Red Devil

Auschwitz als Alibi. Kritik des bürgerlichen Antifaschismus

"Die glücklichen Zeiten kommen nicht wie der Morgen nach einer durchschlafenen Nacht."
Berthold Brecht

"Seid betroffen und zeigt Mitleid, aber bitte bloß kein Streit. Ein paar Sprüche gegen Nazis, aber ein Faustschlag geht zu weit."
Public Toys

Vorwort

Es sind wahrlich gelungene Inszenierungen, die uns hier eine nach der anderen dargeboten werden. Das vereinte "demokratische" Europa unter deutscher Führung setzt sich für die Menschenrechte ein: Es führt Krieg gegen einen "Diktator" wie Milosevic und hat Sanktionen gegen die Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ in Österreich auf den Weg gebracht. Und nun folgt in Deutschland ein "Aufstand der Anständigen", aller wahrhaft ehrli-chen "Demokraten" gegen die Barbarei des rechtsextremen Mobs.

Aus allen Bereichen der Gesellschaft erhebt sich der Protest der Menschen gegen das Treiben der "dumpfen Glatzen". Alle Parteien der bürgerlichen "Mitte", alle gesellschaftliche Promi-nenz wie Gewerkschafter, Künstler, Politiker, Sportler und Wirtschaftsbosse stehen geschlos-sen in einer Front, sind sich einig wie selten. Ähnlich wie es ein Teil der Österreicher mit dem Slogan "Haider ist nicht Österreich" ausgedrückt hat, ist auch hier eine breite Koalition unter dem Motto "Gegen Gewalt und Intoleranz" aufgestanden (Von "Toleranz", "Menschlichkeit" und anderem bürgerlichen Plunder war die Rede; dabei gilt diese "Toleranz" nicht einmal für Alkoholiker, Obdachlose, Punks und andere Randgruppen in den deutschen Innenstädten). Den Ruf Deutschlands, sein Ansehen in der Welt, das durch die Umtriebe der "Ewiggestrigen" geschädigt werde, gelte es geradezurücken. Die kuriosesten Vorschläge wurden und werden gemacht, um dem Treiben der Nazi-Horden Einhalt gebieten zu können.

Ein bißchen erinnert uns diese große Koalition an die Front der imaginären kapitalistischen Einheitspartei, bestehend aus ihren bürgerlichen Fraktionen von NPD über CSU, CDU, FDP, SPD, Grünen, PDS bis hin zur MLPD, welche alle in Wahlkampfzeiten eine "andere Politik" fordern und alle in der Forderung "Arbeit, Arbeit, Arbeit!" übereinstimmen. Als wenn (Lohn-) Arbeit unter kapitalistischen Verhältnissen etwas Geiles wäre und als wenn es uns allen gut ginge, wenn wir alle Arbeit hätten ...

Bei all dem Betroffenheitsgeseier könnte man glatt drei Dinge vergessen: Zum ersten ist der Nazi-Terror auf der Straße wirklich nichts neues und existiert in dieser Form seit über 10 Jahren. Schon die Übergriffe von Hoyerswerda, Mölln, Rostock und Solingen haben zu ähnli-chen Reaktionen geführt. Zum zweiten hat das Treiben der Nazis auch Ursachen, die sich nicht durch Gesetzesverschärfungen beheben lassen und die von der Politik in diesem Land hervor-gerufen worden sind. Eben von jenen Leuten, die heute so sehr um Deutschlands Ruf besorgt sind und die sich an die Lösung des Problems machen wollen. Zum dritten scheint es so, daß es außer den Nazis keine anderen Probleme zu geben scheint. Probleme wie Arbeitshetze, Ar-beitslosigkeit, Korruption und Politikerfilz, Mobbing und Streß, Sozialabbau, steigende Mie-ten, Preise und Steuern, vergiftete Lebensmittel, ... kurz: der alltägliche kapitalistische Normal-zustand, der Sumpf der Ausbeutung scheint nicht mehr zu existieren. Zumindest haben diejeni-gen, die da in den Medien vom "menschenverachtenden" Treiben der Nazis herumschwafeln nicht diese Probleme, die auch wir nur allzugut kennen.

Das ist für uns allemal Ansporn ein bißchen hinter die Kulissen der Betroffenheitbekundungen, Initiativen und Presseerklärungen der "demokratischen Gesellschaft" zu schauen.

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Im Anhang drucken wir einige Texte ab, die wir in diesem Zusammenhang für recht brauchbar halten und auf diesem Wege einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Es handelt sich hierbei um den vorzüglichen Text "Auschwitz oder das große Alibi" des italieni-schen Linkskommunisten Bordiga, der 1961 das erste Mal von der Gruppe "Programma Com-munista" veröffentlicht wurde, sowie um drei Texte aus unserer Feder, die in der Vergangen-heit im "Revolution Times" erschienen sind. Es handelt sich hierbei um "'Antifaschismus' und Kapitalismus", "Antifa-Arbeit und unsere Probleme mit ihr" und "Die Nazis und die soziale Frage".

Wir wollen mit dieser Broschüre versuchen unseren Beitrag zu einer Kritik des bürgerlichen Antifaschismus, d.h. also der "Politik" eines Großteils der Antifa und der Linken zu liefern. Schließlich ist der Antifaschismus das einzig relevante Politikfeld der "Linken". Als bürgerli-chen Antifaschismus bezeichnen wir im folgenden einen solchen Antifaschismus, der sich auf seine Anti-Haltung beschränkt und die Funktion der Nazis für dieses System und eine gesell-schaftliche Alternative nicht thematisiert. Wir sehen den Antifaschismus hingegen als Selbst-schutz, nicht als Selbstzweck.

Unsere Broschüre soll anregen zum Fragen und soll allzu Selbstverständliches in Frage stellen. Die Frage nach einer antikapitalistischen Perspektive, die unserer Meinung nach den einzigen Ausweg aus der kapitalistischen Barbarei und ihren Auswüchsen darstellt, werfen wir ebenfalls auf. Auch wenn vieles von dem, was wir hier schreiben nicht neu ist, ist es doch nötig es wieder in Erinnerung zu rufen und in einen Zusammenhang zu stellen, weil es sonst nur allzu wenige tun.
Red Devil

Die derzeitige Situation

"Auch der Ausländer, der morgen abgeschoben wird, muß sich heute auf unseren Straßen sicher fühlen."
Günther Beckstein (CSU), Innenminister in Bayern, in Freies Wort vom 3. August 2000

Seit Jahren verfolgen wir nun schon das politische Geschehen in diesem Land und die Bilder und die Worte gleichen sich: Nazis organisieren sich, marschieren, veranstalten Konzerte und greifen Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer vermeintlichen politischen Einstellung oder ihrem Anderssein an. Die Politiker sehen zu, doch wenn die Nazis es zu dreist treiben und das Ausland hellhörig wird, dann greift der Staat ein.

Dann hagelt es Sondersendungen im TV, dann überschütten uns Politiker mit Betroffenheitsge-fasel, heucheln Entschlossenheit, reden von der Verschärfung der Gesetze und von Verboten, die dann und wann auch ausgeführt werden. Doch nach einiger Zeit, wenn der Eindruck ent-standen ist, der Staat hätte wieder alles im Griff und öffentliche und internationale Proteste abnehmen, verschwindet dieses Thema auch wieder aus der öffentlichen Diskussion und das Treiben der Rassisten und Nazis gehört - fern ab der öffentlichen Berichterstattung - weiter zum Alltag vieler Menschen in diesem Land. Was das betrifft, hat sich seit den Tagen von Rostock und Mannheim-Schönau nicht viel in diesem Land verändert.

Auch dieses Jahr nach den neuesten Übergriffen gibt sich die Politik im Juli, August und September wieder betroffen. Fischer, Schily, Schröder und ihre Regierung tun erneut so, als hätten sie das Problem erkannt. Uns sind noch die Lichterketten des Herbstes 1992 in Erinne-rung, als auch das bürgerliche Deutschland seine Betroffenheit zur Schau stellte. Auch heute ist es wieder soweit, daß die Prominenz aus Wirtschaft, Politik und Sport, kurz das Establishment, seine Betroffenheit zeigt und nach einem "härteren" Durchgreifen gegen solche Auswüchse fordert. Die Parallelen liegen auf der Hand. Schon fordern einige, daß der Verfassungsschutz (VS) die Nazis mehr und besser unterwandern müsse. Andere wie Berlins Innenminister Wert-hebach fordern die Einschränkung des Demonstrationsrechts oder wie der bayerische Innenmi-nister Beckstein das Verbot der NPD. Die "extremistische" Mitte ließ durch ihr Sprachrohr Schily wissen, daß man die Nazis lehren wolle, was Demokratie bedeutet.

Markige Worte machten die Runde. Markige Worte, die Entschlossenheit zeigen und Betrof-fenheit ausdrücken sollen, aber an wirklichen Taten ist bisher nichts zu sehen. Der Staat machte (zumindest verbal) der Antifa ihre Rolle streitig und Teile der Restlinken und der Antifa waren ersteinmal verblüfft, daß der Staat in Person einiger ehemaliger Linker wie Fischer, Schily und Schröder das Thema "Antifaschismus" so offensiv thematisierte. Da ein Teil der Antifa nicht mehr anzubieten hatte, schwieg er oder stimmte ein in den Chor der Volksfront der Antifaschisten.

Vergessen war die jahrelange Verharmlosung der Nazis durch den VS und andere staatliche Organe als "braune Wirrköpfe". Vergessen war auch die gern von der Regierung gebrauchte These vom Einzeltäter, welche faschistischen Tätern wie Kai Diesner die politische Ernsthaf-tigkeit absprach, weil sie angeblich verwirrt und einzeln, d.h. ohne organisatorischen Zusam-menhang, handeln würden. Vergessen war auch die jahrelange Verharmlosung der "rechten Gewalt" als "Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendbanden". Vergessen waren auch die Worte über die "alkoholbedingte", nicht politisch motivierte Gewalt angesichts der alljährlichen Vatertagskrawalle. Vergessen waren auch die Worte und die Bekenntnisse bürgerlicher Politiker zum entschlossenen Vorgehen gegen Nazis, welche diese nach den rassistischen Auswüchsen Anfang der 90er geäußert hatten und denen kaum Taten gefolgt waren.

Das Problem, das dieses Land mit den Nazis hat, schien nun staatlicherseits erkannt. Ein Innenminister Schily redete am 18. August von einem "diffusen Bild", das der deutsche "Rechtsradikalismus" abliefere. Kanzler Schröder sprach vom Verbot der NPD als einem "Stück politischer Hygiene" (heute journal, 19.August 2000). Das TV brachte wochenlang Sendungen und Diskussionen zum Thema. Meist mit Leuten, die vom Terror auf der Straße gar nicht betroffen sind, weil sie einfach "normal" oder wohlhabend sind. Eine Werbesendung für die Nazis folgte der anderen und anstatt aufzuklären, befriedigte sich der Journalismus selbst durch reißerisch aufgemachte Reportagen, angereichert mit Bildern und Fakten, die sich stän-dig glichen und seit langem bekannt waren, und ermöglichte dem einen oder anderen Nazi sich selbst darzustellen und zu produzieren. Auch die NPD nutzte durch verstärkte Propaganda in Form von Flugblättern und Plakaten diese Berichte, welche sie enorm bekannt gemacht haben. Es wurde geradezu so getan, als wenn das Problem erst jetzt bestünde, zumindest war es erst wieder neu medial entdeckt und aufgegriffen worden.

Nicht die Morde durch Nazis an sechs Menschen in den Monaten Mai bis Juli (darunter der am Punk Falko aus Eberswalde und der an zwei Obdachlosen in Mecklenburg-Vorpommern), sondern ein Bombenanschlag auf eine Gruppe russischer Sprachschüler am 27. Juli war Auslö-ser zu der staatlichen Kampagne. Bis zum heutigen Tage ist allerdings noch ungeklärt, ob der Anschlag wirklich den Russen galt und ob er überhaupt von Nazis verübt worden ist. Die Polizei ermittelt nach anfänglichen Ermittlungen gegen "rechts" nun wieder "in alle Richtun-gen". Mit dem Bombenanschlag wurde ein Ereignis gewählt, das sich medial gut ausschlachten ließ und die Gemüter erhitzte. Schnell war ein gesellschaftliches Klima geschaffen und schnell war der Staat mit Vorschlägen da, welche Repressionen und ein Verbot der NPD in den Mittel-punkt stellten. Hartes Durchgreifen wurde als einziges wirksames Mittel dargestellt. Die De-batte um Repressionen war legitimiert durch diese "abscheuliche" Tat und nicht durch die schon zur Normalität gehörenden rassistischen Morde, welche im Nachhinein in den Medien noch einmal etwas "aufgewärmt" wurden, um die Debatte am Leben zu erhalten.

Es folgten Verbote zweier militanter Nazi-Gruppen wie des "Hamburger Sturms" und der deutschen Sektion von "Blood & Honour" und ihrer Jugendorganisation "White Youth". Ansonsten lief die Debatte langsam aus. Noch im Januar 2001 ist das NPD-Verbot, das von vielen Politikern als entscheidendes Mittel gefordert wurde, nicht umgesetzt.

Das "tolerante" Deutschland stellte sich in massenwirksamen Aktionen der Welt zur Schau. Ob auf der Abschlußveranstaltung der Expo am 31. Oktober, die unter dem Motto "Fremde wer-den Freunde" im TV übertragen wurde, ob auf den Großdemonstrationen in Dortmund oder Düsseldorf, wo der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Klimmt vor Zehntausenden große Reden schwang oder am 9. November als der "Aufstand der Anständigen" geprobt wurde. In Eintracht marschierten dort alle Demokraten und solche, die sich dafür hielten.

Der Nazismus wurde auch in Hannover als "Virus" dargestellt und dämonisiert. Die Nazi-Schläger würden das "häßliche" Deutschland verkörpern. Deutschland sei aber "weltoffen" und "tolerant", schließlich bräuchte die Wirtschaft ein solches Klima (wie schön, daß die Wirtschaft uns auch diktiert, wie wir zu denken haben!; Wer aber denjenigen gar nicht kennt, den er vorgibt bekämpfen zu wollen, der kann ihn auch nicht bekämpfen.)

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Der Staat ist darum bemüht, die Reaktionen und den Widerstand gegen den Faschismus in geregelte Bahnen zu lenken: in die Sackgasse, an deren Ende die eigene Ohnmacht steht und den Ruf nach dem starken Staat hervorruft, im Selbstverständnis, daß es immer noch besser ist, daß der Staat eingreift, als wenn gar nichts geschieht. Die Erfahrung der eigenen Machtlosig-keit (angesichts der Berichte über rechte Gewalt) treibt diejenigen, die etwas gegen das Pro-blem der Nazis tun wollen angesichts ihrer eigenen Isolierung in die offenen Arme des Staates, der nach erfolgter Umklammerung den Griff nicht mehr lockern wird, solange unabhängiges Engagement droht. Der Staat kanalisiert die Kritik und Sicht der Dinge in eine Form und Richtung, die seinen Interessen entspricht: Es wird keine Diskussion über Ursachen geführt (was eine Diskussion über eine Verantwortung der Herrschenden beinhalten würde), es ist die Rede von den "falschen Ideen" in den Köpfen der jungen Menschen. Es wird abstrahiert vom gesamten gesellschaftlichen, d.h. politischen und sozialen, Klima.

Die Zustände heute gleichen denen von vor einigen Jahren: die gesellschaftlichen Umstände, die Ursachen und die Verhältnisse, die Rassismus und Faschismus hervorbringen werden ausgeblendet. Die öffentliche Diskussion kratzt lediglich an der Oberfläche des Problems und greift die auffälligsten und am lautesten schreienden Exponenten des neuen Faschismus an: die Nazi-Glatzen und die NPD. Der bürgerliche Antifaschismus reduziert das Problem des Fa-schismus auf seine äußerliche Form: die Gewalt, die Boneheads und die NPD (Gegen Gewalt, ohne Gewalt gegen Ausländer, gewaltlos gegen Ausländer - darauf läßt sich, wie es bereits der "Eulenspiegel" treffend formulierte, die gesamte Debatte reduzieren.). Er abstrahiert völlig von den gesellschaftlichen Umständen, unter denen der Faschismus existieren konnte und unter denen er auch heute wieder gedeihen kann und welche die Entstehung rassistischer und anderer reaktionärer Denkmuster begünstigen. Er dämonisiert und reduziert alles auf die Existenz falscher Ideen. Manchmal gibt sich der bürgerliche Antifaschismus auch sozialkritisch und macht pauschal die Gesellschaft verantwortlich für das Wiedererstarken der Nazis. Oder seine Vertreter fordern Arbeitsplätze (ein wirkliches "Allheilmittel" bürgerlicher Politik!) und mehr Geld für Jugendliche, so daß diese eine Perspektive erhalten sollen. Doch die Tatsachen wider-sprechen dem: 1. Sind die meisten "rechten" Jugendlichen nicht direkt von Problemen wie Arbeitslosigkeit betroffen (Eine Analyse der Bürgerschaftswahlen in Bremen am 6. Juni 1999 ergab, daß fast doppelt soviele Arbeiter für die DVU stimmten wie im Bevölkerungsdurch-schnitt vorhanden sind. Bei den Arbeitslosen lag der Wert niedriger, aber dennoch erhöht.) und viele haben auch keine Probleme mit Ausländern oder Linken gehabt. 2. bieten ihnen Arbeit und mehr Geld für Jugendprojekte auch keine wirkliche Perspektive.

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Nach den Übergriffen von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen griff zwar auch der Staat das Thema auf, aber es war einem großen Teil der Linken besser gelungen als im Jahr 2000 das Thema für sich zu vereinnahmen, zu nutzen und das gesellschaftliche Klima mit zu beeinflussen. Ein entscheidender Unterschied ist der, daß die Nazis Anfang der 90er wieder in die Defensive gedrängt werden konnten. Nun, wo der Staat sich den "Kampf" gegen den Rechtsextremismus auf die Fahnen geschrieben hat, sind die Nazis trotz der staatlichen Kam-pagne in der Offensive. Sie treten selbstbewußt auf, führen weiterhin Demonstrationen durch und nutzen so das gesellschaftliche Klima der Stigmatisierung und der oberflächlichen Infor-mation, welche die Nazis als die letzten "Rebellen" erscheinen läßt, welche sich gegen das Establishment und den Staat auflehnen.

Auf den "antifaschistischen" Sommer folgte ein reaktionärer, weil nationalistischer Herbst. In "nationaler Einheit" engagierte sich der empörte Bürger für den "Ruf Deutschlands" und die "Zukunft des Wirtschaftsstandortes". Der reaktionäre Herbst war dabei nur eine logische Folge des "antifaschistischen" Sommers. Beide waren wiederum die Fortsetzung der vor einigen Jahren begonnenen nationalistischen "Standort"-Debatte. Im Herbst wurde die "Betroffenheit" untermalt mit nationalistischen bzw. rassistischen "Klängen" der "deutschen Leitkultur" und des "Asylmißbrauchs". Ein Teil der bürgerlichen Politiker macht den Eindruck, als wollte er die Nestbeschmutzer der NPD aus ihrem Kreis verstoßen, um sie als lästige Konkurrenten auszuschalten und ihre "nationale" Thematik selbst zu besetzen. Daraufhin deuten die Verbots-diskussion und die gleichzeitig im November geführte und von der CDU angestoßene Diskus-sion um die Regulierung der Zuwanderung, die "deutsche Leitkultur" (diesen Begriff hat der CDU-Rechtsaußen Lummer bereits 1998 verwendet) und die "nationale Identität" (Angela Merkel redet hiervon im Gegensatz zur SPD, die vom "Verfassungspatriotismus" schwafelt) und die Bezeichnung der SPD als "vaterlandslose Gesellen" hin. Die Wiederentdeckung des Nationalismus, besser gesagt seiner akzeptierten "demokratischen" und nicht seiner "häßli-chen" und aggressiven Variante, ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der "neuen Verant-wortung" des vereinigten Deutschlands und seiner hiermit verbundenen neuen und aggressive-ren Außenpolitik. Dieser "demokratische" Nationalismus, der seit 1989/1990 (staatlich geför-dert) ständig im Wachsen begriffen ist und von der herrschenden Klasse gefördert wird, bildet den fruchtbaren Boden für den Nationalismus der Nazis, der durch ihn wieder salonfähig und somit akzeptabel wird.

Einen "sauberen", weil "demokratischen" Nationalismus haben die CDU-Koriphäen Merz und Merkel auf die Tagesordnung gesetzt. Ihre Debatte um eine imaginäre "deutsche Leitkultur" und eine "nationale Identität", auf die wir wieder stolz sein müßten, zeigt nur, wer hier die Brandstifter sind und daß eben diese den vorhandenen Nationalismus auch für sich ausnutzen und monopolisieren wollen und so die "primitiven" Nazis, welche nur dem Ansehen des Lan-des, besser dem des Wirtschaftsstandortes, schaden, überflüssig machen wollen. Dieser "de-mokratische" Nationalismus ist auch nötig, um neue Kriege wie den gegen Jugoslawien recht-fertigen und selbstbewußt führen und ein Klima schaffen zu können, in dem Kritik an den sozialen und politischen Verhältnissen der BRD nicht auf fruchtbaren, d.h. subversiv-revolutionären bzw. systemkritischen, Boden fällt.

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Der Staat richtet heute schon mehr aus als die Nazis mit ihren "Freien Kameradschaften" und ihrer NPD je ausrichten könnten. Der Staat führt Krieg, verfolgt und kriminalisiert Antifaschi-sten, verbietet linke Demonstrationen und setzt Nazi-Aufmärsche mit Gewalt durch. Der Staat hetzt gegen "Asylbetrüger" und "Sozialschmarotzer", schiebt unliebsame Ausländer ab und setzt so die Forderung der Nazis nach "Ausländer raus!" aus. Der Staat rüstet sich weiter auf, schaltet nach und nach immer mehr die Medien und die gesamte Gesellschaft gleich. Es ist der Staat, der seinen Repressionsapparat in Form des "Großen Lauschangriffs", der Gendateien, Fotokarteien, der Internet- und Telefonüberwachung, etc. ausbaut - das von George Orwell in "1984" geschilderte Szenario und die totale Überwachung sind längst Realität. Von all dem können die Nazis nur träumen. Deshalb ist der staatliche "Antifaschismus" mit Vorsicht zu genießen, denn wir erinnern uns an unsere Erfahrungen: wir wurden bei unseren Versuchen "Zivilcourage" zu üben und somit die Worte der Politiker ernst zu nehmen zu oft dafür noch bestraft. Wir erinnern uns an Demonstrationen, wo dieser Staat die Nazis geschützt hat, uns aber angegriffen und kriminalisiert hat. Wir denken an das Verbot der Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 2000, wir denken an die Repression gegen die Passauer Antifas und die Kriminalisierung der Antifa (M) aus Göttingen, wir denken an die Demonstrationen in Saalfeld oder Lübeck und wir denken und erinnern uns vieler ande-rer "antifaschistischer" und "demokratischer" Beweise dieses Staates und dieses Systems.

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Bezeichnend für die Barbarisierung der gesamten Gesellschaft sind mehrere Fakten. Zum einen wird das TV-Spektakel "Big Brother" als "menschenverachtend" kritisiert, aber der kapitalisti-sche Normalzustand wird ebenso unkritisiert hingenommen wie der staatliche Rassismus oder der Krieg gegen Rest-Jugoslawien. Viel war in den Medien in den letzten Wochen auch über eventuell durch radioaktive Munition hervorgerufene Erkrankungen von NATO-Soldaten zu hören. Kein Wort wurde aber über die eventuelle Belastung der albanischen und serbischen Zivilbevölkerung verloren.

Interessant ist auch ein weiterer Aspekt: Während gegen die RAF ein großes Maß an Repressi-on aufgebracht wurde, ist bei den Nazis von Staates Seite kein nahezu vergleichbares hartes Durchgreifen zu erkennen. Hier zeigt sich der Klassencharakter der bürgerlichen Politik und des Faschismus. Da die Nazis nicht wie damals die RAF Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft bedrohen (irgendwelche Listen mit den Namen von Richtern oder Politikern sind dazu kein Vergleich), sondern größtenteils "nur" Menschen aus der Arbeiterklasse, welche eben keinen Bodyguard oder gepanzerte Scheiben haben, sieht das politische und wirtschaftli-che System keinen wirklichen Handlungszwang wie damals zu Zeiten der RAF. Schließlich hat der Terror der Nazis auch eine systemstabilisierende Wirkung: zum einen richtet sich ihr Haß gegen Schwächere und lenkt so von den wirklich Verantwortlichen gesellschaftlicher Probleme ab, zum anderen diszipliniert ihr Terror auch die Menschen, welche von diesem Terror betrof-fen sind bzw. sich als potentielle Opfer sehen (d.h. Angst vor Widerstand, Kritik und Anders-sein). Da die Medien und der Staat das Problem der Nazis zum Zwecke der gewünschten Gesetzesverschärfungen zeitweise aufbauschen, um es später wieder in der Versenkung ver-schwinden zu lassen, und da die Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft stark isoliert sind (ganz davon abgesehen, daß eine Arbeiterbewegung, welche den Nazis Paroli bieten könnte, völlig fehlt), schlägt die Stimmung in die Ohnmacht des Einzelnen um, welche dazu führt, vom Staat - mangels für viele sichtbarer Alternative - ein härteres Vorgehen gegen die Nazis zu fordern.

Überhaupt war und ist die gesamte Diskussion von etlichen Vereinfachungen geprägt, die das Problem, das die Nazis darstellen, auf vor allem Äußerlichkeiten reduziert und es dadurch insgesamt entpolitisiert und von gesellschaftlichen Ursachen und Zusammenhängen abstra-hiert.

Die Beweggründe des "anständigen Deutschland":
"Rechtsextremismus kann Standort Deutschland schaden"
oder: Die Beweggründe der Wirtschaft

"Gewalt gegen Ausländer trifft die deutsche Wirtschaft zutiefst"
L. v. Warten-berg, Hauptgeschäftsführer des BDI

"Das heißt, das bedroht auch ein Stück das wirtschaftliche Fortentwickeln der Bundesrepublik und hier insbesondere der ostdeutschen Länder."
Trittin im Südwestfunk, Berliner Zei-tung, 31. Juli 2000

"Das derzeitige Bild Deutschlands schadet unserer weltweiten Rekrutierungsfähigkeit."
Bernd Ebersold, bei der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften für Au-ßenbeziehungen zuständig ist, zitiert nach Berliner Zeitung, 7. August 2000

Die Kapitalisten übten sich in Eintracht mit den bürgerlichen Politikern und waren besorgt um das "Ansehen" und den "Ruf" des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Der "Ruf" und das "Ansehen" Deutschlands" sind wirklich überzeugende und beruhigende Argumente gegen "rechts". Auch nach den Brand- und Mordanschlägen von Rostock, Mölln und Solingen waren die Politiker schnell zur Stelle und verurteilten wie der damalige Bundesinnenminister Seiters oft nicht die Täter, sondern beklagten sich lediglich, daß die Täter mit ihren Anschlägen dem deutschen Ansehen in der Welt geschadet hätten. Damals begründete man im gleichen Atem-zug mit den Anschlägen die Notwendigkeit das Asylrecht einzuschränken.). Die Ford AG schaltete eine ganzseitige Anzeige in der Süddeutschen Zeitung, das Kieler Einkaufszentrum "Sophienhof" hängte Plakatbänder "gegen Fremdenfeindlichkeit" auf. Das Stadt-Marketing der Stadt Neumünster rief gar zur Teilnahme an einer antifaschistischen Demonstration Mitte September auf. Der "Stern" Nr. 32 wußte sogar zu berichten: "Im brandenburgischen Rathe-now initiierten Unternehmer ein Bündnis gegen Fremdenhaß, nachdem ausländische Investoren trotz schönster Gewerbeflächen und Steuervorteilen fortgeblieben waren."

Die Wirtschaft lehnt die "Fremdenfeindlichkeit", "rechte Gewalt" und den "Hass" ebenso wie die Regierung ab, nicht etwa aus prinzipiellen Gründen. Nein: Die größte Sorge für die Wirt-schaft und die Politik sich gegen den Faschismus auszusprechen ist die Angst vor negativen Auswirkungen auf den "Standort Deutschland" und nicht die prinzipielle Ablehnung des Rassismus und Nationalismus, der von Teilen der Nazis offen zur Schau gestellt und gelebt wird. Abgelehnt werden die rassistischen Auswüchse prügelnder Nazis (oder solcher Leute, die sich dafür halten), weil sie dem "Ansehen" und somit u.a. dem Export schaden; akzeptiert und mitgetragen wird hingegen die rassistische Abschiebepolitik. Da es einzig und allein darum geht, Schaden von Deutschland abzuwenden richtet sich das Hauptaugenmerk gegen die Ge-walt "rechter" Schläger und es werden nicht die Bedingungen thematisiert, unter denen solche Verhaltens- und Denkweisen entstehen. Die rassistische Politik der etablierten bürgerlichen Parteien spielt in der derzeitigen Diskussion keine Rolle in der Auseinandersetzung. Das "anständige" Deutschland darf sich in Kampagnen wie "Wochen des ausländischen Mitbür-gers" und "Tolerantes Brandenburg", etc. als "human", "tolerant" und "weltoffen" selbst in Szene setzen oder darf sich vor den Karren von Initiativen wie "Gesicht zeigen" oder "Courage zeigen - Für Toleranz und Demokratie" spannen lassen. Solcher bürgerlicher Politzirkus dient als Vorzeigeaktion für das eigene Gewissen und für die Imagepflege im Ausland. Denn: "Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit schaden uns in jeder Hinsicht," hieß es bereits in der Regierungserklärung der CDU/SPD-Koalition in Brandenburg (so in Berliner Zeitung, 25. November 1999). Im Umkehrschluß heißt dies, wenn die Nazis Deutschland nützen wür-den, dann wären ihre Aktionen gut(zuheißen).

Noch deutlicher drückte es Herr Höppner aus: "Wir müssen aufpassen, daß die Vorfälle nicht zu einer Gefahr für unseren Wirtschaftsstandort werden." Diese Äußerung des SPD-Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt drückt erstens die Sorgen und Beweggründe der bürgerlichen Demokraten und der Wirtschaft den Nazis entgegenzutreten aus und zweitens zeigt es die Arroganz gegenüber den heutigen Opfern "rechter" Gewalt, welche nur Kollateral-schäden der demokratischen Barbarei (in diesem Falle der staatliche Rassismus) sind. Es geht also nicht um die Sache an sich oder um die Opfer, noch ist eine "antifaschistische" Gesinnung vorhanden, sondern es geht einzig und allein um den Ruf des Wirtschaftsstandortes Deutsch-land, dem alle ihre Gesinnung und Politik unterzuordnen und nach dem sie ihr Handeln auszu-richten haben.

Für den Vorsitzenden der Unternehmensverbände Schleswig-Holstein/ Hamburg sind das Problem "weniger die rechtsextremistischen Vorkommnisse selbst, die das Ausland irritierten, als das Lamentieren der Politiker darüber". Daß es die Sorge um die eigenen Profite und nicht um die Opfer ist, welche die Wirtschaft zum "Engagement" gegen "rechts" treibt, verdeutlicht auch ein Beitrag in der Monatszeitschrift der Industrie- und Handelskammern Kiel und Flens-burg, wo es heißt: "die IHKs verurteilen die zunehmenden Übergriffe gegen Ausländer aufs Schärfste (...) Es darf nicht sein, daß eine Minderheit das Ansehen Deutschlands gefährdet. (...) Millionen von Menschen aus vielen Ländern tragen mit ihrer Arbeitskraft erheblich zur Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bei. (...) Die positiven Ansätze in der Diskussion um die Einwanderungspolitik haben nur Aussicht auf Erfolg, wenn die Attraktivität Deutsch-lands als Produktions- und Arbeitsort nicht durch radikale Gewalttäter beschädigt wird." D.h. alle, die sich nicht den Bedürfnissen der "Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft", d.h. den Klasseninteressen des Kapitals, unterordnen und für diese wichtig, d.h. nützlich, sind, wirken als störend, weil sie nicht gebraucht werden und den Profiten schaden. Dazu gehören "radikale Gewalttäter" ebenso wie Flüchtlinge. Der Staat und das Kapital brauchen die Aus-länder als billige und qualifizierte Arbeitskräfte, als Konsumenten und als Touristen; als arme Habenichtse sind sie nicht willkommen. Wer den staatlichen Rassismus mitträgt, das Handeln (z.B. gegen Flüchtlinge) dem Staatsapparat überläßt und ihn demokratisch in Wahlen absegnet, stellt kein Problem für den "Standort" dar.

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Während der Antifa-Kampagne des Staates wurde versucht ein "Wir"-Gefühl zu schaffen. Es sei im Interesse aller, "unseren Standort" gegen diese "rechten Gewalttäter", deren Taten "unsere Arbeitsplätze" gefährden würden, zu verteidigen, etc. Den "Kampf" gegen den Rechts-extremismus hatte die neue Bundesregierung 1998 bereits zur "Chefsache" erklärt. Eine Poli-tik, welche die Verwaltung der Gesellschaft nach kapitalistischen Gesichtspunkten ("Sach-zwängen") und im Interesse des Profites regelt, beinhaltet auch, daß die Politik in Bezug auf die Nazis und die Ausländer ebenso betrieben wird. In diesem Sinne wird z.Zt. auch ein Ein-wanderungsgesetz diskutiert, das den wirtschaftlichen Interessen entspricht und die benötigten Arbeitskräfte beschaffen hilft.

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