"Die Unsicherheiten entstammen dem Tollhaus der Finanzmärkte." Jürgen Borchert, ATTAC
",Diese Unterscheidung zwischen 'Industrie' und 'Finanzwelt', zwischen 'produktivem' und 'parasitärem' Kapital ist so alt wie der Kapitalismus selbst; sie liess einen Scheinkampf gegen 'Zinssklaverei' und unverantwortliche Spekulanten entstehen.' Ihre verheerendste Auswirkung hatte sie in der Zeit des Nationalsozialismus, als sie dem Zweck diente, ein 'Volk' darauf abzurichten, sich 'seinen' nationalen Wirtschaftsführern bedingungslos zu unterwerfen und Juden als (tatsächlich fiktive) Feinde zu hassen.'" Thomas Ebermann/Rainer Trampert in "Die Offenbarung der Propheten"
Das Schreckgespenst der globalen entfesselten Märkte und des globalen Finanzkapitalismus lässt den nationalen Markt mit seinem "Sozialstaat" und den lokalen Kapitalismus als einen Waisenknaben und eine harmonische Idylle erscheinen, so als seien Armut und Ausbeutung vom "entfesselten Markt" verschuldet. Es entsteht also der Eindruck, dass der Kapitalismus vor dem "Ausufern" der Macht der Finanzmärkte eine harmonische Gesellschaft gewesen sein muss, in der es keine Probleme gab. Ein Teil des Kapitals, das Finanzkapital, wird dämonisiert und vom anderen Kapital getrennt. Eine solche Theorie erinnert sehr an die Theorie der Nazis vom "raffenden" und "schaffenden" Kapital.
Wenn wir vielen Aktivisten glauben, so existiert neben dem "bösen" "Finanzkapital" mit seiner "zerstörerischen Wirkung" ein "gutes", das Industriekapital, das "produktiv" ist und Reichtum und Arbeitsplätze schafft. Diese Trennung stellt allerdings nur eine äusserst einfache Herangehensweise dar, da es trennt, was heute zu sehr verflochten ist, um es trennen zu können. Es handelt sich bei dieser Kritik um eine verkürzte Kritik am Kapitalverhältnis: es ist eine Kritik an der "Zinswirtschaft" und an den Agenten dieser "Zinswirtschaft" (also Banken, Institutionen wie IWF, etc.). Dass der Handel von der Produktion abhängig ist, ist auch kein Thema. Das Kapital als Verhältnis existiert für diese Kritiker nicht, nur die jeweils den beiden Seiten des Kapitals zugeschriebenen Eigenschaften "gut" und "böse", d.h., dass die Kritik auf eine Form des Kapitals konzentriert wird, während die andere Form geradezu von aller "Schuld" und Verantwortung freigesprochen wird. Der Kapitalismus wird in dieser Kritik als Geldwirtschaft (deshalb immer wieder die Angriffe auf die "Finanzmärkte"), das Kapitalverhältnis als "Zinsknechtschaft" verstanden. Völlig ausgeblendet bleibt das Kapital als Verhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit, d.h. die industrielle Organisation der Arbeit und des Kapitals. Aber auch, dass IWF, WTO, Weltbank oder die überstaatlichen Organisationen wie die UNO Instrumente der reichsten und mächtigsten Staaten sind, um ihre Interessen gegenüber den ärmeren Staaten durchzusetzen. Eine andere Verkürzung der Kritik ist die Forderung nach einem "gerechten" Handel oder einer "gerechten" Welt. Diese schwammigen Forderungen werden selbst von sich selbst als "revolutionär" bezeichnenden Gruppen aufgestellt. Dabei wird nur die Frage nach einer "gerechteren" Verteilung oder Beteiligung am kapitalistischen Reichtum gestellt, keineswegs aber die Bedingungen und Verhältnisse problematisiert, unter denen er hergestellt wird. Unserer Meinung kann es aber keine allumfassende Kritik der Auswirkungen des Kapitalismus ohne eine allumfassende Kritik des Kapitalismus selbst geben, die den Kapitalismus mit seiner Lohnarbeit, seiner Klassengesellschaft und seinem Staat ebenfalls kritisiert und diese Macht- und Interessenverhältnisse als Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Analyse, Kritik und Veränderung ansieht.
Die verkürzte Kritik des Kapitalismus, also die Kritik einer Form des Kapitals (während die andere verklärt wird), bedeutet zusammen mit der Verteidigung des lokalen Kapitalismus, dass der bürgerliche Standpunkt, dass der Kapitalismus die "natürliche Ordnung" ist, nicht verlassen wird.
Diese verkürzte Kapitalismus-Kritik ist alter Wein in neuen Schläuchen. Sie wurde in der Vergangenheit stets von kleinen und mittleren Bauern, Handwerkern und Kapitalisten erhoben. Deshalb auch der Ruf nach dem Schutz des Staates: Denn die kleinen Kapitalisten bedürfen - im Gegensatz zu den grossen kapitalistischen Konzernen - in grösserem Masse des Schutzes des Staates, um im kapitalistischen Wettbewerb standhalten zu können. In der Vergangenheit haben auch Anarchisten wie Silvio Gesell, Pierre J. Proudhon oder die KPen (erinnert sei an die These der französischen KP von der Macht der 200 Familien) diese Kritik am Kapital erhoben. Heute sind es hauptsächlich Intellektuelle und ebenfalls wieder kleine Bauern, Handwerker und Kapitalisten, welche einen "idealen" Kapitalismus mit "fairem" und "gesundem" Wettbewerb fordern. Sie lehnen nicht die Konkurrenz und das System der Konkurrenz ab, dem auch die Arbeiter in einem Krieg aller Individuen untereinander in ihren Betrieben unterliegen. Sie lehnen die Konkurrenz bzw. ihre Auswirkungen nur ab, wenn sie selbst unter dieser leiden und haben nichts gegen die Konkurrenz einzuwenden, sie wollen nur nicht die Verlierer des Systems sein.
Vor über 150 Jahren entlarvte Marx in seiner Polemik gegen den kleinbürgerlichen Anarchisten Proudhon dessen Versuch, die Beziehungen und wirtschaftlichen Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft in eine "schlechte" und eine "gute" Seite aufzuteilen. Proudhon tue, so schrieb Marx, "was alle guten Bourgeois tun. Sie sagen alle, dass die Konkurrenz, das Monopol etc. im Prinzip, d.h. als abstrakte Gedanken, die alleinigen Grundlagen des Lebens sind, in der Praxis aber viel zu wünschen lassen. Sie wollen alle die Konkurrenz ohne die unheilvollen Folgen der Konkurrenz. Sie wollen alle das Unmögliche, d.h. bürgerliche Lebensbedingungen ohne die notwendigen Konsequenzen dieser Bedingungen." (Marx: Brief an P.W.Annenkow, in: Das Elend der Philosophie, Berlin 1971, S.190) Dem Anarchisten Gesell galt - wie heute vielen in der AGB - die soziale Frage nicht als eine Klassenfrage, sondern als eine Problem der Beseitigung des Zins als "arbeitslosem Einkommen" (heute wird von der Allmacht der "Finanzmärkte" gefaselt).
Die Befürworter der Tobin-Steuer treten in Proudhons Fussstapfen. Sie sind nicht für die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse, sondern nur für eine Regulierung der "schlechten" Seite des kapitalistischen Systems - des spekulativen Finanzkapitals -, während die "gute" Seite, das produktive Kapital, blühen, den allgemeinen Wohlstand mehren und die Demokratie wieder herstellen soll. Ebenso versucht heute die AGB die "gute" Seiten bürgerlicher Institutionen wie der Staaten, der Parlamente oder der WTO zu "retten", um sie im Interesse eines "Allgemeinwohls" zu gebrauchen. Somit stellt die AGB nicht das Eigentum an den Produktionsmitteln und die kapitalistische Wirtschaftsweise in Frage, sondern sie kritisiert nur die "falsche" Handhabung.
Die Ablehnung des "globalen" Kapitalismus darf nicht zu einer Verklärung des "lokalen" Kapitalismus führen. Gerade in den verklärten "lokalen" kleinen Unternehmen herrschen oft schlimmere Arbeitsbedingungen als in den grossen "Multis". Es darf über die Realität der "Multis" nicht vergessen werden, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Stadien des Kapitalismus handelt. Ausbeutung, Lohnarbeit und Unterdrückung sind nicht auf den "globalen" Kapitalismus beschränkt. Der "lokale" Kapitalismus ist die Vorstufe zum "globalen". Viele der zu-kurz-gekommenen, sich benachteiligt fühlenden Klein-Kapitalisten klagen ebenso wie die AGB über die Allmacht der Konzerne, vergessen aber, dass diese nur den Trend des Kapitalismus darstellen, den Trend zur Konzentration des Kapitals, bei dem notwendigerweise die Klein-Kapitalisten auf der Strecke bleiben.
Die Ideologie und das Programm der Bewegung ist ein staatsfixiertes, eines das einen Kapitalismus mit "menschlichem Antlitz" anstrebt. Ein "demokratischer", "friedlicher", gerechter" oder "sozialer" Kapitalismus aber ist ein Unding. Die Kritik an der "Globalisierung" stellt dem "schlechten" globalen Kapitalismus den "guten" "lokalen Kapitalismus" entgegen (beide sind allerdings nur verschiedene Erscheinungen des Kapitals). Es ist sogar von der "Verantwortungslosigkeit des Kapitalismus" die Rede, dabei beruht alles Wirtschaften im Kapitalismus gerade auf der Expansion und der Vergrösserung des Profites. Es ist der Kampf aller gegen alle. Die kleinen Kapitalisten wollen zu den grossen gehören, die grossen wollen noch grösser werden, etc. In diesem Wettbewerb gibt es Verlierer, weshalb Armut (die von Staaten, Konzernen oder Klassen) auch notwendig zum Kapitalismus gehört. Somit ist die Ideologie, welche eine "andere Globalisierung" fordert, nicht antikapitalistisch, sondern stellt eine Verteidigung des nationalen oder eines "idealen" Kapitalismus dar (z.B. Protektionismus).