Massenstreik und soziale Revolte in Frankreich 1995/96

"Let' s all unite!"

16.10.: 1.000 Studenten blockieren den Eisenbahnverkehr in Rouen und in den folgenden tagen die Verkehrsknotenpunkte, öffnen die Maudkassen der Autobahn, besetzen die Büros der Universitätsleitun-gen. Sie schließen sich weder Gewerk-schaften noch Gruppen an, sondern bilden ein Kampfkomitee...
24.11.: Der Flugverkehr in Orly wird beträchtlich behindert durch die Besetzung der Landebahnen durch die Arbeiter der Instandhaltung der Air France...
26.11.: Der Direktor von Elf Atochem de Mont (Pyrenees Atlantiques), einer Filiale von Elf Aquitaine, wird eine ganze Nacht von 450 streikenden Arbeitern eingesperrt, die seit dem 10.11. mehr Lohn fordern.
27.11.: Die Eisenbahnen in ganz Frankreich sind praktisch lahmgelegt. In den besetzten Gebäuden werden Vollversamm-lungen abgehalten und Streik-posten versuchen die wenigen Züge zu blockieren, die noch fahren. Der Streik weitet sich auf den Pariser Nahverkehr (RATP) aus...
30.11.: Zusammenstöße in Paris, Nantes und Montpellier. Die Hälfte der Sortierzen-tren (von 130) ist im Streik. Einsatz der CRS im Gare du Nord von Paris gegen die Eisenbahner, die den EuroStar blockieren.
4.12.: Das Beispiel der streikenden bei der EDF (Stromwerk) in Brest, für alle den Strom auf Nachttarif umzustellen, weitet sich auf fast ganz Frankreich aus.
5.12.: 247 Demos in ganz Frankreich mit fast einer Million Beteiligten. Zusammen-stöße in Montpellier, Paris, Nancy, Nantes, wo der Busbahnhof in Brand gesteckt wird. Starke Beteiligung des Privatsektors: RVI, Moulinex, Kodak in Caen, die Hafenarbei-ter in Marseille, Streikposten vor den Militärwerften in Toulon, Brest und Cher-bourg, die Kranfahrer in den Häfen von Rouen und Le Havre. Streiks in der Metall-industrie in Loire-Atlantique, la Meuse, la Cher, Ardennen und Rhone, bei Renault in Sandouville bei Le Havre. Besetzung des Gare de Montparnasse in Paris.
6.12.: Nach SNCF, RATP, Post, Telecom, Universitäten und Schulen, EDF-GDF (Gas) weiten sich die Streiks auf den städtischen Nahverkehr aus (Caen, Cherbourg, Limo-ges, Marseille, Lille, Bordeaux, Grenoble, Lyon), auf die Müllmänner in Bordeaux, die Militärwerften von Brest, die Kaliwerke im Elsaß, auf die Krankenhäuser, Fluglotsen und Fährlinien in Marseille.
7.12.: In Freyming-Merlebach (Lothringen) liefern sich etwa 3.000 Bergarbeiter der Kohlegruben eine Schlacht mit 400 Bullen: Barrikaden aus brennenden Reifen auf den Kreuzungen, ein Bulldozer gegen die Bullen, der schließlich gegen die Wand eines Polizeireviers prallt, Entführung des Bürgermeistervertreters in einen Schacht, um ein Gespräch mit dem Präfekten durchzusetzen. Kämpfe bis spät in die Nacht mit 28 Verletzten. Ebenfalls Zusammenstöße mit den Bullen in Montpellier und Nantes.
Da die Spannung weiterhin steigt, was den streng von der Basis kontrollierten Streik nicht schwächt, der anfängt, auf Randbereiche des Privatsektors überzugreifen und sich radikalisiert, beginnen hinter den Kulissen Gespräche, um einen "ehrenwerten Abgang" zu finden; die regierung lädt die Gewerkschaften zu einer "Arbeitssitzung".
8.12.: Die Radikalität der Bewegung wird deutlicher... Neue Zusammenstöße in Orly zwischen Bullen und Streikenden von Air-France. Einschließung des Direktors und dreier Ingenieure bei Houillieres de Gar-dannes bei Marseille. Zusammenstöße vor den Präfekturen von Montlucon, Nizza, Chateauroux. Besetzung des Rathauses von Avignon. Der Wohnsitz des Abgeordneten von Albi sowie das Büro desjenigen von Nantes wird zugemauert. Besetzung eines Radiosenders in Limoges.
In Merlebach von 7 Uhr morgens an: "Man könnte sagen, ein Krieg." 4.000 Bergarbei-ter, ausgerüstet mit Helmen, Schutzbrillen, Gasmasken und bewaffnet mit Axtstielen und Stahlkabeln liefern sich mit 500 Gen-darmen und 200 CRS (Spezialeinheit der Polizei) eine Schlacht vor dem Direktions-gebäude. "Dieses Mal sind wir gerüstet für den Kampf Mann gegen Mann." Die Berg-arbeiter werfen Molotow-Cocktails und Knallkörper auf das Gebäude. Mehrere Brandherde brechen in verschiedenen Etagen aus, sofort schlagen Flammen aus den Fenstern und dicke Rauchschwaden steigen vom obersten Stockwerk auf. Die Feuerwehrfahrzeuge werden von den Demonstranten blockiert und können nicht eingreifen. Die teilweise sehr heftigen Zusammenstöße gehen bis zum Nachmittag weiter: "Das schießt überall her, man glaubt, in Sarajewo zu sein", erzählt ein CGT-Aktivist. 50 Verletzte, einer mit durchlöchertem Bein von "all den Schwei-nereien, die sie in ihre Granaten stecken." Nachdem die Bullen die Straße besetzt haben, besetzen und stoppen 50 Bergarbei-ter ein Heizkraftwerk. In Toulouse halten die Studenten eine permanente Versamm-lung auf dem Kapitolsplatz ab und machen nächtliche Demos.
9.12.: ...auf der Autobahn bei Thionville wird Öl auf die Fahrbahn gekippt, anderswo werden Maudkassen geöffnet, Sabotage in einem Atomkraftwerk bei Bordeaux...
13.12.: In Rouen blockieren Arbeiter der EDF und Eisenbahner das Busdepot, beset-zen das Büro einer Bank, organisieren Straßensperren, schicken Delegierte in alle privaten Betriebe, besetzen das Telekom-Gebäude. Die Bergarbeiter von Gardanne besetzen das Heizkraftwerk. In Caen gibt es Straßensperren und der Busverkehr ist lahmgelegt...
18.12.: Die Hälfte der Kraftwerke ist weiterhin im Streik. In Mulhouse halten die Streikenden die Besetzung des Kraftwerks von Itzach und das wilde Stromabschalten aufrecht, was das ganze Elsaß betrifft...
21.12.: Bei SNCF geht der Zugverkehr langsam wieder los; in Marseille und Toulouse ist der Nahverkehr weiterhin lahmgelegt. In den Postverteilzentren von Bordeaux, Toulouse und Lille wird der (bereits beendete) Streik wiederaufgenom-men wegen der Lohnabzüge für die Streik-tage. In Chambery, Caen, Sotteville und Ajaccio geht der Streik weiter für die Festanstellung der Prekären...
12.1.: ...Streikende des E-Werkes von Marseille setzen alle Verbraucher auf den niedrigsten Tarif, um die Rücknahme von Sanktionen gegen 4 Kollegen wegen des Streiks und die Eröffnung von Verhandlun-gen über den Personalbestand und die Qualifikationen zu erreichen: die Streiken-den blockieren den Eingang zum Rathaus und entfernen alle Telefone aus den EDF-Büros.
15.1.: 60 % der Arbeiter des E-Werkes von Toulouse kämpft noch für die Rücknahme des Secu-Plans und gegen die Privatisie-rung. (Zusammengestellt und aus dem Französischen übersetzt von Andreas Löhrer, nach der Sondernummer der Zeit-schrift Echanges, Paris 1996)

Diese Chronik der Ereignisse in Frankreich veröffentlichen wir hier obwohl sie schon etwas zurückliegen, weil sie erstens von einem sehr fortgeschrittenem (Klassen-) Bewußtsein, zweitens einer Radikalisierung im und durch den Klassenkampf und drittens die Möglichkeiten unseres Han-delns aufzeigen und Beispiel für kommende Kämpfe sein können. Diese Massenstreik-bewegung ist wichtig und zeigt, welche Kraft und Kreativität in der Arbeiterklasse steckt. Sie zeigt aber auch daß Kämpfe etwas bringen und daß solche Kämpfe auch stets der Gefahr der Vereinnahmung und Manipulation ausgesetzt sind.

Die Rolle der Gewerkschaften liegt auf der Hand und wird gut deutlich. Interessant ist auch die Rolle der faschistischen Front National. "Die Front national fühlte sich von dieser Streikbewegung stark in Verlegenheit gebracht, die, wie ihre eigene Wochenzeitschrift schrieb, " die politische Debatte von der nationalen Ebene, wo die Front National unschlagbar war, auf die sogenannte soziale Ebene verlagert hat." Als Anhängerin der Zerschlagung des Systems sozialer Sicherheit und der Renten zugunsten von Systemen individueller Versicherung hat sie sich dennoch gegen den Juppe-Plan, aber ... gegen die Gewerkschaften und gegen die Streiks ausgesprochen." (zitiert nach Die Aktion I/1996) Uns allen als Ansporn und Beispiel! Nike La Police!

(aus Revolution Times # 11)

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