Kapitel IV. Vorgeschichte des Juni 1953

Ab 1947 beschnitten die SED und die Behörden die Befugnisse der Betriebsräte (diese besaßen in der Arbeiterschaft eine große Autorität), die sie vergeblich versucht hatten, für sich zu gewinnen, und ersetzten sie nach und nach durch die Gewerkschaften (in Form der Betriebs-gewerkschaftsleitungen) und lösten sie im November 1948 auf. Die 2. Parteikonferenz der SED (9. - 12. Juli 1952) verkündete den "Aufbau des Sozialismus" in der DDR. Die jährlichen Tarifabkommen fixierten die Produktionsnormen einschließlich der "Pflichten" der Arbeiter. Als "Rechte" erlaubt waren, Toiletten, Eßräume, Kinderkrippen und Clubs einzurichten. Be-schlossen wurden u.a. die Beschleunigung der schwerindustriellen Entwicklung, die Kollekti-vierung der Landwirtschaft und der Aufbau der Nationalen Volksarmee (NVA). Als Engpässe in der Lebensmittelversorgung, Mangel an Textilien usw. auftraten und die Regierung das zugeben mußte (ND am 31. Januar 1953, Grotewohl am 17. Juni 1953), reagierte sie zunächst mit Angriffen auf den Handel und die noch vorhandenen Privatbetriebe. Gleichzeitig begann eine schwere Finanzkrise, da die beschleunigte Aufrüstung riesige Summen verschlang (38), die für die Industrialisierung vorgesehen wurde. Deshalb wurden extreme Maßnahmen be-schlossen, die den Lebensstandard vor allem der Arbeiterklasse senkten: u.a. Aufhebung der Lebensmittelkarten von 2 Millionen Menschen, radikale Erhöhung der Preise für elementare Versorgung, Senkung der Leistungen in der Sozialversicherung (Fonds), Streichung der staat-lich gewährten Ermäßigung für die Eisenbahnfahrten zum Arbeitsplatz von 75% - alles zugun-sten der Reindustrialisierung und des Aufbaus der NVA.

Der "Neue Kurs" und die Arbeiter
Das Kleinbürgertum antwortete auf die Wirtschafts- und Finanzkrise mit Flucht in den Westen. Von den Flüchtlingen gehörten 80% der alten Mittelklasse an, waren also Bauern, Handwerker und Ladenbesitzer. 1952 verließen ca. 50.000 Menschen die DDR; im ersten Quartal des Jahres 1953 waren es bereits 150.000 (mit Höchstwerten im Mai und Juni 1953). Dieser Exodus verschärfte noch die wirtschaftliche Krise. Am 9. Juni 1953 proklamierte das Zentralkomitee der SED den "Neuen Kurs" und setzte ihn schnell in die Praxis um. Der alten Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum wurden bedeutende Zugeständnisse gemacht. Für den Handel und die Privatindustrie wurde ein praktisch kostenloses Kreditwesen eingerichtet. In einer TASS-Meldung vom 11. Juni hieß es zur Einführung des "Neuen Kurses": "Die Interessen solcher Bevölkerungsteile wie der Einzelbauern, der Einzelhändler, der Handwerker, der Intelligenz wurden vernachlässigt ... Eine Folge war, daß zahlreiche Personen die Republik verlassen haben." An anderer Stelle hieß es: "Die Bauern, die im Zusammenhang mit Schwierigkeiten in der Weiterführung ihrer Wirtschaft ihre Höfe verlassen haben und nach Westberlin oder West-deutschland geflüchtet sind (Kleinbauern, Mittelbauern und Großbauern), können auf ihre Bauernhöfe zurückkehren. Wenn das in Ausnahmefällen nicht möglich ist, so erhalten sie vollständigen Ersatz. Den zurückkehrenden Bauern soll mit Krediten und landwirtschaftlichem Inventar geholfen werden, ihre Wirtschaften weiterzuführen." Über die Forderungen, Interes-sen und Probleme der Arbeiterklasse wurde kein Wort verloren und so staute sich Wut an unter den Arbeitern. Außerdem versprach man die vor einem Jahr enteigneten Unternehmen der Leichtindustrie wieder in Privatbesitz zurückzuführen. Im Juni wurden die ersten Fabriken in Frankfurt an der Oder ihren ehemaligen Besitzern zurückgegeben. Den Arbeiter hingegen wurden keine Zugeständnisse gemacht. Im Gegenteil: während die Lebensbedingungen der anderen Gesellschaftsschichten sowie der Parteibonzen verbessert wurden, verschlechterte man jene der Arbeiter.

Der "neue Kurs" und der Tod Stalins hatten Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und Verän-derungen anwachsen lassen. Die Versorgungslage jedoch verschlechterte sich ständig, die Zahl der Flüchtlinge stieg an und die Erhöhung der Arbeitsnormen (d.h. im Endeffekt eine Lohn-senkung) wurde am 28. Mai 1953 vom Ministerrat der DDR zu Ehren von Ulbrichts 60. Ge-burtstag am 30. Juni beschlossen. Eine Normenerhöhung von 10 Prozent bedeutete im Bauge-werbe Lohneinbußen von 30 Prozent für Maurer oder bis zu 42 Prozent für Zimmerleute, denn in der Regel wurden Mehrleistungen mit Prämien vergütet. So sollte eine Anhebung der Ar-beitsproduktivität sowie eine Senkung der Selbstkosten erfolgen.

Aufgrund der Normenfrage kam es in vielen Betrieben zu Diskussionen (wie etwa in Leipzig, Wilhelmsruh und Jena) und auch zu Arbeitsniederlegungen in Eisleben, Finsterwalde, Für-stenwalde, Chemnitz-Borna und anderen Orten. In Roßlau wurde eine verlangte Resolution klar abgelehnt. Solcher Widerspruch der Belegschaft wurde dann als "Tendenz der Gleichma-cherei" bezeichnet. Der "Neue Kurs" begann also, aber von den Normen und den Forderungen der Arbeiter war nicht die Rede.

Tradition des Widerstandes
Obwohl die DDR-Nomenklatura ihre Politik mit "sozialistischen" Phrasen und Ritualen schmückte, erlebten die Arbeiter den wirklichen Charakter der DDR-Gesellschaft tagtäglich am eigenen Leib und wehrten sich gegen ihre Ausbeutung und Entmündigung. 1950 hatte man das Weihnachtsgeld abschaffen wollen. Dagegen hatte es erfolgreichen Widerstand der Arbei-terschaft gegeben, ebenso wie gegen die Absicht den auf den 1. Mai 1951 folgenden Samstag und Sonntag zum ordentlichen Arbeitstag zu erklären. Im Sommer 1951 bildeten die Arbeiter der Bitterfelder Region die Speerspitze der Bewegung gegen die Kollektivverträge. (39) Der Widerstand gegen die Kollektivverträge war durch Entlassungen und Verhaftungen gebrochen worden.

In den Tagen vor dem 16. Juni hatte es in der DDR laut Aussagen des ehemaligen SED-Funktionärs Heinz Brandt "an die sechzig Streiks" gegeben (40). Am 28. Mai 1953 streikten die Zimmermänner auf der Baustelle G-Nord in der Ostberliner Stalinallee. Am 12. Juni kam es zu neuen Streiks in der Werkstatt C-Süd. Bereits im Oktober 1952 waren 2.000 Demon-stranten durch Klein Machnow gezogen und hatten gegen die Schikane der Staatsmacht de-monstriert. Bereits am 13. Mai hatten im Mansfelder Kupferbergbau die Schlackensteinarbeiter gestreikt. Die Streikführer waren festgenommen worden. In den letzten Mai- und den ersten Junitagen häuften sich punktuelle Kurzstreiks hauptsächlich wegen der Normenerhöhung in Finsterwalde, Gotha, Hennigsdorf, Karl-Marx-Stadt, Nordhausen, auf den Baustellen Ostber-lins und im Reichsbahnausbesserungswerk Treptow.

Es herrschte bei vielen Arbeitern die Meinung vor: "Alle Opfer wurden nur auf den kleinen Arbeiter abgewälzt." Und da kam einiges zusammen: Warenknappheit, Kaufkraftschwund, Lohnraub durch Normerhöhung, etc. Die Arbeit war schwerer, der Lohn geringer, das Essen teurer geworden. Seit Herbst 1952 sank der Lebensstandard und die Versorgung steckte in einer schweren Krise.

Der Widerstand der Arbeiter weitete sich in dem Maße aus, wie das Regime seine Bemühun-gen verstärkte. Das ND schrieb zwar, daß die Rücknahme der Normerhöhung gegen die Inter-essen der Arbeiterklasse sei, aber die Arbeiter waren da anderer Meinung, was ihre eigenen Interessen anging. Und die nächsten Tage sollten dies auch beweisen.

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