Vorwort zu "Frankreich 1968: Rebellion im Herzen der Bestie"

Diese Broschüre enthält Beiträge zum Kampf der revolutionären Arbeiter, die dazu bestimmt sind, diskutiert, verbessert und hauptsächlich ohne großen Aufschub in die Praxis umgesetzt zu werden.

Vorwort

Nur wer die VERGANGENHEIT kennt und weiß, wie es zu ihr gekommen ist, kann sich richtig in der GEGENWART bewegen und im Hier und Jetzt die Weichen für die ZUKUNFT stellen.

"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an sie zu verändern." Karl Marx, 11. Feuerbachthese, 1845

Wir haben sie satt, all die Lügen, die Lügen, darüber, daß die Arbeiterklasse nicht kämpfen würde und daß sie nicht fähig wäre ihr Leben selbst zu regeln. Deshalb haben wir diese Broschüre bzw. die gesamte Reihe der in der BIBLIOTHEK DES WIDERSTANDES erscheinenden Broschüren begonnen.
Wir haben bei unserer Recherchearbeit für jede unserer Broschüren immer wieder festgestellt wie schwer es ist an Informationen über proletarische Kämpfe zu gelangen und wie schwer es ist die kleinen Informationsportionen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Dabei mußten wir oftmals hartnäckig suchen und forschen und auch die Hilfe so manches guten und alten Genossen in Anspruch nehmen. Uns fiel auch der Mangel der meisten Literatur auf: außer einigen wenigen Hinweisen auf entschlossene Kämpfe sind diese meist nicht näher geschildert, was natürlich dazu führt, daß - aufgrund eines akuten Mangels an Informationen - die Vielfältigkeit der Kämpfe nicht immer voll zur Geltung kommen kann. Auch die Rolle der Frauen und anderer meist verstärkt unterdrückter Gruppen der Arbeiterklasse wie der Jugendlichen, der Ungelernten oder der ausländischen Kollegen, ist kaum Gegenstand der Literatur zu Kämpfen unserer Klasse, was sich leider auch auf unsere Broschüren auswirkt.
Und oft fehlte uns die Kraft und Muße nach der täglichen Lohnarbeit unsere Aufmerksamkeit der Arbeit an unseren Broschüren zu widmen. Die tägliche Maloche mit ihrer Routine, Langeweile und Repression raubte uns immer wieder unsere Kraft, unsere Zeit und unsere Konzentration. Oft saßen wir morgens im Bus auf dem Weg zur Arbeit und lasen oder hockten bis spät in die Nacht vor dem Rechner ... Manchmal schoben wir die Arbeit an den Broschüren vor uns her, denn wir brauchten Zeit zum Entspannen, Zeit, um Kraft und Inspiration zu sammeln und so manches persönliche Problem wegstecken zu können.
Genau das ist es, was uns unterscheidet von so vielen anderen Verfassern politischer Pamphlete: Wir sind keine Historiker und wir sind auch keine hauptamtlichen Kader oder gar Politiker, welche ihre geistigen Ergüsse einer geneigten Leserschaft unterbreiten. Wir sind keine gelernten Schreiberlinge. Wir sind Arbeiter, die einen Großteil ihres Alltags und ihrer Zeit im Herzen der Bestie, also in den kapitalistischen Fabriken, Werkstätten und Büros, zugebracht haben und auch heute noch zubringen. Wenn wir arbeiten gehen, so nicht aus Proletkult, fehlendem Lebenssinn oder weil wir uns selbst "verwirklichen" wollen, sondern weil wir uns und unsere Familien ernähren, unsere Mieten und Rechnungen bezahlen müssen, weil wir weder am Hungertuch nagen noch betteln wollen; kurz: wir haben keine andere Wahl als unsere Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.
Wir sind Arbeiter und aus dieser Perspektive betrachten wir die Gesellschaft und auch die Geschichte. Wir sind Arbeiter, die sich ihrer Interessen, Identität und Traditionen bewußt sein wollen und die Erinnerung an die Geschichte unserer Klasse und ihre Kämpfe unter dem Schutt des bürgerlichen Ideologiemülls ("Ende der Geschichte", "Kommunismus = Ostblock") und des bürgerlichen Roll-backs - entgegen dem allgemeinen Trend zur Geschichts- und Alternativlosigkeit - zu befreien und für heutige Tage und Kämpfe aufzubereiten versuchen.
Wenn wir uns als Revolutionäre sehen, so nicht deshalb, weil wir die Menschheit so lieb haben und uns als tolle Weltverbesserer sehen. Wir kämpfen als Revolutionäre, weil wir leben wollen und das kapitalistische System uns daran hindert. Das kapitalistische System saugt uns aus, raubt uns unsere Lebenszeit und unsere -kraft, es verhindert unsere Kreativität, unterbindet unsere Begierden und menschlichen Regungen. Es reduziert uns auf die Funktion in ihrem System aus Konsumtion und Produktion, teilt unsere Lebenszeit systemgerecht in Arbeits- und Freizeit.

Es ist unsere eigene Erfahrung (wie die mit unserer Arbeit und dem Leben im Kapitalismus), die uns in unserer politischen Überzeugung immer wieder bestärkt hat. Und wir sind revolutionäre Sozialisten, nicht aus einer provokanten Laune heraus, sondern aus zu Fleisch und Blut gewordener Überzeugung, die ständig von neuen Erfahrungen genährt wird.

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist in zwei Klassen geteilt: in die Menschen, die arbeiten gehen müssen (Arbeiter), um (über-)leben zu können und diejenigen Menschen, die von ihrer Arbeit leben (Kapitalisten). Dabei sind weder die eine noch die andere Klasse eine homogene Masse: es gibt unter den Arbeitern z.B. sowohl die ungelernten als auch die hoch spezialisierten und die Vorarbeiter, die kleinen als auch die leitenden Angestellten, unter den Kapitalisten z.B. den kleinen Ladenbesitzer als auch den Chef eines großen Weltkonzerns. Es gibt unter den Mitgliedern beider Klassen reaktionäre und progressive Kräfte, passive und aktive. Das ändert aber nichts an der Teilung der Gesellschaft in zwei Klassen, wobei die eine auf Kosten der anderen lebt. Vergessen tun wir auch nicht, daß der Kapitalismus sich seine Herrschaft auch mittels unserer Köpfe bewahrt: er spaltet uns nicht nur durch materielle Privilegien und offene Repression, sondern auch durch die "sanfte" Repression der Gesetze, Privilegien, Religionen, Ideologien, ...

Wir haben diese Klassengesellschaft erlebt und erleben sie tagtäglich erneut. Sie ist keine graue Theorie, nicht Geschichte und bestimmt kein Märchen irgendwelcher verbohrter Linker. Wir leben nicht in einer harmonischen Wohlstandsgesellschaft, in der es uns so gut geht wie nie zuvor, wie uns einige Prediger der "sozialen Marktwirtschaft" und der "Demokratie" weismachen wollen. Ihre Religion der alles heilenden Marktkräfte und ihre Leistungsideologie predigen sie uns, weil sie selbst von dieser profitieren. Die Klassengesellschaft ist harte Realität für die meisten von uns und mit ihren Exzessen hat fast jeder von uns schon mal in irgendeiner Form Bekanntschaft gemacht.

Wir haben ihre Verachtung, ihren Haß auf uns, die wir arm sind, arbeiten gehen müssen und auch noch Ansprüche und Forderungen stellen, in uns aufgesogen und in neue Energie, in neuen Widerstand, in neue Erkenntnis umgewandelt. Sie wollten uns so oft kleinkriegen; jedesmal aber haben wir wieder ein bißchen mehr sehen gelernt im Dunkel der kapitalistischen Gesellschaft. Ihre Rechte und Freiheiten sind die Rechte und Freiheiten der Reichen und Mächtigen, ihre Werte sind angesichts des bestehenden Elends Heuchelei und ihre Ratschläge an Bedürftige reiner Zynismus. Das ist unsere Sicht der Dinge, das ist die Erfahrung unserer Leben.

Wenn wir uns in dieser Broschüre mit dem Mai 1968 beschäftigen, so tun wir dies nicht als Selbstzweck und auch nicht aus kommerziellen Gründen. Geld kann man mit revolutionärer Literatur nicht verdienen.
Wir beschäftigen uns mit dem Kampf der französischen Arbeiter, um die Erinnerung an ihn wachzuhalten bzw. sie erneut wachzurufen. Es ist nämlich die Gewohnheit aller Herrschenden nicht nur das Bild der Gesellschaft, sondern auch das Bild der Geschichte - im Sinne der Legitimation ihrer Herrschaft und Ordnung - zu bestimmen. Dem wollen wir versuchen unser kollektives Wissen der Arbeiterkämpfe entgegenzuhalten, diese Broschüre soll im Rahmen unserer BIBLIOTHEK DES WIDERSTANDES dazu ein Beitrag sein. Die kostbaren Erfahrungen auch dieses Kampfes dürfen nicht verloren gehen, denn sie geben uns Kraft, Mut und Zuversicht, daß mehr möglich ist, als uns in diesen "ruhigen" Zeiten möglich scheint. Ohne die Hoffnung, ohne die Zuversicht auf einen neuen Morgen, eine andere Zukunft wäre das Leben oft trister, ließe man sich sicher mehr hängen. Diese Erinnerungen sind Teil einer verschütteten Tradition der Arbeiterbewegung, die uns Zuversicht auf eine andere Zukunft und in die Fähigkeiten unserer Klasse geben. Denn gerade in diesen Tagen zeichnet sich immer klarer ab, daß der Kommunismus eine Notwendigkeit ist. Der Kommunismus ist eine Notwendigkeit aufgrund der wachsenden Gefahr eines Weltkrieges, der wachsenden Verelendung nicht nur der sogenannten "3. Welt" und immer größerer Teile unserer Städte. Der Kommunismus bleibt Notwendigkeit aufgrund der ständig wachsenden Verschwendung von Arbeitskraft, Ressourcen und Rohstoffen für den kalkulierten und dennoch unberechenbaren täglichen kapitalistischen Wahnsinn. Diese Verschwendung bedeutet zugleich Profit für das Kapital und Armut, Ausbeutung, Bevormundung, Entfremdung und Unterdrückung für uns. Der Kommunismus bleibt aber auch Notwendigkeit aufgrund des Lebens, das wir führen wollen, das uns aber vorenthalten wird. Die Erfahrungen der Kämpfe der Vergangenheit und Gegenwart sowie die materiellen Voraussetzungen beweisen die Möglichkeit des Kommunismus.

* "Diejenigen, die von Revolution und Klassenkampf sprechen, ohne sich ausdrücklich auf das Alltagsleben zu beziehen, ohne zu begreifen, wie subversiv die Liebe, wie positiv die Ablehnung jedes Zwanges sein kann, haben einen Kadaver im Mund." Komitee Wütende- Situationistische Internationale

1968 war eines der Jahre, in denen die Welt eine grenzüberschreitende Massenbewegung in Form von Demonstrationen und Streiks, wie z.B. in der CSSR die Bewegung für einen "menschlicheren Sozialismus" und die Studenten- und Anti-Vietnamkriegproteste in vielen westeuropäischen Ländern und in den USA erlebte. Und es gab auch in Frankreich Proteste der Studenten und der Anti-Vietnamkriegsbewegung. Allerdings weitete sich in Frankreich der Protest aus und es waren am Ende 10 Millionen streikende Arbeiter und Tausende Studenten, die sich gemeinsam gegen die französischen Verhältnisse aussprachen.

Wenn wir uns im folgenden hauptsächlich mit der Arbeiterklasse, ihren Forderungen und ihrem Kampf beschäftigen, so deshalb, weil sie die einzige Kraft der Gesellschaft ist, welche fähig ist die kapitalistische Gesellschaft zu überwinden und - objektiv gesehen - auch als einzige Klasse ein Interesse an dieser Überwindung hat. Die Arbeiterklasse war und ist trotz all ihrer Widersprüchlich-keiten (Resignation - Initiative, Frustration - Motivation, Passivität - Aktivität, Rassismus - Internationalismus, Konsumdenken - Kreativität, Konkurrenz - Solidarität, etc.) die einzige gesellschaftliche Kraft, welche fähig ist eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, deren Grundlagen sie in ihren Kämpfen stets ansatzweise verwirklicht: die Selbstbestimmung der Menschen und ihre Selbstorganisation. Denn die Selbstorganisation ist Weg und Ziel der sozialen Revolution. Das jeweilige Bewußtsein und Handeln der Klassen stellt stets nur eine Momentaufnahme dar, wovon auch die Kämpfe des Jahres 1968 ein Teil sind. Solange es Ausbeutung, Bevormundung, Entfremdung und Unterdrückung gibt, wird es auch unseren Widerstand dagegen geben. Der Kampf der französischen Arbeiter ist uns Beispiel und wir versuchen aus ihm zu lernen, wie uns das Leben insgesamt eine große Schule ist, dessen Schüler wir alle sind. Er ist uns Quelle der Inspiration und der Euphorie.

Wir mögen für die "Herren der Welt" Zwerge sein, ohnmächtig und hilflos, aber sie sind nur stark, weil wir schwach und uneinig sind. Ohne ihre Polizei und anderen bezahlten Söldner sind sie nichts. Wir hingegen halten das Damoklesschwert in Händen. Es zu benutzen, bedarf es nicht nur der nötigen Kraft, sondern auch des erforderlichen Wissens. Dies ist ein Teil dieses Wissens, um uns endlich losschneiden zu können.

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