VI. 4 Unsere Sicht der Dinge

Der Aufstand der Arbeiter gegen das SED-Regime wurde niedergeschlagen, im Blut ertränkt und unter Schutt und Lügen begraben (ähnlich wie 1921 in Kronstadt - aber nicht nur dies sind eindeutige Parallelen der DDR zur SU Lenins, was für Leninisten als "Lob" klingen mag, aber von uns keineswegs so gemeint ist und aufgrund der geschichtlichen Tatsachen als solches auch gar nicht aufgefaßt werde kann). Der Aufstand drückte die offene Verachtung der Arbeiter gegenüber einer Marionettenregierung aus, die sich auf die russische Waffengewalt stützte und dabei die Dreistigkeit besaß, sich eine "Arbeiter- und Bauernregierung" zu nennen. Die Niederschlagung des Arbeiteraufstandes ließ die Fratze der neuen Klassengesellschaft zum Vorschein kommen, die nun ihre Macht zu verteidigen suchte. Weil die Arbeiterklasse wie jede andere unterdrückte Klasse keine Fürsprecher hat bzw. sich auf eben solche selbsternannten nicht verlassen kann, mußte sie sich selbst Gehör verschaffen und das tat sie in Form von Streiks und Demonstrationen, die ihren Höhepunkt am 17. Juni erreichten.

Mit dem SED-Regime wurde ein Regime und eine Partei angeklagt, die zwar vorgaben sich auf die Arbeiterklasse zu stützen, sich aber nicht auf sie stützten, sondern gegen sie vorgingen, wenn die Klasse selbst Kritik äußerte oder Forderungen formulierte: Eine angebliche "Volkspolizei", die auf Arbeiter schoß, eine Verwaltung, die alles rechtfertigte, was die Partei beschloß; eine Propagandamaschinerie, die sofort lief, wenn erzwungene "freiwillige Produktionsverpflichtungen" bekannt gegeben werden sollten - die aber die Vorgänge in den Fabriken entstellte, die Arbeiter als "Faschisten", "westliche Agenten" und "Provokateure" denunzierte; und die sich stets weigerte die Forderungen der Arbeiter zu publizieren oder sich mit ihnen zu beschäftigen. Eine Betriebsleitung, die den Arbeitern als Feind gegenübertrat; Arbeiterorganisationen, die de facto Erfüllungsgehilfen der Partei waren. Entscheidungen, die auf allen Ebenen ohne, wenn nicht gegen die Arbeiter getroffen wurden.

Die vorhandenen Widersprüche, die Verhinderung jeder Eigeninitiative der Klasse, die sozialen Unterschiede, der Versuch der Verschärfung der vorhandenen Unterschiede (Stichworte: Aktivistenbewegung, erneute Normenerhöhungen, etc.), die Lohnunterschiede zwischen Bürokraten und Arbeitern, die materielle Abgehobenheit (sowie die soziale Stellung der Bürokraten insgesamt, ihre anmaßende Stellung als "Avantgarde" über den Massen), die zu einer dementsprechenden Politik (d.h. Normenerhöhung, Kompromisse mit Kirche und Bürgerlichen, aber Verständnislosigkeit gegenüber den Forderungen der Arbeiter) geführt hatte, waren mit die Auslöser für den Aufstandes 17. Juni 1953.

Die Gesellschaft der DDR wies - wie oben schon betont - mehr Übereinstimmungen mit der Gesellschaft des Westens auf als mit einer wirklich sozialistischen Gesellschaft bzw. einer Gesellschaft, die sich in ihrer Entwicklung in Richtung Sozialismus befindet. In beiden Systemen, Ost und West, gab und gibt es Befehlshaber und Befehlsempfänger, gibt es diejenigen, welche die Macht haben über die Produktionsmittel und die Verteilung des Reichtums zu verfügen und zu sagen, was die anderen zu tun und zu lassen haben. In beiden Systemen gab und gibt es Ausbeutung, Bevormundung, Fremdbestimmung und Unterdrückung und natürlich auch den tagtäglichen und den außergewöhnlichen Widerstand dagegen.

Der isolierte Streik, die isolierte Aktion der Berliner Bauarbeiter hatte sich entwickelt und hatte sich ausgeweitet und so hatte sich der Charakter des Arbeiterprotestes verändert. Diese Bewegung war die erste freie und nicht befohlene Aktion der Arbeiterklasse in diesem Umfang seit 1945. Als die Arbeiter ihre Macht als Klasse gespürt hatten, fingen sie an als Klasse zu handeln. Sicher war der Arbeiteraufstand 1953 in seinen Forderungen und seinem Handeln nicht so klar und bewußt wie die Kronstädter Arbeiter, Matrosen und Soldaten, denn sie hatten eine ganz andere (politische) Vergangenheit, hatten nicht an einer Revolution wie der von 1917 teilgenommen und hatten somit nicht die wichtigen Erfahrungen gewinnen und das Selbstbewußtsein entwickeln können wie der "Stolz und Ruhm der russischen Revolution". Die Arbeiter hatten 1953 die Weimarer Republik, den Faschismus und die Bürokratisierung der Organisationen der alten Arbeiterbewegung, die Zerschlagung der Selbstorganisation nach 1945 (Antifa- und Betriebs-Komitees) sowie die Fremdbestimmung und Besatzung durch die Sowjets hinter sich und zudem die Erfahrung mit einer sich verbal "sozialistisch" gebenden Partei, welche die Arbeiter nun nicht nur mit Füßen trat, sondern zusammenschießen ließ. Es war ein Streben nach Einheit der Klasse. Die soziale Basis der Revolution war allerdings größer als je zuvor, die Arbeiterklasse umfaßte nicht nur 2 Millionen (war auch keine Minderheit mehr), sondern - im Gegensatz zu den russischen Verhältnissen 1917 und danach - den größten Teil der Bevölkerung.

Der 17. Juni stellt ein Stück spontaner Arbeiterbewegung, ein Stück eigener Interessenvertretung, jenseits von bürgerlicher Stellvertreterpolitik, die auch von der SED betrieben wurde, dar. Die Arbeiter hatten es abgelehnt ihre Resolutionen durch die Funktionäre als Mittelsmänner an die Regierung zu übergeben, sondern wollten diese direkt überbringen. Sie formierten sich zu Demonstrationszügen, nahmen Kontakt zu anderen Betrieben auf und planten weitere Aktionen wie den Generalstreik. "Sie hatten ihre Kraft gefühlt, sie hatten erfahren, daß sie Macht sind und Macht üben können." (71)

Während die Arbeiter sich ihre eigenen Organe schufen und ihre eigene Führung gaben, verloren die offiziellen Regierungsorgane ihre Funktionen. Diese Organe waren nicht geschaffen worden, um die Ordnung zu stürzen, kamen aber verständlicherweise in Konflikt mit ihr und bedrohten sie erheblich. Während die Arbeiterklasse ihre Macht noch nicht gesichert hatte, war es klar, daß die Regierung diese nicht länger besaß. Die SED wäre wohl ohne russische Hilfe nicht in der Lage gewesen sich die Macht wieder anzueignen und erst der Einsatz der russischen Truppen beendete die Machtlosigkeit mancher staatlicher Institution.

Daß ein Teil der Arbeiter genauere Zielvorstellungen hatte, macht die Aussage des Poliers Alfred aus der Stalinallee deutlich. Haasis zitiert ihn in seiner kleinen Broschüre folgendermaßen: "Wir wollten schon einen Sozialismus, aber wir selbst wollten den gestalten. Wir wollten unsere Leute selbst wählen. Wir wollten unabhängige Funktionäre in der Gewerkschaft. Wir wollten die Bonzen stürzen, eine wirkliche Demokratie von unten aufbauen: vom Betrieb aus bis nach oben. Wir hatten die Unterdrückung abweichender Meinungen satt." (72) und "Wären nicht die russischen Panzer gekommen, uns wären bestimmt noch ganz andere nützliche Ideen eingefallen." (72)

Die Partei war wie paralysiert, weil passierte, was rein theoretisch nicht vorgesehen und ideologisch gesehen nicht sein durfte: Die Arbeiterklasse erhob sich, sprach sich gegen die SED aus und handelte ohne ersichtliche Zentrale oder Führer.

Die Forderung nach Abschaffung der Normen, welche auch im Juni 1953 von Seiten der Arbeiter gestellt wurde, ist die radikale Ablehnung der Grundlagen und Struktur der Fabrik und des gesamten Arbeitsprozesses und gleichzeitig der Grundlagen der "sozialistischen" Planwirtschaft. "Es gehöre zum ‚Wesen des Sozialismus' (...), daß (bei uns) die Normen überhaupt abgeschafft werden müßten" - Forderung, die ähnlich 1956 von den ungarischen Arbeitern aufgestellt wird. (73)

Es ist allerdings falsch alles auf den 17. Juni zu reduzieren. 1. Fing die gesamte Bewegung viel früher an, war der 17. Juni nur eine Art Kristallisationspunkt und 2. erreichte die Bewegung in vielen Orten der Provinz erst nach dem 17. Juni die Betriebe (in einigen Orten dagegen bereits vor dem 17. Juni: so in Berlin, Meuselwitz oder Riesa).

Die Selbstaktion der Massen stellte die Macht und den Herrschaftsanspruch der SED in Frage und hat den Machthabern in Pankow ihre letzte Legitimation genommen. Für die SED-Funktionäre bedeutete der 17. Juni den vollkommenen Bankrott, den Verlust ihrer Autorität und ihrer selbst erteilten Legitimation. Die selbst ernannte "Avantgarde der Arbeiterklasse" war von eben dieser Klasse zur Seite gedrängt worden, deren Interessen sie im Wege stand. Gerade aus diesem Grunde mußte die SED andere Wege finden, die Ereignisse (Ursache und Wirkung) zu erklären. Aufgrund ihrer materiellen Abgehobenheit und der daraus resultierenden Ideologie, welche die Arbeiterklasse in bürgerlicher Manier zu einer Art Manövriermasse reduzierte, zu einer Art Erfüllungsgehilfen degradierte, war es der SED absolut nicht möglich zu verstehen, daß die Arbeiterklasse zu eigenem Handeln und Denken fähig war (ähnlich sind die Erklärungsmuster zu Kronstadt 1921, Ungarn 1956, etc.). So entwarf die SED eine neue Verschwörungstheorie, in der "Agenten" und "Provokateure" die Stränge des Geschehens in Händen hielten und die Menschen und Arbeiter als Marionetten benutzten, die ihre Benutzung noch nicht einmal merkten. Diese Verschwörungstheorie von den von außen eingedrungenen "Agenten" und den "Provokateuren" sollte zum einen die Legitimation der SED als "Avantgarde der Arbeiterklasse" aufrechterhalten, zum anderen natürlich Handlungsbedarf erzeugen und das bisherige Handeln nachträglich rechtfertigen (nicht auszudenken: eine Arbeiterregierung läßt auf Arbeiter schießen), überging, daß die Unruhen und die erregten Arbeiter nicht ohne Grund gegen das System aufgestanden waren und verklärte natürlich insgesamt den wirklichen Charakter der Ereignisse des Juni 1953.

Der Juni 1953 war eine Niederlage des Regimes, genauso wie für die Arbeiterklasse. Das Regime hatte die Russen zur Hilfe holen müssen, die Arbeiterklasse hatte dieser Repression nichts (keine Verteidigung und weiterführenden Perspektiven) entgegensetzen können. Außerdem verdammte die bloße Beschränkung der Bewegung der Arbeiter auf Ostdeutschland, die fehlende Solidarität und das fehlende Entfachen ähnlicher Arbeiterkämpfe sowohl in Westdeutschland als auch im Ostblock die Bewegung der ostdeutschen Arbeiterschaft zum Scheitern.

Die SED mußte den Widerstand der Arbeiterklasse verleumden, weil sie sich sonst nicht auf den proletarischen Charakter der DDR hätte beziehen können. Dabei betrat sie nie das Terrain der inhaltlichen Auseinandersetzung, sondern blieb stets im Reich der Verleumdungen und abenteuerlichen Beschuldigungen. Die eigenständigen Aktionen der Bau- und anderer Arbeiter stellten das System und den Führungsanspruch der "Partei der Arbeiterklasse" in Frage, sprachen ihm jegliche Legitimation ab. Denn wo war diese Partei? Sie war überall, nur nicht auf Seiten der Arbeiterklasse.

Als rote Fahnen verbrannt, Propagandakioske und -bänder entfernt und Parteiliteratur entsorgt wurde, wurde dies von der SED als Beweis für den "konterrevolutionären" Charakter angeführt. Für einige mag dies Indiz für wild wütenden Antikommunismus sein. Wer sich allerdings eingehender mit der damaligen Situation der Arbeiterklasse auseinandersetzt, der weiß, daß Inhalte stets wichtiger sind als äußere Formen. Für die Arbeiterklasse waren die roten Fahnen und Sterne Symbole der herrschenden Klasse und die Herrschaft dieser gleichbedeutend mit täglich erlebter wirtschaftlicher Ausbeutung, politischer Bevormundung und Unterdrückung, mit schallender Lüge, Heuchelei und Betrug. SED, FDJ, etc. - das waren die neuen Institutionen der neuen herrschenden Klasse.

Doch die Bewegung des Juni 1953 war nicht nur ein Aufstand gegen die Herrschaft einer selbstherrlichen Bürokratenklasse und ihre Politik, sondern lieferte auch den Beweis dafür, daß die Arbeiterklasse keine Partei braucht, um zu handeln und ihr Leben zu regeln. Die Bewegung des Juni 1953 zeigte auch daß die Arbeiterklasse zwar klar wußte wogegen sie kämpfte und war, aber ihr im großen und ganzen die Möglichkeit und Zeit fehlte, ihre Illusionen (z.B. in Bezug auf den Parlamentarismus) abzuwerfen und eine eigene soziale Organisation und Struktur vollständig zu entwickeln. Die im Keim befindlichen Ansätze von Selbstorganisation und Räten wurden von der russischen Besatzungsmacht zerschlagen, die Komitees aufgelöst, die Wortführer als "Rädelsführer" verhaftet und verfolgt und die Betriebe besetzt.

Die Arbeiterklasse hatte auch nach dem 17. Juni ihre Stärke gezeigt, denn selbst die Welle der Repression und die bewaffneten Sowjetsoldaten konnten viele Belegschaften nicht dazu veranlassen die Arbeit "ordnungsgemäß" wieder aufzunehmen. Viele nahmen politische Verfolgung oder gar den Verlust des Arbeitsplatzes in Kauf und gingen über das Maß hinaus, was sie unter "normalen" Umständen bereit gewesen wären für Veränderungen einzusetzen.

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Alles, was die Arbeiter von den Bürokraten zu hören bekamen, waren Verleumdungen, Lügen und Heuchelei in der üblichen und altbekannten Art und Weise, aber es wurden - außer einigen Präzedenzfällen wie dem der Erna Dorn - keine Fakten, Namen oder Originalzitate, welche die "faschistische Hetze" entlarven hätten können, genannt. Es wurde auch nicht darauf eingegangen, was an den Forderungen der Arbeiter "unerhört", "unverschämt" oder gar an der Forderung nach Preis- oder Normsenkungen "faschistisch" gewesen war. Allen Lügen zum Trotz war der Juni 1953 ein Stück Klassenkampf. Im Juni 1953 wie zuvor schon 1921 in Kronstadt und später in Ungarn und Polen erwachte die Arbeiterklasse aus ihrer Resignation und Passivität und lehnte den Herrschaftsanspruch der selbst ernannten "Partei der Arbeiterklasse" ab.

Die Hilflosigkeit der SED zeigte sich in ihrer Reaktion auf die Forderungen aus der Arbeiterklasse. Sie verfolgte nach dem 17. Juni eine Politik von "Zuckerbrot und Peitsche", sie ging nicht auf die Forderungen der Arbeiter ein, schlug die Bewegung nieder, machte Zugeständnisse, übte Repression, forderte die Denunziation der Arbeiter und ihrer Ziele, verwies zur Rechtfertigung ihrer Politik auf die Vergangenheit ihrer Führer (Herkunft aus der Arbeiterklasse und dem Widerstand), etc. Durch diesen Schlenkerkurs zeigte sie, daß sie um jeden Preis darauf aus war ihre Macht und Privilegien zu erhalten. (Es wird sehr klar, wie sehr ihr Verhältnis zur Macht ihre reale Politik bestimmte. Ob 1946 in Frankreich oder 1953 in der DDR wähnten sich die Partei"kommunisten" an der Macht und regierten dementsprechend. "Der Streik ist die Waffe der Konzerne und der Feinde der Arbeiterklasse" Postangestellte, die es 1946 wagten trotz der Weisungen der französischen KP zu streiken, mußten sich von ihrer eigenen Gewerkschaft als "Faschisten" beschimpfen lassen. (74)) Sie hatte keine reale Basis - im Gegensatz und Widerspruch zu dem, was sie stets vorgegeben hatte Für einige Tage hatte die SED ihren Einfluß auf die Geschicke im Land weitgehend eingebüßt und die Unterstützung für sie war denkbar gering.

Der zur Ideologie erstarrte Marxismus in seiner - die Herrschaft der neuen herrschenden Klasse legitimierenden - Form des Marxismus-Leninismus war gänzlich unfruchtbar für das Begreifen der wirklichen Ereignisse. Dieser M-L war zu einer Art Ersatzreligion verkommen, an der zu zweifeln einer Gotteslästerung sehr nahe kam, verhinderte es die wirklichen Bewegungen der gesellschaftlichen Kräfte zu sehen. So wurde versucht die Realität in die erstarrten marxistischen Kategorien hineinzuzwängen.

Die Anzahl der Lügen und Legenden ist groß, doch das macht sie nicht wahrer. Und der Großteil der Vorwürfe der Bürokraten der SED und ihrer Jünger entbehren jeglicher Fakten und Argumente und jeglicher Analyse. Die Lügen und Legenden der SED und anderer Leninisten sollen eine wirkliche Gesellschaftsanalyse verhindern, welche klar die Klassen-Natur des DDR-Regimes offenbaren würde.

Die Bürokraten konnten soviel Phrasen gebrauchen wie sie wollten. Ihre Reden und Erklärungen konnten nicht über ihre Taten und den Charakter ihres Handelns und somit auch nicht über den wirklichen Charakter ihres "Arbeiter"-Staates und ihrer "Arbeiter"-Partei hinwegtäuschen. Und ihre Reden konnten schon gar nicht ihre Hände rein waschen vom Arbeiterblut und ihre Lippen freisprechen von der Heuchelei, die sie nicht nur in Bezug auf den 17. Juni an den Tag gelegt hatten.

Es ist die alte Methode der Leninisten jegliches Versagen der eigenen Theorie und der eigenen Praxis Bürokraten in den eigenen Reihen oder irgendwelchen "Saboteuren" und "Agenten" zuzuweisen. Die Liste solcher Verleumdungen ist lang und hat meist auch die ehemaligen "Genossen" und Weggefährten getroffen. Kronstadt und die gesamte Verfolgung von Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten, linken Kommunisten, die Moskauer Prozesse oder der Pariser Mai 1968 sind nur einige Beispiele dafür. Stets werden Feinde der Arbeiterklasse oder des Sowjetsystems "entlarvt". Und wenn es dabei solche "Genossen" wie Trotzki trifft, die erheblich zum Aufbau der Sowjetunion und der Verfolgung anderer "Agenten" und "Abweichler" beigetragen, ist dies nichts anderes als eine tragisch-komische Ironie der Geschichte.

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Das Handeln der ostdeutschen Arbeiterklasse widerlegt die Ansicht, daß revolutionäre Praxis ohne eine revolutionäre Theorie nicht möglich sei (so z.B. auch von Lenin in "Was tun?" geäußert). Ihr Handeln zeigte, daß die Existenz einer "Avantgarde" nicht notwendige Bedingung für die revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse ist. 1953 waren es die Ereignisse, der Prozeß des Klassenkampfes, welcher das Bewußtsein geboren hat und die Arbeiterklasse in ihrem Handeln vorwärts getrieben hat. In den Tagen und Wochen vor und nach dem 17. Juni 1953 waren keine bekannten Dissidenten und keine "schlauen Köpfe" auf die Straße gegangen. Es waren normale Arbeiter, die zwar keine (genauen) Pläne über die Möglichkeiten und Ziele der Bewegung hatten, aber dennoch genau wußten, warum sie in den Betrieben die Arbeit niederlegten oder auf die Straße gingen. Sie wußten nur, daß es nicht so weitergehen konnte wie bisher. Daß sie dabei teilweise ihre Existenz auf' s Spiel setzten, mag den meisten zu Anfang gar nicht bewußt gewesen sein. Auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Kritik verwirklichten sie eine Einheit an der Basis, übten praktische Solidarität und benötigten keinerlei fremde Organisation, Führung oder Apparat, um zu handeln und ihre Forderungen zu artikulieren und zu entwickeln. Die an den Kämpfen beteiligten Arbeiter erhofften sich von einem erfolgreichen Aufstand mehr zu erhalten als sie einsetzten. Die geschichtliche Erfahrung von 1953 - wie so oft zuvor - hat bewiesen, daß es nicht wirklich wichtig ist, was die Arbeiter über sich und ihre Aktionen denken, sondern wichtig ist welche Bedeutung diese Aktionen erlangen, wie die Klasse kämpft und wie sich dieser Kampf und die Rolle der Arbeiterklasse in diesem Kampf entwickelt. "Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sinn gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." (75)

Und der Aufstand von 1953 hat erneut die mechanische Vorstellung der Parteitheoretiker und vieler anderer widerlegt, die meinen Revolutionen würden von überzeugten Revolutionären gemacht und solch ein Aufstand bedürfe der vorherigen Planung und einer zentralistischen Organisation wie 1917 der Bolschewiki in Rußland. Eine solche Auffassung zeugt aber nur von geringer Kenntnis der Geschichte der Klassenkämpfe und geringer Wertschätzung der Arbeiterklasse - der kämpfenden Klasse an sich.

Es ist die mechanische Auffassung von Geschichte, die davon ausgeht, man könne Revolutionen planen. Dabei ist es gerade das Unberechenbare und Spontane, was die Revolutionen und ihre Stärke selbst ausmacht. Revolutionen werden nicht von "bewußten" Revolutionären gemacht, sondern von einer Masse, die während ihrer Aktion lernt, Selbstbewußtsein erlangt und sich eigene Ziele und Forderungen formuliert, Organe bildet und die Veränderungen erkämpft. Es sind die Menschen, die aufgrund ihrer Erfahrungen die Revolution machen, nicht eine Handvoll "Revolutionäre", welche die Revolution in irgendeinem Hinterzimmer ausgeheckt haben. Denn es ist der Kampf der Arbeiterklasse, der die kapitalistische Gesellschaft beseitigen wird und nicht die Idee des einen oder anderen vermeintlich schlauen Kopfes oder selbsternannten Revolutionärs.

Nicht ohne Grund baut auf diesem theoretischen Fundament der elitäre Anspruch der Bolschewiki auf, die Partei müsse die Arbeiterklasse zum Klassenkampf "erziehen" und zur Revolution führen und nach erfolgreicher Revolution weiter "erziehen". Nach Lenin ist die Arbeiterklasse (ohne "Erziehung durch die Partei") niemals fähig in hinreichendem Maße ein politisches Bewußtsein zu entwickeln, sondern nur ein "trade-unionistisches". Insofern mußten die Bolschewiki die Macht nach 1917 an sich reißen und die logische Konsequenz war die Kollision von Teilen der Arbeiterklasse mit der Partei und ihrer Bürokratie, die sich als neue Herren Rußlands aufspielten. Auswüchse dieser Kollision - dieses Klassenkampfes - waren u.a. der Aufstand von Kronstadt 1921, die Streiks von Petrograd, die Niederwerfung der Machno-Bewegung, etc. Aber wer gibt uns die Gewißheit, daß die Partei weiß, was "richtig" ist oder gar wirklich weiß, was die Klasse will? Wer gibt uns die Gewißheit, daß die Partei nicht aufgrund ihrer sozialen Stellung - als finanziell bessergestellte und zum Herrschen auserkorene Bürokratie - den "richtigen" Weg verläßt und nicht viel eher in die Rolle einer neuen herrschenden Klasse hineinwächst? Wer gibt uns die Gewißheit, daß die bzw. irgendeine Partei uneigennützig handelt, da sie auch nur aus Menschen besteht, die ein besseres Leben - und zwar zuerst für sich selbst - erstreben?

Auch 1953 stellte ein Teil der ostdeutschen Arbeiterklasse unter Beweis, so illusionsbeladen er auch gewesen sein mag, daß sie handeln kann, ohne eine fremde Organisation, die ihr sagt, wie sie handeln soll. Die Arbeiter waren aufgrund ihrer täglichen Erfahrung zu einem Punkt gekommen, an dem sie nicht mehr anders konnten und wollten. Was als Protest gegen die Normerhöhungen und einige Bürokraten als Personen begonnen hatte, verwandelte sich bei vielen in die Ablehnung des gesamten Systems der Bürokratie, der durch sie bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Ideologie.

Keine fremde Organisation hatte diesen Aufstand gemacht, sondern es war die Arbeiterklasse, die sich im Kampf ihre eigene Organisation und Führung gab. Die Arbeiterklasse löste das Problem der Zentralisation und Interessenvertretung auf ihre eigene Weise: wie zuvor in der Geschichte bildeten sich an den Arbeitsplätzen Komitees. Damit erhob sich die Klasse nicht allein gegen das von der SED in den Vordergrund gestellte - und als Ursache für den Unmut von Teilen der Klasse dargestellte - Problem der Normen, sondern die Klasse stellte die Organisation der Gesellschaft der DDR insgesamt in Frage und setzte ihr mit den Komitees Ansätze einer neuen sozialen Organisation entgegen. Damit stehen die Komitees von Bitterfeld und anderswo in einer Tradition mit der Pariser Kommune, den Sowjets von 1905 und 1917, den Fabrikkomitees in Rußland 1917 - 1918, den Fabrikräten in Deutschland 1919 - 1920 oder den Arbeiterräten 1956 in Ungarn, wo übrigens die Abschaffung der Normen auch eine der Hauptforderungen war.

Die Klasse wandte sich damit gegen das System der Stellvertreterpolitik. Die allmächtige Partei enteignete und entmündigte die Parteimitglieder und Arbeiter ebenso wie die Parlamente der bürgerlichen "Demokratien" des Westens ihre Wähler und sie war genauso "demokratisch" wie die Parlamente. In beiden Fällen wurde und wird den Menschen die Illusion gegeben, sie hätten Einfluß auf ihr Leben und die es betreffenden Entscheidungen. Allerdings werden sie von jeglicher Kontrolle und Einflußnahme "befreit" und es wird eine auf Trennung basierende Hierarchie geschaffen: eine Trennung in Leitende und Ausführende, gewählte Funktionäre und Wähler, etc.

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Wer wie ein Teil der Trotzkisten und der anderen kritischen Leninisten und Maoisten meint, daß die Politik der SED zu "bürokratisch" war (dies kritisierte ein Teil der Bürokratie nach dem 17. Juni übrigens auch), aber trotzdem das Primat der Partei nicht ablehnt, äußert nur halbherzige Kritik und fordert das schier Unmögliche: eine ideale und unbürokratische Bürokratie.

Wer das Vorgehen der SED und ihre Reaktion auf den Aufstand als "bürokratisch" abkanzelt, der vergißt, daß die SED eine Partei war und jede Partei schafft sich ihre Hierarchie und Bürokratie, die sie ausmacht und sie am Leben hält. In der ihr eigenen Weise pflegte die Bürokratie die bestehenden Probleme zu betrachten und sie pflegte diese ebenso bürokratisch anzugehen und zu "lösen". Sie bekämpfte sie mit bürokratischen Mitteln, denn dies waren die einzigen Mittel, die ihr zur Verfügung standen und ihrer "Ideologie" nach als zulässig erschienen. Etwas anderes von der SED zu verlangen oder zu erwarten, heißt eine antibürokratische Bürokratie zu fordern und damit ein Ding der Unmöglichkeit. Und welcher Apparat stellt sich freiwillig in Frage?

Das mechanische Vorgehen der Leninisten erklärt sich auch folgendermaßen aus ihrer Klassenlage: Sie standen außerhalb des Produktionbereiches und des Arbeitslebens und konnten die Sorgen der "normalen" Klasse nicht kennen, da es nicht die ihren waren. Die Partei ging alles in den Kategorien der Bürokratie an. Sie kategorisierte alles, fand für alles ihre "bürokratischen" Lösungen, etc. und hatte ihre eigenen Sorgen und Aufgaben, die sich aus ihrer Existenz ergaben.
Die Bürokratie allerdings mußte so handeln, um die Basis ihrer eigenen Existenz nicht in Frage zu stellen. Und es war in der Tat nach der Machtlosigkeit des 17. Juni 1953 eine Zementierung der Macht und der Stellung Ulbrichts zu verzeichnen. Und so war die Bürokratie auch in der Zukunft gezwungen das Staatseigentum als Quelle ihrer Macht und ihres Einkommens zu verteidigen. Das Verhalten der SED beweist auch, daß diese angebliche "Partei der Arbeiterklasse" kein wirkliches Vertrauen in die Arbeiterklasse hatte wie jede andere herrschende Klasse in die unterdrückte Klasse auch kein Vertrauen haben kann und darf, um Strafe ihres Unterganges.

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