Kapitel VII. Folgen des 17. Juni 1953

"Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt. Besiegt sind ganz andere, das wird die Geschichte lehren." Karl Marx zu den Juni-Kämpfen in Paris 1848

Zuckerbrot und Peitsche

Nach dem 17. Juni begann die SED eine Politik von "Zuckerbrot und Peitsche". Es gab Preissenkungen, Lohnerhöhungen für die unteren Gehaltsgruppen, die Aufhebung der erfolgten Lohnrückstufungen, die Erhöhung der Mindestrenten und eine Verstärkung der Schutzpolizei um 15.720 Mann, wodurch die Partei im nachhinein indirekt zugab, daß etwas an der Kritik der Demonstrierenden und Streikenden dran gewesen war.

Nach dem 17. Juni gab es dann in einigen Orten bestellte Jubeldemonstrationen, auf denen die Bevölkerung ihre Loyalität zur SED und zum Staat bekunden sollten. An den befohlenen "Arbeiterkundgebungen" nahmen fast nur Angehörige der neuen Ausbeuterklasse teil. Oft wurden die Mitarbeiter der örtlichen Verwaltungen zum Erscheinen verpflichtet. In Groß-Kreutz soll es eine Versammlung gegeben haben, auf der von 15.000 Einwohnern 7 erschienen.

In den Betrieben und Versammlungen hieß es großzügig: "Jeder soll sagen, was er auf dem Herzen hat." Wer allerdings offen Kritik äußerte, wurde oft genug von Seiten der Funktionäre mit der Drohung "Hinaus! Faschist!" abgekanzelt. Einige "Parteisoldaten" verkündeten die Weisheit, es seien am 17. Juni die gleichen am Werk gewesen wie schon 1933, was natürlich für viel Unruhe und Widerspruch in den Belegschaften und Versammlungen sorgte.

Im Neuen Deutschland vom 19. Juni hieß es u.a. "Die Regierung ... unterstützt Privatbetriebe und den privaten Handel, setzt die geflüchteten Großbauern wieder in ihre Höfe ein - und in diesem Augenblick entsenden die faschistischen Agenturen Hunderte und Tausende von Provokateuren, um die Arbeit der Regierung der DDR um jeden Preis zu stören." Weiter hieß es dort: "Natürlich muß uns, der Partei der Arbeiterklasse, die gewichtige Frage zu denken geben, wie konnte es geschehen, daß nennenswerte Teile der Berliner Arbeiterschaft, der Berliner Werktätigen, unzweifelhaft ehrliche und gutwillige Menschen, von einer solchen Mißstimmung erfüllt waren, daß sie nicht bemerkten, wie sie von faschistischen Kräften ausgenutzt wurden." Ganz davon abgesehen, daß die Propaganda der SED voller Widersprüche war, wurde natürlich auch in der Presse kein Wort über die Forderungen und die Aktionen der Arbeiter verloren. Obwohl es offiziell hieß: "Das Politbüro [des ZK der SED] hält die auf administrativem Wege erfolgte zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen in den Betrieben der volkseigenen Industrie für völlig falsch und erachtet es daher für notwendig, daß die Anordnungen einzelner Ministerien über eine obligatorische Erhöhung der Arbeitsnormen rückgängig gemacht werden." (78), wurde später dennoch wieder der Weg der "freiwilligen Selbstverpflichtungen" beschritten. Und überhaupt war nicht nur die Erhöhung der Normen auf "administrativem Wege" erfolgt, sondern ebenso die Festlegung der Pläne und die gesamte Lenkung der Gesellschaft. Erinnert sei auch an "Entschuldigungsschreiben" der Arbeiter oder das Auftreten des Schriftstellers Kuba (79). Das gesamte Auftreten der SED zeigte die Arroganz und die Selbstgefälligkeit der neuen herrschenden Klasse, die ihren "Neuen Kurs" zu Gunsten der Mittelschichten auf Kosten der Arbeiterklasse auch nach dem 17. Juni durchzusetzen und zu rechtfertigen versuchte.

Die Krise der DDR-Gesellschaft fand natürlich auch ihren Widerhall und ihre Entsprechung in den Reihen der Bürokratie. In ihr gewannen nach dem 17. Juni Leute um Rudolf Herrnstadt, den Chefredakteur des ND, an Boden und übten Selbstkritik. Am bekanntesten ist sein Ausspruch: "Wenn die Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht die Arbeiter!" (80)

Nach einer kurzen Phase der Selbstkritik, in der diese vage geübt wurde, fühlte sich die SED wieder fest an der Macht und verfiel in den alten Trott, ihren üblichen Politikstil. Es wurden Schuldige gesucht für die Ereignisse des Juni 1953. Einige Mitstreiter aus der engeren SED-Führung wie Fechner, Herrnstadt und Zaisser wurden aus der Regierung und Partei entfernt (Was die konkreten Vorstellungen Herrnstadts betrifft, so unterschieden sie sich kaum von denen Ulbrichts. Gerade Herrnstadt, dem nun die Position des "Sozialdemokratismus" vorgeworfen wurde wie auch dem Justizminister Fechner und dem Innenminister Zaisser, dem ebenso untentschlossenes und nachgiebiges Handeln zur Last gelegt wurde, hatte diesen Vorwurf politischen Gegnern in der Vergangenheit oft gemacht. Es handelte sich bei den Leuten um Herrnstadt wohl eher um eine andere Fraktion der Bürokratie als um eine Gruppe von Verschwörern. (Der Rolle der Sowjetunion, deren Eingreifen für den Fortbestand des Status Quo der DDR bzw. den Machterhalt der SED entscheidend war, werden wir in diesem Zusammenhang keine Aufmerksamkeit widmen, da wir die Darstellung und Analyse der Arbeiterbewegung des Juni 1953 für interessanter und wichtiger halten.)), und die Umsetzung der Beschlüsse der SED durch untere Ebenen wurde kritisiert. Sie wären mit "administrativen" Mitteln umgesetzt worden; allerdings hatte dies die Führung selbst so angeordnet. Auch der "Neue Kurs" war genauso zustande gekommen wie der alte - auf bürokratischem Wege. Er war weder von einem größeren Gremium ausgearbeitet noch zur Diskussion - unter Parteimitgliedern oder der Bevölkerung - gestellt worden. Und die SED nahm keineswegs Abstand von ihrem Anspruch "Bewußtsein" der Klasse zu sein. Ebenso wurde nun auf die Ereignisse reagiert. Es wurde eine groß angelegte ideologische Offensive gestartet, um der Bevölkerung den "faschistischen" Charakter der Juni-Ereignisse zu erläutern und mit "unrichtigen" Auffassungen aufzuräumen. Erneut gab es Resolutionen, in denen verkündet wurde, daß die "Generallinie" der Partei richtig sei, es gab neue Kampagnen zur "freiwilligen" Selbstverpflichtung und Erklärungen, daß "freiwillig" für die durch Streiks entstandene Produktionsausfälle nachgearbeitet würden. Und dann hieß es auch wieder erwartungsgemäß: "Diese Generallinie der Partei war und bleibt richtig."

Der Widerstand verlagert sich

Doch der Widerstand war nicht zerschlagen, er ging nach dem 17. Juni weiter. Nach der gewaltsamen Niederwerfung des Aufstandes verlagerte sich der Widerstand der Arbeiter von der Straße erneut in die Betriebe und auf die Baustellen, wo er bereits vorher schon entstanden und ein Teil des Alltags war. Während auf der Straße langsam wieder "Ruhe und Ordnung", also eine Art "Friedhofsruhe", herrschte und überbetriebliche Organisationsansätze und Streikkomitees zerschlagen worden waren, kam es in den Betrieben zu Sabotageakten, zu "slow-work"-Aktionen (wie in den Buna-Werken, bei Agfa Wolfen oder Zeiss), zu Arbeitsniederlegungen und Sitzstreiks, durch die entweder die Freilassung verhafteter Kollegen (meist betitelt als "Rädelsführer") oder die generelle Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen erzwungen werden sollten. Es kam sogar vor, daß Arbeiter nicht zur Arbeit oder verordneten Versammlungen erschienen oder diskutierend herumstanden. Hier traten dann die vom Westen stets in den Vordergrund gestellten Forderungen nach "freien Wahlen" und "Wiedervereinigung" deutlich in den Hintergrund und soziale Forderungen, konkrete betriebliche Belange betreffend, und die Solidarität mit verhafteten Kollegen trat in den Vordergrund. Diese Kämpfe waren wesentlich unspektakulärer als die Ereignisse des 17. Juni und ließen sich nicht so sehr vom Westen für seine "Wiedervereinigungs"-Propaganda mißbrauchen. Der Druck von den Belegschaften führte zusammen mit der Angst der Bürokratie vor neuen Protesten mit zu den schon oben angesprochenen Zugeständnissen von Seiten der Bürokratie.

Seit Anfang Juli setzte eine zweite Streikwelle ein, deren Schwerpunkt erneut die mitteldeutsche Industrieregion war. Parallel dazu kam es zu einer Zuspitzung der Situation in den Dörfern. Betroffen waren etwa 70 Orte und ihren Höhepunkt fand diese 2. Streikwelle vom 15. bis 17. Juli im Buna-Werk in Schkopau (5.000 streikende Kollegen). Die Buna-Arbeiter legten die Arbeit u.a. nieder, weil sie von dem 1. Sekretär der dortigen SED-Kreisleitung pauschal als "Provokateure" beschimpft worden waren. Die Stasi wußte diesbezüglich zu berichten: "Immer wieder ist zu bemerken, daß dort, wo reaktionäre Elemente in Versammlungen gegen die Regierung und deren Maßnahmen auftreten, diese einen großen Teil der Belegschaft für ihre Ziele gewinnen." In Zittau z.B. waren die vier wichtigsten Betriebe am 8. Juli 1953 im Streik. Die Hauptforderung der Zeiss-Arbeiter war die Freilassung der Hauptstreikführer vom 17. Juni. Am 9. Juli unterschrieben 1.300 Betriebsangehörige eine diesbezügliche Resolution und zwei Tage später beteiligten sich 2.000 Belegschaftsmitglieder an einem Sitzstreik. Niedergerungen wurde der Widerstand der Arbeiter durch den massiven Einsatz von Sicherheitskräften, die sehr darauf bedacht waren, eine Ausbreitung dieser Bewegung auf andere Betriebe zu verhindern.

Aus Potsdam wurde berichtet, daß "Reaktionäre und feindliche Elemente" verschiedene Versammlungen "durch Erheben von uferlosen Forderungen" störten. Die Arbeiter der Leunawerke drohten erneut mit Streik. In vielen Betrieben und Bereichen, so vor allem in der Schwerindustrie, im Erz- und Kohlenbergbau und im Transportwesen, ging der Widerstand auch weiter: es wurde "passiv" Widerstand geleistet, indem langsam gearbeitet wurde. In staatlichen Maschinen-Traktoren-Stationen kam es zu Sabotageakten. In mehreren Betrieben wie dem VEB Funkwerke Erfurt, dem VEB Abus Nordhausen und dem RFP-Werk Nordhausen zwangen die Belegschaften SED-Funktionäre zum Verlassen der Betriebe, nachdem diese die Arbeiter aufgefordert hatten, "Provokateure" aus ihren Reihen zu benennen. In Jena: "Als am 11. Juli die verhafteten Zeiß-Arbeiter noch immer nicht freigelassen sind, brechen in einigen Werkstätten Sitzstreiks aus. Die Arbeiter sagten: "Dieser Streik wird bis zur Freilassung der Verhafteten fortgesetzt!" Und das ist kein Einzelfall. In Görlitz streikten etwa 10.000 Arbeiter der Lowa und der Kemo- und Feinoptik bis zum 21. Juni. Ende Oktober kam es zu neuen Massenverhaftungen und auf verschiedenen Baustellen der Stalinallee wurden Arbeiter unter der Beschuldigung festgenommen, neue Streiks vorbereitet zu haben. "Bis zum 25. November werden innerhalb zwei Wochen 700 Bewohner der Sowjetzone, zum überwiegenden Teil Arbeiter, als ‚Spione, Agenten oder Diversanten' in die SSD-Keller geworfen." (81) Aufgrund von Gerüchten über neue Proteste und einer "ständigen Zunahme der Überfälle auf leitende Funktionäre" wurden im November 1953 führende SED-Genossen sogar mit Waffen ausgerüstet.

In den innerbetrieblichen Auseinandersetzungen nach den Juni-Ereignissen gab es Forderungen aus den Belegschaften nach einem gewissen "lohnpolitischen Egalitarismus" (82) und einem Abbau der materiellen Privilegierung der Intelligenz. Häufig wurde das System der Leistungsentlohnung und Arbeitsnormen grundsätzlich in Frage gestellt, ein Mehr an Mitsprache, Entbürokratisierung und Demokratisierung der betrieblichen Verhältnisse gefordert. Forderungen nach "Senkung der Gehälter der Bonzen und der Intelligenz" bzw. "Senkung der Gehälter von VP und KVP auf das Niveau eines Durchschnittsverdieners" und Forderungen wie "Raus mit der Partei aus den Betrieben", Forderungen nach Loslösung der Gewerkschaften von der Partei, "Neuwahlen der BGL", "Ablösung des FDGB-Bundesvorstandes", Beseitigung der Politabteilungen in MTS wurden gestellt.

Forderungen nach Gleichheit der Arbeitslöhne wurden als "kleinbürgerliche Gleichmacherei" abgekanzelt (sie waren bereits von Stalin als Ausflüsse eines "Bauernkommmunismus bezeichnet worden), wiesen aber eindeutig mehr in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft als das System der Lohndifferenzierung der Bürokraten. Interessanterweise hatte gerade Lenin in seinen "Aprilthesen" die "Gleichheit des Arbeitslohnes" gefordert und in seiner Schrift "Staat und Revolution" gefordert: "Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein." (Lenin hatte selbst differenzierte Löhne u.a. für Spezialisten gerechtfertigt). Ebenso verhält es sich mit den Forderungen nach jederzeitiger Abwählbarkeit und Rechenschaft der Funktionäre.

Als Folge des 17. Juni hatte sich der Mitgliedsbestand des FDGB drastisch verringert. Allein im Stahlwerk Riesa gaben 180 Arbeiter ihr Mitgliedsbuch zurück. In den Leunawerken waren es 500 Arbeiter. "Den Satzungen gemäß müßte der FDGB Hunderttausende von Mitgliedern wegen Beitragsrückstände ausschließen. Das Beitragsaufkommen sinkt in vielen Betrieben unter 40 Prozent. ‚Brigaden' werden eingesetzt, um die Arbeiter zur ‚gewerkschaftlichen Aktivität' und zu Beitragszahlungen zu ermahnen. Die Aktion hat keinen Erfolg. In zahlreichen Fabriken werden die Beauftragten des FDGB davongejagt. Unter dem unmittelbaren Eindruck des Juniaufstandes haben 46 Betriebsgewerkschaftsleitungen freiwillig ihre Ämter niedergelegt. 134 Betriebsgewerkschaften müssen dem Druck der Arbeiterschaft weichen." (83)

Terror und Repression

"Kein Arbeiter hat Veranlassung, seine Teilnahme an dieser Provokation zu verteidigen ..." W. Ulbricht auf der 15. Tagung des ZK der SED im Juli 1953

Der Welle des proletarischen Aufstandes folgte eine Welle des Terrors und der Repression durch die SED. Tausende verloren ihren Arbeitsplatz, weil sie von Partei- und Gewerkschafts-leitungen als "Provokateure" entlarvt wurden. Tausende flohen aus Angst vor Repressionen in den Westen.

71 % der amtierenden 1. Kreissekretäre und 53,6 % der übrigen Kreisleitungsmitglieder wurden ausgewechselt (84). Von den Betriebsparteileitungen und deren Sekretären sind gut 1/3 nicht wieder "gewählt" worden. Zaisser, Fechner und Herrnstadt waren nur die bekanntesten "Genossen", die dieser Säuberung zum Opfer fielen. "Man schätzt, daß nach dem Juni-Aufstand mindestens 20.000 Funktionäre und etwa 50.000 Mitglieder als ‚Provokateure' entlarvt und teilweise verhaftet wurden. Die Zahl der Austritte hat wahrscheinlich noch erheblich höher gelegen." (85) Rund 1.400 Verurteilungen sind registriert, amtlicherseits wurden keine Zahlen bekanntgegeben und sowohl die Zahlen über die Opfer als auch die Ausschlüsse und Austritte differieren erheblich. Die Unzufriedenheit vieler Genossen gab ein Mitglied der SED-Kreisleitung Schönebeck gut wieder: "Das ZK macht die Fehler, und wir müssen sie ausbaden." Die SED verlor - laut Scholz und Nieke - durch Ausschlüsse und Austritte rund 18.000 Mitglieder. Auch wenn es sonst nicht zu einer Austrittswelle aus der SED kam, kam es selbst dort, wo es um den 17. Juni relativ wenige Streiks gegeben hatte, zu sehr hohen Austrittsraten, wie z.B. im Bezirk Karl-Marx-Stadt.

Die SED zog ihre Lehren aus den Ereignissen des Juni 1953: Die Anzahl der Mitarbeiter der Stasi wurde erhöht. Während es 1952 4.000 das bei nahezu gleichbleibender Bevölkerungsanzahl (diese sank von 1953 bis 1989) auf 20.000 im Jahre 1985. Strafgesetze wurden verschärft, das Streikrecht nominell abgeschafft. Die im 2. Halbjahr 1952 aufgestellten Betriebs-Kampfgruppen bildeten den Vorläufer für die späteren Kampfgruppen, die im Juli gebildet wurden. Die Kampfgruppen wurden in den "volkseigenen" Betrieben, in den Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS), den staatlichen Verwaltungen und Institutionen als eine Art militarisierter Werkschutz eingesetzt. Aufgrund der für die Staatsbürokraten traumatischen Ereignisse des Juni wurde ihr Aufbau forciert betrieben.

Die Gesamtzahl der Toten und Verletzten dürfte zwischen 25 (4 Vopos, 2 unbeteiligte Zivilisten, 19 Demonstranten; Angaben Zaissers) und 3.000 betragen. Nach anderen Berichten sollen über 200 Demonstranten und über 100 Vopos getötet worden sein (86). Von den 16 namentlich bekannten Toten des 17. Juni waren 11 (West-) Berliner, was nicht beweist, daß die Mehrheit der Demonstrierenden Westberliner waren. Außerdem sei bemerkt: Viele Berliner arbeiteten im einen Teil Berlins und lebten im anderen.

Laut Scholz und Nieke geht aus einem Geheimbericht der sowjetischen Hochkommission hervor, daß insgesamt 15 Offiziere und 31 Unteroffiziere und Mannschaften der Volks- und Seepolizei wegen Befehlsverweigerung und Widerstandes gegen die Sowjetarmee zum Tode verurteilt und exekutiert worden sind. Wenigstens 18 Sowjetsoldaten wurden ebenfalls wegen Befehlsverweigerung erschossen.

Im Rahmen der Verurteilungen von wirklich oder angeblich Beteiligten an den Ereignissen des 17. Juni 1953 sind bis Anfang Dezember 1953 allein in Ostberlin 180 Urteile ergangen. "Sicher festgestellt konnte bis Dezember Anfang 1953 werden, daß neben den bereits verzeichneten Standurteilen gegen 427 Angeklagte zwei Todesstrafen, vier lebenslängliche Zuchthausstrafen sowie Zuchthaus- und Gefängnisstrafen von insgesamt 1457 Jahren verhängt worden sind. Etwa vier Fünftel der Verurteilten wurden ins Zuchthaus geschickt." (87) Anfang Juli sollten sich nach Berichten aus dem Justizministerium rund 5.000 Menschen wegen Teilnahme am Juniaufstand in Haft befinden.

"Warum arbeitet ihr Schweine nicht?" - Auf der Jagd nach Provokateuren

Die SED blies zum Gegenangriff und versuchte Arbeiter dazu zu bringen Kollegen als "Provokateure" in den Betrieben zu "entlarven". In Zeitungen erscheinen Artikel mit Überschriften wie "Arbeiter warfen Provokateur aus dem Betrieb". Es sollte der Anschein erweckt werden, daß Arbeiter gegen Provokateure aktiv würden. "Die Provokateure sind festzunehmen" und in den Betrieben zu "entlarven", hieß es von Seiten der Partei. Etwas unlogisch war das ganze schon, sollen doch die "Provokateure" aus Westberlin und dem Westen gekommen sein.

Typisch ist für das Vorgehen der SED-Funktionäre eine Diskussion mit Hermann Matern im Hallenser Reichsbahn-Ausbesserungswerk, wo dieser die Diskussion mit folgenden Worten einleitete: "Es gibt in eurem Werk Leute, die glauben, wir seien knieweich geworden." Allen "Saboteuren" gewidmet sagte er: "Wer aber glaubt, den neuen Kurs durch Verbrechen verhindern zu können, dem schlagen wir aufs Haupt, daß ihm Hören und Sehen vergeht." (88)

Nach der Beruhigung der Lage ging es der SED darum die Verantwortlichen für die Streiks aufzuspüren und es entwickelte sich eine Art Hexenjagd in den Betrieben nach "Provokateuren". Funktionäre der SED wagten sich nun zu Agitationseinsätzen in die lange gemiedenen Betriebe und versuchten die Weisheiten und Wahrheiten der Partei in langatmigen, phrasenüberlasteten Referaten und Reden unter der Arbeiterschaft zu verbreiten. Ebenso wurde der 17. Juni auch auf den Mitgliederversammlungen der SED zum Thema gemacht, so daß alle Genossen der Partei den "reaktionären" Charakter der Ereignisse erfassen und "unrichtige Auffassungen" (so hieß es in einer Erklärung des ZK im ND vom 23. Juni 1953) überwinden konnten. Führende "Genossen" schrieben in der "Geschichte der SED", daß Ulbricht und andere "vor Belegschaften volkseigener Betrieben die Ursachen und Absichten der konterrevolutionären Provokation" darlegten und "ihnen die Politik von Partei und Regierung" erklärten. Wenn dann davon die Rede war, daß der Aufstand von außen angezettelt gewesen war, gab es Protest aus der Arbeiterschaft: "Wir sind Arbeiter und keine Agenten!" hieß es da. "Die Arbeiter wiesen mit Entrüstung die Behauptung der SED zurück, daß die Unruhen im Juni durch Provokateure aus dem Westen angezettelt seien. 'Wir selbst sind es gewesen, weil uns die Not unserer Familien dazu getrieben hat!'" (Bericht über Versammlung in Magdeburger Karl-Marx-Werk am 14. Juli)

Oft wurde eine Art Vorauswahl getroffen, so daß kritische Elemente von Betriebsversammlungen ferngehalten wurden, wenn sie nicht gar selbst fernblieben. So waren auf der Versammlung im Leuna-Werk "Walter Ulbricht" nur 1.400 von 28.000 Belegschaftsmitgliedern anwesend. Die Arbeiter verließen nicht selten aus Protest den Saal, wandten Rednern den Rücken zu oder die Veranstaltungen mußten ausfallen, weil sich kein Zuhörer einfand. So erteilten die Arbeiter der SED eine erneute Abfuhr. Die SED-Zentrale mußte feststellen, daß "eine ganze Reihe von Versammlungen [in diesem Falle Mitgliederversammlungen der SED - d. Autor] wegen mangelhafter Beteiligung" wiederholt werden mußten. Es kam vor, daß Belegschaften Funktionäre aus den Werkshallen heraustrieben und selbst die Volkspolizei davonjagten. Oder es wurde harsche Kritik geäußert und die erhobenen Forderungen offen unterstützt. Andernorts kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der Minister für Erzbergbau und Hüttenwesen, Fritz Selbmann, die Belegschaft angebrüllt haben soll: "Warum arbeitet ihr Schweine nicht?" Dieses Verhalten und diese Sprachwohl sind nicht eines Arbeiters, sondern eines kapitalistischen Antreibers würdig und zeigen, daß Selbmann und "Genossen" in ihre Rolle als neue Herren längst hineingewachsen waren.

In den Versammlungen wurden den Belegschaften Resolutionen unterbreitet, in denen sich die Arbeiter von den angeblichen "Provokateuren" distanzieren und gleichzeitig ihre Loyalität zur Partei und Regierung bekunden sollten. Es hatte sich also nichts geändert und die selbstkritischen Aussagen so mancher Kader hatten ein Ende, da die SED wieder Oberwasser hatte. Die SED schob die Verantwortung wie sonst die Schuld an der wirtschaftlichen Misere auch auf einzelne Individuen in Partei- oder Staatsapparat (vor allem auf die untergeordneten Funktionäre und die betrieblichen Leitungen). Von Ulbricht und Genossen wurde nun die "administrative Einführung" der neuen Arbeitsnormen, welche die Ursache des Arbeiterprotestes gewesen sei, kritisiert. Dabei hatten eben diese Herren diese Art der Einführung angeordnet. "Es soll nicht mehr dekretiert werden, sondern alles muß aus lebendiger Mitarbeit des Volkes zu harmonischer Entfaltung gebracht werden (...)" 25. Juli 1953, Grotewohl bei Eröffnung des ZK-Sitzung - das sagt ein Bürokrat in einer Art neuen Dekret. Nach dem 17. Juni 1953 hatte es in Gewerkschaftsversammlungen, auf denen die Funktionäre die Arbeiter zu "freiwilligen" Erhöhungen der Normen zu überzeugen versuchten, ähnlich geheißen: "Die Initiative zur Erhöhung der Normen muß von den Arbeitern selber ausgehen." (89)

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