Archiv links- und rätekommunistischer Texte

As We Don’t See It

1. "In der ganzen Welt" bedeutet genau das, was es wörtlich heisst. Es bedeutet nicht: überall, ausser im sozialdemokratischen Schweden, in Castros Cuba, Titos Jugoslavien, Israels Kibuzzim oder Sekou Toures Guinea. "In der ganzen Welt" schliesst das vorstalinistische und nachstalinistische Russland ein, ebenso Ben Bellas und Boumediennes Algerien, die Volksrepublik Usbekistan und Nordvietnam. "Überall" schliesst auch Albanien (und China) ein. Unsere Ansichten über die gegenwärtige Gesellschaft gelten für all diese Länder ebenso sehr, wie für die USA oder England (egal, ob unter konservativer oder Labour-Regierung). Wenn wir von privilegierten Minderheiten sprechen, die "die Produktionsmittel kontrollieren" und "Die ganze Staatsmaschinerie dazu benutzen", sich selbst und andere an der Macht zu halten, so leisten wir damit eine allumfassende Kritik, von der es im Moment keine Ausnahme gibt. DARAUS FOLGT, dass wir keines dieser Länder für sozialistisch halten und dass wir nicht so tun, als hätten wir insgeheim die Vermutung, sie seien doch etwas anderes, als sie sind: nämlich hierarchisch strukturierte Klassengesellschaften auf der Basis von Lohnsklaverei und Ausbeutung. Sie mit dem Sozialismus gleichzusetzen - sei es auch nur mit einer entstellten Variante - stellt eine Verleumdung des wirklichen Sozialismus-Konzeptes dar. (Allerdings haben auch Missgeburten immer noch einiges mit ihren Eltern gemein.) Diese Gleichsetzung ist darüberhinaus die Quelle unendlicher Mystifikation und grenzenloser Verwirrung. Aus dieser grundsätzlichen Einschätzung folgt auch, dass wir weder China gegen Russland unterstützen, noch Russland gegen China (oder abwechselnd mal das eine und mal das andere), dass wir keine FNL-Fahnen auf Demonstrationen tragen (die Feinde unserer Feinde sind nicht notwendigerweise unsere Freunde) und dass wir uns bremsen können, in die diversen Chöre mit einzustimmen, die nach mehr Ost/West-Handel, mehr Gipfelkonferenzen oder mehr Ping-Pong-Diplomatie verlangen. In jedem Land der Welt unterdrücken die Herrschenden die Beherrschten und verfolgen die wirklichen Revolutionäre. In allen Ländern ist der Hauptfeind des Volkes die eigene herrschende Klasse. Das allein kann die Grundlage für einen echten Internationalismus der Unterdrückten sein.

2. Sozialismus kann nicht gleichgesetzt werden mit der "Machtübernahme durch Parteien, die beanspruchen, die Arbeiterklasse zu repräsentieren". Politische Macht ist Betrug, wenn die Produzenten nicht die Macht in der Produktion übernehmen und behalten. Wenn die Produzenten diese Macht erringen, werden die Organe, die diese Macht ausüben (die Arbeiterräte) alle notwendigen politischen Entscheidungen treffen und ausführen. DARAUS FOLGT, dass wir nicht für die Gründung von "besseren" oder "revolutionäreren" Parteien eintreten, deren Aufgabe die "Ergreifung der Staatsgewalt" bliebe. Die Macht der Partei mag aus den Gewehrläufen kommen. Die Macht der Arbeiterklasse (Produzenten) entspringt aus der Selbstverwaltung in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. Sozialismus kann nicht gleichgesetzt werden mit Massnahmen wie der "Verstaatlichung der Produktionsmittel". Diese Massnahmen mögen den Regierenden verschiedener Klassengesellschaften helfen, ihr Ausbeutungssystem zu rechtfertigen und ihre Probleme zu lösen; wir aber weigern uns, zwischen Alternativen zu wählen, die von unseren Klassenfeinden gestellt sind. DARAUS FLOGT, dass wir weder "rechte" noch "linke" Regierungen zur Verstaatlichung oder zu ähnlichem antreiben. Absatz 2 impliziert auch, dass der Kapitalismus imstande ist, die Produktionsmittel weiterzuentwickeln. Er kann unter Umständen sogar den Lebensstandard verbessern. Aber weder das eine noch das andere hat irgendetwas mit Sozialismus zu tun. Jeder, der drei ordentliche Mahlzeiten am Tag haben will und die Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz, kann das in jedem gutgeführten Gefängnis auch haben. DARAUS FLOGT, dass wir den Kapitalismus nicht in erster Linie auf Grund seines Versagens in dieser Beziehung verurteilen. Sozialismus heisst für uns nicht, dass die Gefangenen alle Radios kriegen, sondern er bedeutet die Zerstörung des industriellen Gefängnisses selbst. Es geht nicht nur um mehr Brot, sondern darum, wer in der Bäckerei zu sagen hat. Der Absatz 2 hebt schliesslich die vielfältigen Methoden hervor, mit denen das System sich selbst am Leben erhält. Indem unter diesem Punkt von Propaganda ebenso die Red eist, wie von Polizisten, von Schulen, wie von Gefängnissen, von überkommenen Werten und traditioneller Moral ebenso wie von traditionellen Methoden physischen Zwanges, wird hier die Betonung auf ein Hindernis auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft gelegt, nämlich auf die Tatsache, dass die grosse Mehrheit der Ausgebeuteten und Manipulierten die Normen und Werte des Systems verinnerlicht und weitgehend anerkannt hat (z.B. solche Begriffe wie Hierarchie, Teilung der Gesellschaft in Befehlsverteiler und - empfänger, Lohnarbeit und die Gegensätzlichkeit der Geschlechtsrollen). Aus alledem FOLGT, dass wir all die Vorstellungen als unvollständig (und somit als ungeeignet) ablehnen, die das Weiterbestehen des Systems nur der Polizeirepression zuschreiben oder dem "Verrat" verschiedener Politiker oder Gewerkschaftsführer.
Eine Krise der Werte und eine wachsende Infragestellung der Autoritätsverhältnisse sind Entwicklungszüge der gegenwärtigen Gesellschaft. Das Anwachsen dieser Krisen ist eine der Vorbedingungen für die sozialistische Revolution. Sozialismus ist nur möglich, wenn die Mehrheit des Volkes die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels versteht, wenn sie sich ihrer Fähigkeit, die Gesellschaft zu verändern bewusst wird, wenn sie sich dazu entschliesst, ihre kollektive Macht für die Erreichung dieses Ziels zu gebrauchen, und wen sie weiss, wodurch sie das gegenwärtige System ersetzen will. DARAUS FOLGT, dass wir Analysen ( wie die sämtlicher verschiedener Leninisten und Trotzkisten) anlehnen, die die Hauptkrise der modernen Gesellschaft in einer "Führungskrise" sehen. Sie alle sind Generäle auf der Suche nach einer Armee, deren wesentlicher Erfolgsmassstab die Zahl der Angeworbenen ist. Für uns ist revolutionäre Veränderung eine Frage des Bewusstseins: des Bewusstseins, das Generäle überflüssig macht.

3. Wenn wir die "traditionellen linken Parteien" erwähnen, denken wir nicht allein an die sozialdemokratischen und "kommunistischen". Parteien dieses Typs haben ausbeuterische Klassengesellschaften verwaltet und sie werden das weiter tun. Der Begriff "traditionelle linke Partei" umschliesst für uns auch die verschiedenen traditionellen Revolutionäre, also die verschiedenen leninistischen, trotzkistischen und maoistischen Sekten ein, die die staatskapitalistische Ideologie fortschleppen und selbst Keime einer repressiven staatskapitalistischen Macht sind. Diese Gruppen sind lediglich Vorformen eines anderen Typs von Ausbeutung. Ihre Kritik an der sozialdemokratischen, "stalinistischen" oder "revisionistischen" Linken mag giftig genug erscheinen, aber sie betrifft niemals die grundsätzlichen Beziehungen (wie die Entscheidungsstruktur, den Ort der wirklichen Macht, die Vorherrschaft der Partei, die Hierarchie, die Mehrwertmaximierung, die Beibehaltung der Lohnarbeit und die Ungleichheit). Das ist kein Zufall, sondern kommt daher, dass sie selbst diese Grundzüge akzeptieren. Die bürgerliche Ideologie ist weit mehr verbreitet, als viele Revolutionäre glauben und hat ihr Denken zutiefst durchdrungen. In diesem Sinn trifft Marx' Feststellung, dass "die herrschenden Ideen jeder Epoche die der herrschenden Klasse sind", weit mehr zu, als er das je hätte vorausahnen können.
Was die autoritäre Klassengesellschaft (und die libertär-sozialistische Alternative) betrifft, sind die traditionellen Revolutionäre Teil des Problems, nicht seiner Lösung. Diejenigen, die der sozialdemokratischen oder bolschewistischen Ideologie anhängen, sind entweder selbst Opfer einer weitverbreiteten Mystifikation (und man sollte versuchen, sie davon zu befreien), oder sie sind bewusste Exponenten und zukünftige Nutzniesser einer neuen Form von Klassenherrschaft (und sollten rücksichtslos entlarvt werden). Auf jeden Fall FOLGT DARAUS, dass nichts Sektiererisches darin liegt, dass wir systematisch unsere Opposition zu solchen Zielen proklamieren. Dies nicht zu tun, wäre gleichbedeutend mit der Unterdrückung unserer Kritik an der Hälfte der herrschenden Gesellschaftsordnung. Es würde bedeuten, an der allgemeinen Mystifikation der traditionellen Politik teilzunehmen (in der man das eine denkt und das andere sagt) und die eigentliche Basis unserer unabhängigen politischen Existenz zu leugnen.

4. Da die traditionellen Parteien nicht "reformiert", "erobert" oder in Instrumente der Emanzipation der Arbeiterklasse umgewandelt werden können, und da uns das doppelzüngige Reden und Denken nicht liegt, lassen wir uns nicht auf solche Aktivitäten ein, wie "kritische Unterstützung" der Labour-Party zur Wahlzeit, dem Rufen nach "Labour an die Macht" zwischen den Wahlen. Überhaupt nehmen wir nicht an der Verbreitung von Illusionen teil, die dazu dienen, erst später die Leute "die Erfahrung machen zu lassen", diese Illusionen zu durchschauen. Die Labour-Party und die kommunistischen Parteien mögen teilweise den Konservativen darin überlegen sein, den Privatkapitalismus auf den Weg zum Staatskapitalismus zu führen. Die traditionellen Revolutionäre würden sich sicher als beiden überlegen erweisen. Aber wir stehen nicht vor einer Wahl dieser Art: Es ist nicht die Aufgabe von Revolutionären, Hebammen neuer Formen der Ausbeutung zu sein. DARAUS FOLGT, dass wir lieber für das kämpfen, was wir erreichen wollen (selbst, wenn wir es nicht sofort kriegen), als für etwas zu kämpfen, was wir in Wirklichkeit gar nicht haben wollen ... um das dann zu kriegen.
Die Gewerkschaftsbürokratie ist ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklung staatskapitalistischer Gesellschaften. Die Gewerkschaftsführer "verraten" niemanden und "verschaukeln" auch keinen, wenn sie die Arbeitskämpfe manipulieren und versuchen, sie für ihre Zwecke auszunutzen. Sie sind keine Verräter, wenn sie sich bemühen, ihre materiellen Vergütungen zu vermehren und die Häufigkeit der Wahlen zu verringern, bei denen es um ihre Posten geht - sie handeln logisch und im Einklang mit ihren eigenen Interessen, die sich nun einmal von denen der Arbeiter unterscheiden. DARAUS FOLGT, dass wir niemanden dazu drängen, "bessere" Führer zu wählen, die Gewerkschaften zu "demokratisieren" oder neue aufzubauen, die unter den heutigen Umständen genau dasselbe Schicksal erleiden würden, wie die alten. Das sind alles Scheinprobleme, über die sich nur noch diejenigen aufregen können, die noch nicht den wirklichen Kern des Problems begriffen haben. Die dringendste Notwendigkeit besteht darin, sich auf die positive Aufgabe zu konzentrieren, eine Alternative zu schaffen (sowohl im Bewusstsein der Menschen, als auch in der Realität), namentlich autonome Organisationen der Beschäftigten in Verbindung mit anderen in demselben Industriebereich und auch anderswo, die von der Basis kontrolliert werden. Früher oder später werden solche Organisationen entweder in Konflikt mit den bestehenden Apparaten kommen, die ihrem Anspruch nach die Arbeiterklasse repräsentieren (und es wäre im Moment voreilig, die möglichen Formen diese Konflikts bestimmen zu wollen), oder sie werden die alten Organisationen alle miteinander hinter sich lassen.

5. Dieser Absatz setzt unsere Vorstellung vom Sozialismus von den meisten anderen ab, die es heute gibt. Sozialismus ist für uns nicht eine Frage wirtschaftlicher Neuorganisation, auf die andere Errungenschaften "unvermeidlich" folgen werden, ohne dass bewusst darum gekämpft wird. Der Sozialismus ist für uns die totale Vision einer völlig anderen Gesellschaft. Eine solche Vorstellung ist verbunden mit einer totalen Kritik am Kapitalismus., die wir oben schon erwähnt haben. Sozialdemokraten und Bolschewisten denunzieren Gleichheit als "utopisch", "kleinbürgerlich" oder "anarchistisch". Sie weisen die Verteidigung der Freiheit als "abstrakt" und dementsprechend deren Anerkennung als "liberalen Humanismus" zurück. Sie geben zwar zu, dass die radikale Veränderung aller gesellschaftlichen Beziehungen tatsächlich das Ziel ist, aber sie können diese radikalen Veränderungen nicht als wesentlichen und unmittelbaren Bestandteil des sinnvollen Veränderungsprozesses selbst sehen.
Wen wir vom "positiven Bewusstsein des Menschen" und seinem "Verständnis von seiner Umwelt und von sich selbst" sprechen, meinen wir die allmähliche Überwindung aller Mythen und aller arten falschen Bewusstseins (Religion, Nationalismus, patriarchalische Haltungen, Glaube na die Rationalität der Hierarchie usw.). Die Vorbedingung der menschlichen Freiheit ist das Verständnis alldessen, was diese Freiheit einschränkt. Positives Selbstbewusstsein schliesst auch die schrittweise Zerstörung des Zustandes chronischer Schizophrenie mit ein, durch den es den meisten Menschen auf Grund ihrer Erziehung und anderer Mechanismen möglich ist, jeweils miteinander unvereinbare Ideen im Kopf zu haben. Das bedeutet, den Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck einzusehen und zu begreifen. Das heisst, diejenigen blosszustellen, die Konferenzen über "Arbeiterkontrolle" veranstalten ... die dann von Gewerkschaftsbonzen besucht werden, die auf Lebenszeit gewählt sind. Es heisst, geduldig den inneren Widerspruch zu erklären von Begriffen wie "Volkskapitalismus", "parlamentarischer Sozialismus", "christlicher Kommunismus", "Anarcho-Zionismus", "parteigelenkte ‚Arbeiterräte'", und all solchen Quatsch. Es heisst, zu verstehen, dass eine nicht-manipulierte Gesellschaft nicht auf manipulativem Wege und eine klassenlose Gesellschaft nicht mit hierarchischen Strukturen erreicht werden kann. Dieser Versuch, den Durchblick zu kriegen und ihn zu vermitteln, wird schwierig sein und lange dauern. Ohne Zweifel wird jede "voluntaristische" oder "aktivistische" Tendenz dies als "intellektuelles Theoretisieren" ablehnen, weil sie scharf darauf ist, auf Abkürzungen ins gelobte Land zu kommen und mehr mit der Bewegung als mit deren Richtung beschäftigt ist. Weil wir meinen, dass die Leute sehr wohl verstehen können, was sie tun, und dass sie das auch tun sollten, FOLGT, dass wir viele Einstellungen, die in der heutigen Bewegung zum Allgemeinplatz geworden sind, ablehnen. In der Praxis bedeutet das, den Gebrauch revolutionärer Mythen und die Zuflucht zu manipulierten Konfrontationen abzulehnen, die dazu da sein sollen, das Klassenbewusstsein zu heben. Beiden liegt die meist unausgesprochene Annahme zugrunde, dass andere Leute die soziale Realität nicht verstehen und nicht in ihrem eigenen Interesse rational handeln können. Mit unserer Ablehnung revolutionärer Mythen verbunden ist unsere Zurückweisung von vorgefertigten Patentrezepten. Wir wollen keine Götter, auch nicht solche aus dem marxistischen oder anarchistischen Pantheon. Wir leben weder im Petrograd von 1917 noch im Barcelona von 1936. Wir sind wir selbst: das Produkt des Zerfalls traditioneller Politik, in einem fortgeschrittenen industriellen Land, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es sind die Probleme und Konflikte dieser Gesellschaft, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Obwohl wir uns als Teil der "libertären Linken" ansehen, unterscheiden wir uns doch von den meisten Strömungen des "kulturellen" oder "politischen" Undergrounds. Wir haben z.B.: nichts gemein mit solchen kleinen Geschäftemachern, die jetzt an der allgemeinen Verwirrung reich werden, die gleichzeitig für solche Waren werben wie orientalischen Mystizismus, schwarze Magie, Drogenkult, sexuelle Ausbeutung (verkleidet als sexuelle Emanzipation), all dies gewürzt mit viel volkstümlicher Mythologie. Die Verbreitung von Mythen und die Verteidigung "nichtsektiererischer Politik" bewahren sie nicht davor, in der Praxis viele reaktionäre Züge anzunehmen. Sie unterstützen diese vielmehr. Unter der geistlosen Parole "Unterstützung für die kämpfenden Völker!" plädieren diese Richtungen für die Unterstützung verschiedener Nationalismen (die heute alle reaktionär sind); z.B. die beiden Flügel der IRA und alle Nationalen Befreiungsbewegungsfronten.
Andere Strömungen, die sich selbst "libertäre Marxisten" nennen, leiden an den Schuldkomplexen des Mittelstandes, wodurch sie für die "Proletarieritis" anfällig werden. Trotzdem ist ihre Praxis sowohl reformistisch als auch von der Stellvertreterrolle besessen. Wenn sie z.B. (was richtig ist) Kämpfe für begrenzte Ziele unterstützen - Mietkampagnen oder Häuserbesetzungen - machen sie oft gar nicht die revolutionäre Bedeutung solcher kollektiven direkten Aktionen klar. Historisch stand die direkte Aktion oft im Gegensatz zur reformistischen Natur des verfolgten Ziels. Auf der anderen Seite unterstützen solche Richtungen wiederum die IRAs oder die Nationalen Befreiungsfronten und üben keine Kritik am kubanischen, nordvietnamesischen oder chinesischen Regime. Obwohl sie die Partei ablehnen, teilen sie mit dem Leninismus eine gutbürgerliche Vorstellung von Klassenbewusstsein.
Da wir der Meinung sind, dass unsere Politik alle Bereiche umfassen sollte, lehnen wir auch die Einstellung anderer libertärer Strömungen ab, die ihre ganze Energie auf die persönliche Befreiung legen, oder individuelle Lösungen suchen, wo gesellschaftliche Probleme bestehen. Wir distanzieren uns auch von denen, die die Gewalt des Unterdrückers mit der des Unterdrückten gleichsetzen (in Verurteilung von "Gewalt" an sich) und denen, die die Rechte der streikenden an der Streikfront für dieselben halten, wie die Rechte von Streikbrechern beim Streikbruch (In abstrakter Verteidigung der "Freiheit an sich"). Dementsprechend sind Anarcho-Katholizismus und Anarcho-Maoismus in sich selbst widersprüchliche Ansichten, unvereinbar mit revolutionärer Eigenaktivität.
Wir finden, dass es eine Verbindung geben sollte zwischen dem, was wir uns unter Sozialismus vorstellen, und dem, was wir hier und heute tun. DARAUS FOLGT, dass wir sofort damit anfangen, zusammen mit denen, die uns am nächsten stehen, zu versuchen, einige der allgemeiner gehaltenen politischen Mythen zu schlachten. Dies sind nicht beschränkt auf die "Rechte" - mit ihrem Glauben, dass Hierarchie und Ungleichheit die Grundlage menschlicher Verfassung seine. Wir halten es für irrational (und/oder unehrlich), dass gerade diejenigen, die am meisten von "den Massen" reden, (und von der Kraft der Arbeiterklasse, eine neue Gesellschaft aufzubauen), das geringste Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen haben, auf Führer verzichten zu können. Wir halten es für ebenso irrational, dass die radikalsten Propagandisten des "radikalen gesellschaftlichen Wandels" in ihren eigenen Ideen, Programmen und organisatorischen Vorschriften soviele der Werte, Prioritäten und Modelle einschliessen, die sie zu bekämpfen behaupten.

6. Wenn wir sagen, dass die sozialistische Gesellschaft "von unten aufgebaut" werden soll, dann meinen wir das auch ganz genau so. Wir meinen nicht "initiiert von oben und dann von unten gutgeheissen". Noch meinen wir "von oben geplant und später von unten nachgeprüft". Wir sind der Auffassung, dass es keine Trennung zwischen entscheidenden und ausführenden Organen geben sollte. Das ist der Grund dafür, dass wir Arbeiter-"Selbstverwaltung" in der Produktion sagen und die missverständliche Forderung nach Arbeiter-"Kontrolle" vermeiden. (Die theoretischen und historischen Unterschiede zwischen beiden sind in der Einleitung zu unserem Buch "Räte in Russland" ausgeführt). 1) Wir machen den revolutionären Organisationen jede spezifische Vorrangstellung in der nachrevolutionären Periode oder beim Aufbau einer neuen Gesellschaft streitig. Ihre hauptsächliche Aufgabe in dieser Periode wird es sein, den Vorrang der Arbeiterräte (und von auf ihnen beruhenden Organen) als Entscheidungsautorität zu betonen und gegen all diejenigen zu kämpfen, die diese Autorität zu mindern oder zu umgehen suchen - oder sonstwie nach Macht streben. Im Unterschied zu anderen Linken, die das Nachdenken über die neue Gesellschaft als "Vorbeschäftigung mit den Küchen der Zukunft" ablehnen, haben wir unsere Ideen über die mögliche Struktur einer solchen Gesellschaft in vielen Einzelheiten in unserer Broschüre "Workers' Councils" (Arbeiterräte) ausgeführt. 2)

7. Dieser Absatz ist vielleicht der wichtigste und am wenigsten verstandene der ganzen Broschüre. Er ist der Schlüssel dazu, wie wir unsere praktische Arbeit betrachten. Er definiert die Massstäbe, mit denen wir das politische Alltagsleben einschätzen und unsere geistigen und körperlichen Fähigkeiten rational einsetzen können. Der Absatz erklärt, warum wir bestimmte Probleme für wichtig halten, während wir andere als Scheinprobleme betrachten. Im Rahmen unserer Anschauungen erklärt dieser Absatz die Absicht unserer Broschüre. Da wir es in Bezug auf die Meinungen und Fähigkeiten, die wir zu entwickeln bemüht sind, für nebensächlich halten, lassen wir uns nicht durch solchen Kram aus der Ruhe bringen wie Parlaments- oder Gewerkschaftswahlen (Leute zu kriegen, die die eigenen Angelegenheiten für einen erledigen), den Gemeinsamen Markt oder die Währungskurse (das Partei-Ergreifen für eine Seite bei den Zankereien der Herrschenden nützt den Beherrschten nämlich gar nichts) oder den Kampf um Irland oder verschiedene Putsche in Afrika (Kämpfe, die von völlig reaktionären Standpunkten aus geführt werden). Wir können diese Ereignisse zwar nicht ignorieren, ohne einen Teil der Wirklichkeit zu ignorieren, aber wir können vermeiden, ihnen eine Bedeutung für den Sozialismus zukommen zu lassen, die sie nicht besitzen. Wir finden stattdessen, dass die ungarische Revolution von 1956 und die französischen Ereignisse vom Mai 1968 von grosser Bedeutung sind (denn es waren Kämpfe gegen die Bürokratie und Versuche zur Selbstverwaltung sowohl im Osten als auch im Westen).
Aus dieser Haltung heraus wird auch unsere Stellung zu verschiedenen Betriebskämpfen deutlich. Während es sich dabei meistens um eine Herausforderung der Unternehmer handelt, zeigen einige doch stärkere sozialistische Tendenzen, als andere. Warum haben z.B. "spontane" Aktionen gegen die Arbeitsbedingungen, die direkt von der Basis ausgehen, häufig eine grössere Bedeutung, als "offizielle" Kampfmassnahmen um Lohnfragen, die aus der Ferne von Gewerkschaftsbürokratien geführt werden? Wenn es um die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins geht, ist die Frage, wie ein Kampf geführt wird und was er wirklich darstellt, von entscheidender Bedeutung. Sozialismus heisst schliesslich, wer die Entscheidungen trifft. Wir finden, dass das betont werden muss - in der Praxis, sofort. In unserer Einschätzung der Kämpfe halten wir uns daran, dass man die Realität nicht beschönigen kann. Es ist besser, die tatsächlichen Schwierigkeiten ehrlich zu analysieren, als in einer Scheinwelt zu leben, in der man seien Träume für die Wirklichkeit hält. DARAUS FOLGT, dass wir das Triumphgeschrei (was in Wirklichkeit Manipulation ist), das soviele Industrieberichte und "Interventionen" der traditionellen Linken in den Himmel heben soll, zu vermeiden suchen. Ausserdem haben in Punkt 7 die Betonung der Eigenaktivität und die Warnung vor den schlimmen Folgen der Manipulation, des Sich-für-andere-Einsetzens, des Vertrauens auf andere, dass sie schon die Dinge für einen selbst regeln werden, eine grosse Bedeutung und sind für unsere eigene Organisation höchst wichtig.

8. Wir sind keine Pazifisten. Wir geben uns keinen Illusionen darüber hin, wogegen wir kämpfen. In allen Klassengesellschaften lastet institutioneller Druck schwer und dauernd auf den Unterdrückten. Darüberhinaus haben die Herrschenden in solchen Gesellschaften auch immer noch Zuflucht zu direkterer physischer Gewalt genommen, sobald ihre Privilegien wirklich bedroht wurden. Gegen die Unterdrückung durch die herrschende Klasse machen wir das Recht der Menschen auf Selbstverteidigung geltend - egal, welche Mittel dabei angewandt werden.
Die Macht der Herrschenden wird von der Unentschlossenheit und Verwirrung der Beherrschten getragen. Ihre Macht wird nur überwunden werden durch Konfrontation mit unserer Macht: der Macht einer bewussten und auf sich selbst vertrauenden Mehrheit, die weiss, was sie will und entschlossen ist, es zu kriegen. In modernen Industriegesellschaften wird die Macht einer solchen Mehrheit da liegen, wo Tausende tagtäglich zusammenkommen, um ihre Arbeitskraft in der Produktion von Waren und Dienstleistungen zu verkaufen. Sozialismus kann nicht das Resultat eines Putsches sein, der Eroberung eines Palastes oder Sprengung eines Partei- oder Polizeipräsidiums, ausgeführt "im Namen des Volkes" oder "um die Massen anzuheizen". Sind solche Aktionen erfolglos, schaffen sie lediglich ;Märtyrer und Mythen - und verstärkte Repression. Sind sie "erfolgreich", ersetzen sie nur eine herrschende Minderheit durch eine andere; d.h., sie bringen nur eine neue Art Ausbeutergesellschaft hervor. Der Sozialismus kann auch nicht durch Organisationen eingeführt werden, die ihrerseits nach autoritären, hierarchischen, bürokratischen oder halbmilitärischen Gesichtspunkten strukturiert sind. Das Einzige, was derartige Organisationen bisher aufgebaut haben (und weiter festigen, sofern sie "Erfolg" hatten), sind Gesellschaften nach ihrem eigenen Bilde. Die soziale Revolution ist keine Parteisache.
Sie wird die Aktion der grossen Mehrheit sein, die im Interesse der grossen Mehrheit handelt. Die Fehlschläge von Sozialdemokratie und Bolschewismus sind der Fehlschlag eines politischen Konzepts, demzufolge die Unterdrückten ihre Befreiung anderen anvertrauen. Das dringt allmählich in das allgemeine Bewusstsein und bereitet den Boden für eine wirkliche libertäre Revolution.

9. Da wir die Leninsche Vorstellung ablehnen, dass die Arbeiterklasse nur ein trade-unionistisches (oder reformistisches) Bewusstsein entwickeln könne, FOLGT, dass wir das leninistiche Rezept zurückweisen, wonach das sozialistische Bewusstsein von aussen beigebracht oder der Bewegung durch politische Spezialisten eingeflösst werden muss: nämlich durch die professionellen Revolutionäre. Daraus folgt weiter, dass wir auch nicht so tun könnten, als ob wir so dächten.
Das Bewusstsein der Massen ist jedoch nie ein theoretisches Bewusstsein, das individuell aus dem Studium der Bücher abgeleitet ist. In den modernen Industriegesellschaften entspringt sozialistisches Bewusstsein den tatsächlichen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens. Diese Gesellschaftsform bringt die Bedingungen für ein entsprechendes Bewusstsein hervor. Auf der anderen Seite versperrt sie gewöhnlich den Zugang zu diesem Bewusstsein, da es sich eben um die Klassengesellschaft handelt. Hierin liegt sowohl das Dilemma als auch die Herausforderung, mit der Revolutionäre konfrontiert werden.
Es gibt eine Aufgabe für bewusste Revolutionäre. Erstens durch persönlichen Einsatz, im täglichen Leben und am Arbeitsplatz. (Hier liegt die Hauptgefahr in der "Ich-bin-proletarischer-als-du"-Haltung, welche die Leute glauben lässt, dass sie kaum was machen können, wenn sie keine richtigen Arbeiter sind und die sie so tun lässt, als ob sie etwas wären, was sie gar nicht sind, in dem falschen Glauben, dass die einzig wirksamen Kämpfe in der Industrie stattfinden. Zweitens, indem man andere im Kampf dadurch unterstützt, dass man ihnen Hilfe oder Informationen zukommen lässt, die ihnen verweigert wird (dabei liegt die Hauptgefahr in dem Angebot "interessierter Unterstützung", deren Zweck ebenso sehr ist, den Militanten für die "revolutionäre" Organisation zu gewinnen, wie der Sieg in dem Kampf, in den er verwickelt ist.). Und schliesslich, indem man die tiefen Beziehungen (die allerdings oft verborgen sind) aufzeigt und erklärt, die zwischen dem sozialistischen Ziel und dem bestehen, was die Leute durch ihre eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse zu tun getrieben werden. (Das meinen wir, wenn wir gesagt haben, die Revolutionäre sollten dazu beitragen, den "implizit" sozialistischen Inhalt vieler gegenwärtiger Kämpfe "explizit" zu machen.)

10. Dieser Absatz sollte SOLIDARITY vom traditionellen Typ politischer Organisation unterscheiden. Wir sind keine Führung und wollen auch keine werden. Da wir andere weder führen noch manipulieren wollen, können wir Hierarchie oder andere manipulative Mechanismen bei uns nicht gebrauchen. Da wir ideologisch und organisatorisch an die Autonomie der Arbeiterklasse glauben, können wir auch Gruppen innerhalb der SOLIDARITY-Bewegung solche Autonomie nicht streitig machen. Im Gegenteil, wir sollten uns bemühen, sie zu fördern.
Auf der anderen Seite wünschen wir natürlich, andere zu beeinflussen und die SOLIDARITY-Ideen (und nicht irgendwelche) so weit wie möglich zu verbreiten. Das erfordert die koordinierte Aktivität von Personen und Gruppen, die einzeln zur Eigenaktivität fähig sind und die ihr eigenes Mass an Beteiligung und ihre eigenen Arbeitsgebiete finden können. Die Instrumente solcher Zusammenarbeit sollten flexibel und dem jeweilig erforderlichen Zweck der gemeinsamen Arbeit angemessen sein.
Wir lehnen Organisation nicht mit der Begründung ab, dass sie notwendigerweise Bürokratie impliziert. Wenn wir solche Ansichten hätten, dann gäbe es überhaupt keine sozialistische Perspektive. Im Gegenteil, wir glauben, dass Organisationen, deren Arbeitsweise (und was sie beinhaltet) von allen verstanden wird, allein den Rahmen für demokratische Entscheidungen abgeben können. Es gibt keine institutionellen Garantien gegen die Bürokratisierung revolutionärer Gruppen. Die einzige Garantie ist die ständige Wachsamkeit und Selbstmobilisierung der Mitglieder. Wir sind uns jedoch der Gefahr bewusst, dass revolutionäre Gruppen zum Selbstzweck werden können. In der Vergangenheit ist die Loyalität zu Gruppen oft stärker gewesen, als die Loyalität zu Ideen. Unsere vorrangige Verpflichtung ist die zur sozialen Revolution - nicht die gegenüber einer besonderen politischen Gruppe, nicht einmal gegenüber SOLIDARITY. Unsere organisatorische Struktur sollte sicherlich die Notwendigkeit zu gegenseitigem Beistand und gegenseitiger Hilfe widerspiegeln. Aber wir haben keine daüber hinausgehenden Ziele, Bestrebungen und Ambitionen. Deshalb strukturieren wir uns auch nicht so, als ob wir welche hätten.

Diese Übersetzung wird demnächst fortgesetzt. 13.05.2002

1) Maurice Brinton, "The Bolsheviks and Workers' Control 1917 to 1921 - the State and the Counter-revolution", Solidarity London, 1970; in Deutsch: Maurice Brinton, "Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle. Der Staat und die Konterrevolution"

2) "Workers' Councils and the Economics of Self-management", Solidarity London 1972

Diese Übersetzung wird demnächst fortgesetzt. 13.05.2002

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