VI. 3 ... und aus Sicht des "freien" Westens
Wie gewöhnlich versuchten natürlich die Reaktionäre auch an diesem Feuerchen ihre Suppe zu kochen und diesen Konflikt für sich zu nutzen. Dies war ihnen aber nicht möglich, bevor sie ihn nicht seines Kerns, seiner sozialen Forderungen enthoben hatten. Der Aufstand der Arbeiter ereignete sich, obwohl im Sommer 1953 westdeutsche Historiker einen Aufstand unter einem System wie dem der DDR für unmöglich gehalten hatten.
Die erste Reaktion Adenauers ist in Hinsicht auf die weitere - nahezu selbstverständliche - Vereinnahmung durch bürgerliche Politiker der BRD sehr interessant. Adenauers erste Reaktion auf die Meldungen über die Vorgänge in der DDR war nämlich: "Das ist eine Provokation der Russen." Die Hauptsorge der westlichen Stadtkommandanten und Politiker war sicherlich, daß der Protest auf die Westsektoren von Berlin hätte übergreifen können, zumal es gerade zuvor einen Streik der Westberliner Bauarbeiter gegeben hatte, den sicher einige der Ostberliner auch als Ansporn genommen haben dürften.
Der 17. Juni wurde im Nachhinein in der BRD zum Feiertag erhoben. Mit ihm sollte an die "Brüder" und "Schwestern" hinter dem "Eisernen Vorhang" und an ihren "heldenhaften" Kampf gegen die russischen Besatzer und an ihren Einheitswillen erinnert werden. Die Nazis sehen den 17. Juni ebenfalls als nationale Erhebung gegen die russischen Okkupanten. Auf die sozialen Forderungen gehen sie genauso wenig näher ein wie die anderen bürgerlichen Reaktionäre.
Der gerade im Westen vorherrschenden und jahrzehntelang gepflegten Meinung, der 17. Juni sei ein Votum für den "freien" Westen und für die Verhältnisse in der BRD gewesen (also für eine "Wiedervereinigung" Deutschlands unter kapitalistischen Bedingungen wie 1990), dem widerspricht auch ein ehemaliger Polier der Stalinallee: "Es ist verlogen, daß wir damals solche Verhältnisse haben wollten, wie unter Adenauer drüben im Westen. Uns Arbeitern lag nichts ferner, als die alten Großgrundbesitzer und die Fabrikanten und die Kriegsverbrecher und die Nazis wieder in den Sattel zu heben, wie im Westen. Was man euch seitdem jeden 17. Juni erzählt hat, ist nichts als ein großer Volksbetrug gewesen. Euren "Tag der nationalen Einheit" sehen wir in Wirklichkeit als einen Verrat an der ostdeutschen Arbeiterbewegung an." (69) Ähnliche Ansichten in der Arbeiterschaft schildert auch Fritz Schenk.
In der brutalen Vereinnahmung und einseitigen, herrschaftssichernden Interpretation und Verfälschung der Ziele des Aufstandes gleichen sich Ost und West. Beide Seiten ignorierten die Forderungen der Arbeiter, ihr Verhalten und ihre Aktionen fast vollständig und tauchen höchstens am Rande auf. Das Hauptaugenmerk wird auf das Verhalten einiger Hundert vermeintlicher oder wirklicher "Konterrevolutionäre", auf Forderungen nach Einheit und freien Wahlen gelegt (solche Forderungen spielten vor dem 17. Juni und auch danach kaum eine Rolle in den betrieblichen Auseinandersetzungen) statt auf das Zehntausender demonstrierender und streikender Arbeiter gelegt. Klaus Ewers hat die Bedeutung des 17. Juni richtig erkannt, als er schrieb: "Der 17. Juni 1953 wurde zum Gegenstand der Legendenbildung beider Seiten, die aus ihm machten, was sie zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau der eigenen Positionen brauchten." (70) Die jeweilige Position diente dazu das Handeln der Arbeiterklasse zu delegitimieren und das eigene dagegen zu legitimieren.