DER STANDARD
Freitag, 6. Juni 1997, Seite A1
Titelgeschichte


KILLER STELLEN SICH NICHT VOR

Die Neuentdeckung eines Meisterwerks: Als „Kultfilm“ wird „The Killer“ von John Woo gerne bezeichnet – dabei war er als Kinoereignis kaum wahrnehmbar. Von Getöse und Gewalt ist rund um das Action-Furioso aus Hongkong, das jetzt mit achtjähriger Verspätung in Österreich startet, immer die Rede – doch es sind gerade die Ruhemomente, die Woo interessieren.


Claus Philipp

Sorry“, sagt die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung. „Mr. Woo wird sich verspäten. Er hängt irgendwo im Stau fest.“

Stillstand inmitten urbaner Raserei: John Woo, eingekesselt auf einem Highway in Los Angeles. Was für eine Vorstellung im Vorfeld eines Interviews, bei dem es eigentlich um drastischen Lärm, rasend schnelle Bewegungen gegen jede Schwerkraft gehen könnte. Endlich wird Woos Action-Klassiker The Killer abseits von Hongkong-Retrospektiven und verstümmelten TV- und Video-Versionen regulär in österreichischen Kinos gezeigt werden – ein „Hellzapoppin’ Gunfight-Festival“ (Film Comment), das, so ein US-Kritiker einmal, „den gewaltvernarrten Regisseur Sam Peckinpah aussehen läßt wie Woody Allen an einem besonders grüblerischen Tag.“

Die Handlung nachzuerzählen ist hier so unmöglich wie sinnlos. Ein Killer (Chow Yun Fat), ein Polizist (Danny Lee) und ein vom Mündungsfeuer einer Pistole geblendetes Mädchen (Sally Yeh): Eine Dreieckskonstellation wie aus einem billigen Comicsheft nimmt Woo als Ausgangspunkt für grotesk elegante Massaker zwischen Gangstern und Cops, die sich gegenseitig ihre Ehrencodices förmlich einbrennen – passioniert und doch floskelhaft bis an den Rand der Karikatur: „Nennen Sie mich Mickey Mouse“, sagt der Killer, der seinen Namen naturgemäß nicht nenen will, und irgendwann wird ihn „Dumbo“, der Polizist, beweinen wie der gleichnamige fliegende Elefant die Abwesenheit seiner Mutter. Ein katholisches Gotteshaus verwandelt sich vom Lichtermeer aus Opferkerzen in ein flammendes Katastrophenszenario. Blind und verwundet kriechen am Ende Liebende aneinander vorbei – es ist, wie J. Hoberman meinte „die Sorte Film, die ein Publikum fassungslos aufheulen läßt.“

Wie Woos spätere Epen A Bullet in the Head (1990) und Hard Boiled (1992) hat The Killer (1989) nicht nur den Stil der weiteren Produktionen aus der CinemaCity der britischen Kronkolonie beeinflußt. Es gibt kaum einen amerikanischen Action-Regisseur, der Woo nicht sofort Vorbildcharakter zuschreiben würde. Quentin Tarantino und Robert Rodriguez imitieren seine exzentrisch geschnittenen Kampfszenen in From Dusk Till Dawn. Walter Hill wollte sogar ein Remake von The Killer mit Richard Gere inszenieren. Produktionen wie The Rock oder demnächst Con Air, zusammengeschustert von MTV-kompatiblen Jungkarrieristen im Dienste von Jerry „Top Gun“ Bruckheimer, erweisen Woo ihre Reverenz. Der Meister selbst ist längst ein „hot ticket“ in Hollywood. Nach Hard Target und Broken Arrow stellt Woo bereits seine dritte US-Produktion fertig: Face/Off mit John Travolta und Nicolas Cage.

Es ist, wie man bereits erahnen kann, ein höchst unreines Gemisch, das hier auf der Basis von The Killer vergoren wurde, während das Vorbild selbst nie wirklich zum internationalen Erfolg kam. Hier die krude Mischung aus (bewußt) ungereimten und doch melodiösen Pop-Trümmern in Woos Film, die auf schlechten Videokopien noch vulgärer wirken mußte. Dort eine gewisse anhaltende Unfähigkeit der Kritik, über Schlagworte wie „ballistische Exzesse“ hinauszugehen, und danach ein Haufen von Epigonen, das Freiheit und Schwerelosigkeit mit plumpem „anything goes“ verwechselt.

Man muß nur gesehen haben, wie in Con Air Nicolas Cage und John Cusack sich in ähnlicher gegenseitiger Umkreisung mit Schußwaffen versuchen wie „Mickey Mouse“ und „Dumbo“. Man kann dann erahnen, wie schnell The Killer schon wieder aus dem Blickfeld verschwunden ist, bevor er überhaupt erkannt wurde. Im Mülleimer der Popgeschichte rutschte er gewissermaßen schnell nach unten, während obenauf die leichte Ware, die sich auf ihn beruft, die Sicht auf ihn verstellte. Dies erst jetzt „neu entdecken“ zu können, dafür sind acht Jahre Verspätung wahrhaftig eine Ewigkeit.

John Woo jedenfalls steckt immer noch im Stau, wie seine Assistentin auch beim zweiten Anruf bedauern muß. Die Situation erinnert an eine Liste von favorisierten Ruhemomenten in einer überbordenden Filmgeschichte, die Woo im Vorjahr in einer Jubiläumsausgabe der Cahiers du Cinema veröffentlichte – als Antwort auf eine Frage von Martin Scorsese: „Wenn es einen – wenn auch flüchtigen – Moment gäbe, der ausdrückt, was Kino für Sie bedeutet: Welcher wäre das?“

Woo: „Es gibt so viele Kino-Augenblicke, die mich verzaubert haben. Ich will hier nur einige aufführen.

Mean Streets: Die Schlußszene, in der Robert De Niro die hundert Schritte in ein Gäßchen macht und sich dabei die Wunde am Hals zuhält.

Jules et Jim: Die Freeze Frames von Jeanne Moreau (die Woo übrigens in The Killer zitiert).

Le Samourai: Die Eröffnungsszene mit dem Vogelkäfig im Vordergrund und Alain Delon, ausgestreckt auf seinem Bett, im Hintergrund.

The Godfather: Der Schluß nach der Montagesequenz mit den Massakern, als Diane Keaton Michael Corleone fragt, ob er ein Mafioso sei oder nicht. Michael sagt nein, und schließt die Tür, die die beiden trennt.

Die sieben Samurai: Die letzte Szene, in der die Bauern ein Fest feiern, während der letzte Samurai allein neben den Grabhügeln seiner Freunde verharrt.

Bonnie and Clyde: Vor dem Schlußmassaker schauen sich die beiden Liebenden einen Moment lang schweigend an, das ihnen bestimmte Schicksal akzeptierend.

2001: Die ersten beiden Minuten der Sequenz mit den ersten Menschen.

The Wild Bunch: In dem Bordell, kurz vor dem legendären Schlußmassaker, tauschen alle Männer Blicke aus, und William Holden sagt: ,Was soll die Scheiße?’

8 1/2: Die Eröffnungsszene, in der Marcello Mastroianni über den Stau fliegt.“

Sanfte Bewegungen, Augenblicke des Schweigens am Rande auch von Katastrophen, ein wiederholtes kurzes Verharren in dem sich so etwas wie Erkenntnis oder Gefühl jäh entfaltet. Gleichzeitig höchste Willkür in der Montage von Szenen, die keine Rücksicht darauf nimmt, ob nun ein Höhenflug von Fellini mit einem Abschied bei Peckinpah oder Truffaut möglicherweise nicht kompatibel ist: Die Grundstimmungen von The Killer, in dem Walt Disney ebenso zu seinem Recht kommt wie Woos Vorliebe für katholische Kirchenschiffe ist durch diese Liste schon recht treffend wiedergegeben. Woo, der sich im Hongkong der späten 80er Jahre bzw. dem zunehmenden Taumel der dort ansässigen Filmindustrie oft sehr verloren vorgekommen sein muß, befeuerte seine Protagonisten mit Pop-Zitaten, die er ebenso liebt, wie die Stadt, auf deren „Hyperenergie“ er andererseits nicht verzichten konnte und wollte.

„Es war schon bizarr“, wird er später erzählen. „Einerseits war da in mir dieser Hang, alte Traditionen in Ruhe hochhalten zu können, andererseits war Hongkong, wie es rund um mich brodelte, mit all seiner Korruptheit und häßlichen Schönheit auch immer eine Quelle der Inspiration.“ Dieses Gefühl verdichtet sich in The Killer zu einer melancholischen Unterhaltung zwischen zwei Polizisten. „Alles hier verändert sich so schnell“, sagt der eine mit Blick auf die Stadt. „Ich weiß nicht mehr, ob das, was heute richtig ist, morgen noch Gültigkeit hat.“ Wie soll man ein guter Cop bleiben, fragen sich die beiden, wenn man in der Hitze des Gefechts die Übersicht, vielleicht sogar das eigenen Ethos aus den Augen verliert? Wie soll man hier Mensch bleiben, und nicht zum Tier werden?

Woo, der Moralist, nimmt solche Konflikte mörderisch ernst: „Nie versucht er den Zuschauer auf ironische Distanz zu bringen“, schreibt die Filmtheoretikerin Bérénice Reynaud, und umreißt damit auch einen wesentlichen Unterschied zu den gegenwärtigen US-Produktionen, die mit ähnlichem Formeninventar entweder Stars zu Tieren oder zu Action-Komikern machen. Was hier zwischen den Protagonisten geschehe, könne man, so Reynaud, „mit den Kämpfen, Heldentaten und der wechselseitigen Faszination zwischen Achilles und Hektor in Homers Ilias vergleichen.“ The Killer funktioniere nicht zuletzt auf einer mythologischen Ebene. Und diese entwickelt sich, gleichsam im Atemholen für wuchtiges Erzählen, zuallererst aus pointierten Stillständen heraus.

Hier brüten die Cops über verlorenem Arbeitsethos, dort lauscht der Killer verzückt einem Liebeslied, das jene Sängerin intoniert, die Sekunden später ihr Augenlicht verlieren wird. Kostbar sind diese Friedensmomente, weil sie die Helden zu sich und zueinander kommen lassen, bevor sie sich in den Schlachten wieder funktionalisieren lassen, über jedes bessere Wissen hinweg. Sogar das Ausbrennen einer Wunde mit Schießpulver an einem friedlich plätschernden Flüßchen ist besser als jene Zerstörungen, die Woo letztlich zu plakativ schmerzhaftem Terror steigert. Nichts von diesem Schmerz und nichts von dieser Sehnsucht wird man in einem Film wie The Rock finden. Dort wird eigentlich nur zweckentfremdend Geschwindigkeit simuliert – bis genau das erreicht ist, was Woo eigentlich verachtet: Hemmungslose Automatisierung anstelle humaner Kunstfertigkeit. Während Woo davon erzählt, wie man sich in Zeiten totaler Überforderung und Reizüberflutung treu bleiben kann, sind die Rocks und Con Airs dieser Welt einzig darauf angelegt, den Betrachter zu überwältigen – just for fun.

Als John Woo endlich sein Büro erreicht, und für das Gespräch verfügbar ist, erzählt er zuerst über eine Skepsis, die ihn allmählich auch in Hollywood beschleicht: „Ich bin nicht geschaffen für einen derartigen Aufwand, der sehr häufig nur in unnötiger Zeitverschwendung mündet.“ Es ist sichtlich nicht einfach für ihn, innerhalb des US-Studiosystems eine zweite Karriere aufzubauen, wieder entlang von Mainstream-Arbeiten, wie er sich schon in CinemaCity hochgedient hat. Es sei – siehe untenstehendes Interview – schwer, die Produzenten von fader Konfektion abzubringen. „Aber nach Hongkong werde ich nicht mehr zurückkehren.“ Wenn die Kronkolonie am 1. Juli an China zurückgeht, dann ist ihr paradoxerweise gerade jener Filmemacher abhanden gekommen, der die Arbeit am und im Action-Genre in der Tradition alter Schwertkämpfer-Mythen hochgehalten hat.

Wie sagte Woo aber schon 1993: „Ich habe kein Vertrauen in die chinesische Regierung. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens glaube ich nicht mehr an deren Versprechungen. Ich selbst brauche nicht viel Geld und auch keinen Luxus, was ich aber verlange, ist die uneingeschränkte Entfaltungsmöglichkeit meiner Kreativität.“

„The Killer“ startet am Mittwoch, den 11. Juni mit einer STANDARD/Meteor-Leserpremiere im Wiener Filmcasino.

Ausführliche Informationen zum Film und über John Woo bietet Ralph Umards Prachtband „Film ohne Grenzen – Das neue Hongkong Kino“, 1996 erschienen im Kerschensteiner Verlag, Lappersdorf.


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