wie er ("The Living End", 1992; "Totally F***ed Up", 1994; "The Doom Generation", 1995). Araki polarisiert und provoziert thematisch wie auch mit seiner Art der Inszenierung. Anteilnahme des Zuschauers an seinen Figuren, die kaum als Sympathieträger verstanden werden können, ist nicht sein Ziel, und noch weniger das Auslösen von Betroffenheit. Die krude Mischung unterschiedlichster Elemente macht es auch in "Nowhere" dem Zuschauer nicht leicht. Araki unternimmt kaum einen Versuch der Distanzierung. Auch nicht, indem er fast schon manieristisch stilisiert, bricht und ironisiert, bis einem das Lachen im Halse steckenbleibt. Oft vermitteln seine gestylten und ausgesuchten Bilder fatalerweise nämlich dieselbe Leere und Beliebigkeit, wie eben die Welt, unter der die Figuren des Films so zu leiden haben. Manch inszenatorischer Einfall wirkt eher als optisches Geplänkel, das Aufmerksamkeit heischen und aufwühlen soll, innerhalb der "Story" letztlich aber eher spekulativ und entbehrlich bleibt (wie das furiose Splatter-Finale im Stil von "Men in Black"). Arakis Vorbild Godard verstand sich immer auch als Moralist des Kinos; Araki scheint mitunter jedoch die Geste oder der krasse Effekt mehr zu bedeuten als die Relevanz der Aussage. Damit gibt er seinen Film, der immerhin vorgibt, die Befindlichkeit einer ganzen Generation auszudrücken, allzu leicht dem Verdacht des Prätentiösen, wenn nicht der Unglaubwürdigkeit preis. Zuviel "Botschaft" und Betroffenheit können einen Film ersticken - zuviel Coolness allerdings auch. (Hans Jörg Marsilius, film-dienst)
Als ob der 18-jährige Dark Smith nicht schon genug mit der mangelhaft erwiderten Liebe seiner Freundin Mel zu kämpfen hätte, die er nicht nur mit der gerade lesbisch lebenden Lucifer teilt, sondern mal hier und da mit weiteren PartygästInnen, wie heute dem blonden Zwillingspärchen Surf und Ski, so verliebt er sich am Tage der großen Party bei Jujyfruit in den bildschönen Montgomery. Nun trippt sich Dark mit verzweifelten Sehnsüchten, mörderischen Alien-Visionen und nicht immer Glück bringenden Pillen durch den Tag, der in der Mega-Party kulminieren soll.
Seine TagesbegleiterInnen geben sich nicht minder neurotisch und polymorph pervers, ersticken gleichzeitig in der Oberflächlichkeit gelackten RaverInnen-Outfits und der Suche nach wahrer Liebe, Menschlichkeit und einem Sinn, weiterzuleben. So richtig erfolgreich sind die Mädels und Jungs dabei meistens nicht...
Herausgebissene Nippelringe, Prügel mit der Tomatensuppen-Dose, ein Gummi-Alien auf der Suche nach neuen Strahlenopfern, ein Teenie-Idol aus der Glotze auf Abwegen, Popofetisch und definitionsverweigernde Multisexualität: Der Gregg Arakis Teenage Angst Suicide Trilogie letzter Teil braut sich ausgelassen einen Cocktail herbei, der zum visuellen overkill beitragen müsste, wäre er nicht so schön – bunt, abgefahren und hässlich zugleich.
Alles überblickend aber nichts mehr durchschauend frisst sich abermals James Duval mit offenem Leidensblick engelssanft durch die Wirrungen zwischenmenschlicher Abwegigkeiten. Gregg Araki selbst bezeichnet seinen Teen-Apokalypsen-Abschlussfilm als am wenigsten verzweifelt. Dennoch: so viele Selbstmord(versuch)e gab es in seinen übrigen Filmen nicht zusammengerechnet, begleitet von Bullimie, Vergewaltigung und dem Beziehungskiller Droge. Selbst die morgendliche Masturbation darf nicht anständig zu Ende gebracht werden, sondern wird von einer überdrehten Mama ins Lächerliche gezogen.
Araki hat sich nun auch in Deutschland vom Underground-Kultregisseur zum Mainstreamschocker entwickelt. Wurde der erste Teil der Trilogie, Totally F***ed Up, als erster von Arakis bis dahin vier Filmen durch den Mini-Verleih des Lesbischen und Schwulen Büro Film e.V. mit zwei Kopien auf deutsche Leinwände gehievt (die mehr Geld eintingelten, als so manche Hollywood Fließbandproduktion größerer Verleihe), so hat sich nun Kinowelt des finalen Teiles angenommen. Schade, dass die mittlere Episode, The Doom Generation, überhaupt nicht zu sehen war, außer als Eröffnungsfilm auf dem '97er Verzaubert Festival selbstverständlich.
Die Besetzung ist diesmal mindestens genauso surreal wie der Film selbst. Nicht zufällig drängen sich weltweit bekannte Serienstars unter den nicht weniger als 19 Haupt- und 25 Nebenrollen, querbeet aufgelesen aus solch fernsehtauglichen Errungenschaften wie Beverly Hills, 90210, Die Bill Cosby Show, Baywatch, Melrose Place, Drei Jungen und drei Mädchen, Eine schrecklich nette Familie, L.A. Law und einige mehr, sowie der Nachwuchs aus den Familien Ladd, Caan, Mastroianni und Deneuve. So wirkt Nowhere nicht nur wie MTV auf Acid, sondern verkörpert regelrecht die letzten beiden Fernsehgenerationen.
Ein Spektakel mit Untertönen, mehr aber auch nicht weniger sollte von Nowhere erwartet werden. Ein Araki-Film ist schon eines dieser kleinen filmischen Kultereignisse, die das Jahr aufzuwarten hat. Mit Spannung gedulden wir uns jetzt bis zum nächsten Projekt, wenn der gute Mann mal wieder etwas Neues zu sagen hat. Zuversichtlich blicken wir drum Filmen entgegen, die da heißen The Secret Movie oder The Separation of the Earth from its Axis, die seit '95 in Arbeit sind. (Queer-view)
Ab ins Nichts: Der tiefe Fall des Abendlandes. "Nowhere": Der unabhängige Filmemacher Gregg Araki schaut der US-Westcoast-Jugend bei "Perversion", "Lustigkeit" und Höllenfahrt zu - und sehnt sich dabei nach Läuterung.
Los Angeles ist ein Sündenpfuhl - und ein attraktiver Film-Schauplatz. Diese beiden Charakteristika haben die Metropole zu einem bevorzugten Schauplatz kulturpessimistischer Ergüsse werden lassen. In Los Angeles reifen die nervlich Schwachen zu Amokläufern (siehe etwa Michael Douglas in Joel Schumachers Falling Down ); wächst die ständige Angst vor Gewalttaten zur kollektiven Neurose (in Lawrence Kasdans Grand Canyon ); versammeln sich die outlaws zum post-apokalyptischen Stelldichein (was etwa für Filmemacher John Carpenter der Anlaß war, seine Gewalt-Fabel Escape from New York in Los Angeles, in Escape from L.A. fortzusetzen).
Am bedenklichsten ist diese Art des wohlstandsbürgerlichen Kulturpessimismus, wenn er sich ironisch geriert und den Gegenstand der Kritik in saloppem Erzählton lächerlich macht. In Nowhere läßt (der als Popkultur-Diagnostiker von manchen noch immer gefeierte) Filmemacher Gregg Araki ein weiteres Mal die schamlose Jugend der Neunziger den Kopf unter das Fallbeil einer grell überschminkten Wertemoral halten. Indem er vorgibt, die "Szene" zu kennen und deren Sprache zu sprechen, buhlt er um das Einverständnis derer, denen er in Nowhere ohne einen Funken von Humor eine bunte Narrenkappe überstülpt.
"L. A. ist wie nirgendwo; jeder, der hier lebt, ist verloren": So spricht - nomen est omen - Dark (James Duval), ein Schwarzseher in dieser aus bunten Oberflächen bestehenden Welt, ein Verlorener unter Verlorenen. Doch irgendwie unterscheidet sich seine Verlorenheit von der seiner Bekannten und Freunde: Während seine Zerrüttung auf einem Gefühl des Nicht-in-diese-Welt-Gehörens basiert - und sich über einen mitleiderregenden Instant-Leidensblick äußert - , sind die dumpfbackigen Jungmenschen um ihn herum verloren eher im Sinn von Nicht-mehr-zu-retten.
So, genau so, haben sich ängstlich-konservative Seelchen die sittenlose Spaß-Generation vorzustellen: lächerlich aufgetakelt, ständig bekokst, schwer sexbesessen (mit wechselnden Geschlechtspartnern!) und oberflächlich wie ein Clip auf MTV. Diese Jugend kennt nichts, was nicht dem Image und dem schnellen Genuß dient - und heilig ist ihr sowieso nichts. Also suchen jene, denen es wirklich dreckig geht, ihr von einem Schmieren-Prediger induziertes Heil in showgerecht inszenierten Selbstmorden. Die anderen tanzen unbekümmert ihren Narrentanz, ohne zu merken, daß sie auf einem Vulkan stehen.
In Nowhere, dem letzten Film seiner "Teen-Apocalypse"-Trilogie, weiß Filmemacher Araki allerdings weder mit seinen Teenagern noch mit der Idee der Apokalypse etwas anzufangen. Anders etwas als die Jugendlichen in Amy Heckerlings Teenage-Lifestyle-Satire Clueless werden Arakis Halbwüchsige weniger als "Produkte" ihrer dekadenten Gesellschaft denn als jenseitige Zombie-Puppen dargestellt. Aus dem Jenseits kommt schließlich auch der mahnende Vorbote der Apokalypse: in Form einer Echse in Menschengestalt.
Die Sprache, die Araki den Teenagern entlehnt zu haben vorgibt, beschränkt sich auf den üblichen four-letter- Wortschatz und Gestaltungsmittel, die einem formsprachlichen Gestammel gleichkommen: völlig unsinnige Jump-Cuts, eine Zuckerl-Farbgebung à la Dorf-Disco und ein Soundtrack mit dem Popmusik-Chartprogramm der Stunde (das allerdings so flapsig abgespielt wird, daß es nicht einmal als akustische Tapete seine Wirkung entfaltet).
Auf der ersten Seite der Presse-Information zu Nowhere stößt man auf ein Zitat des französischen Philosophen Gilles Deleuze: "Wir sind ein Verbund, eine Einheit aus aufgelösten Ichs, präindividuelle Singularitäten auf der Suche nach intentionslosen Intensitäten." Klingt gut. Dumm nur, daß Araki diesen Satz wohl ebensowenig verstanden haben dürfte wie die Jugend, die er in Nowhere durch Vogelscheuchen bestens repräsentiert zu haben glaubt. (Robert Buchschwenter, DIE PRESSE, 9/5/1998)
"L.A. ist nirgendwo. Jeder, der hier lebt, ist verloren." So beginnt "Nowhere" der neue Film von Underground-Kultregisseur Gregg Araki ("Totally Fucked Up"), eine völlig abgedrehte Story über ausgeflippte amerikanische Jugendliche. Verloren irren die Kids - hauptsächlich US-Soap-Stars (Beverly Hills, eine schrecklich nette Familie, Melrose Place,...) - durch diese knallbunte, abgefahrene Trash-Komödie über das Ende jeglicher Kultur. Das einzige, was die Jungs und Mädels in L.A. noch interessiert, sind Sex, Drogen und Gewalt. In einer Welt, die es so bunt, überspitzt und abgedreht garantiert nicht gibt, geht es ruppig zu. Und alles ist erlaubt: Lesbisch, Schwul, Bi, Hetero; wie hätten sie´s denn gern? Oder lieber Sado-Maso, XTC, Heroin und Totprügeln? Kein Problem.
Nichts ist wirklich wichtig; Hauptsache, es "kickt", bis das Chaos in der gigantischen Jujyfruit-Party seinen Höhepunkt findet: Jeder fickt mit jedem (oder jeder) und niemand stört sich dran. Ein Drogi wird totgeprügelt - na und? Mindestens die Hälfte der 19 Haupt- und 25 Nebendarsteller stirbt, versucht sich umzubringen, oder erwartet den Weltuntergang. Inmitten der eh schon verworrenen Story taucht plötzlich ein Alien(!) auf (was zum Teufel soll das???) und entführt reihenweise Kids, ohne daß es jemand merkt. In dieser hoffnungslos verlorenen Welt ist allein noch Dark Smith (James Duval) auf der Suche nach echten Gefühlen und einem Sinn. Doch auch er hat einen schweren Stand - zwischen seiner Zuneigung zu Montgomery (Nathan Bexton) und seiner lesbischen Freundin Mel (Rachel True).
Regisseur Araki erzählt zwanzig verzwickte, ungewöhnliche, unrealistische Geschichten gleichzeitig und hat daraus einen urkomischen Film gemacht. An Witz, Spritzigkeit, Tempo und Spannung mangelt es wahrlich nicht. Das Problem des Films ist seine Aussage. Er hat nämlich keine. Die Figuren des Films nehmen sich nicht ernst, der Film nimmt seine Darsteller nicht ernst - selbst der Regisseur nimmt seinen Film nicht ernst. Auch die ruhigen, nachdenklichen Szenen werden brutal aufgelöst oder ins Lächerliche gezogen. Gregg Arakki bleibt strikt an der Oberfläche der Charaktere. Nichts wird hinterfragt, nichts hat einen Sinn.
Aber vielleicht ist das in Wirklichkeit eben so? Möglicherweise ist L.A. ja "nirgendwo" und jeder, der dort lebt, verloren. Auf jeden Fall verloren und im falschen Film sind Kinobesucher, die nach einer Message suchen. Es gibt keine, und das ist wahrscheinlich auch ganz gut so. (Torsten Beermann)
Dieser Film ist irgendwie beruhigend. Nicht, weil er so gut wäre, Gott bewahre. „Nowhere“, ein Werk des „Kultfilmers“ (?) Gregg Araki, zeigt, daß unter dem Oberbegriff Avantgarde auch im heiligen Filmland USA geradezu bodenloser Schwachsinn produziert werden kann. Worum geht’s? Um Saufen, Sex und Drogen.
„Jeder, der in Los Angeles lebt, ist verloren“, analysiert ein 18jähriger L.A.-Bewohner die Lebenslage und zieht die Konsequenz: Hirn ausschalten. Kopf zudröhnen. Alle Macht den Genitalien. Die Lahmlegung des Verstandes wird auch vom Kinobesucher verlangt. Es gibt keine Geschichte, keinen Rhythmus, keinen Spannungsbogen. Die heillos verwirrte Bildcollage wirkt wie Bravo-TV unter LSD-Einfluß. Knallbunte Mini-Clips jagen einander: Wir begegnen schönen jungen Menschen beim Dummschwätzen, bei der Verabreichung von Psychopharmaka und an ihrem Lieblingsort, im Bett. Wobei dort die Vorlieben zwischen hetero, schwul, sado-maso und Gewalt wild gemischt sind.
Weil die USA jedoch ein puritanisches Land sind, wird der Blick auf Busen, Penis und Popo in diesem Sex-Filmchen schamhaft vermieden. Als Video-Horrortrip eines von Weltschmerz geplagten Teenagers würde die dilettantische Bilderfolge irgendwie durchgehen. Herr Araki, der Autor/Regisseur, ist jedoch schon 38. Das läßt für seine Kino-Zukunft wenig hoffen. (Gunther Baumann, KURIER)
Weitere Kritiken der IMDb, offizielle Site: http://www.flf.com/nowhere/index.html
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