Vorwort zu "Zur Kritik der Arbeiterbewegung, des Marxismus und der Linken"

Vorwort

Wir halten eine materialistisch fundierte, kommunistische Kritik an der Arbeiterbewegung, an der Linken, am Marxismus und Anarchismus für nötig und längst überfällig. Diese Kritik ist das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses von Erfahrungen, Diskussionen und Selbstreflexionen. Diese Kritik ist das Ergebnis der Präzisierung unserer Positionen und der Beseitigung begrifflicher Unklarheiten. Wir waren selbst mehrere Jahre Mitglieder einer Organisation, welche sich in der Tradition der Arbeiterbewegung sah und stolz von sich behauptete, den Marxismus zu verteidigen und zu bewahren. Organisationen solcher Art mit leicht abweichenden Ideologien gibt es genug. So wie wir hatten andere auch ihre Gurus und Päpste (Amadeo Bordiga, Tony Cliff, Che Guevara, Enver Hoxha, W.I. Lenin, Ernest Mandel, Mao Zedong, J. Stalin, Leo Trotzki). Darin glich unsere politische Kirche den Dutzenden anderer, sich auf dem richtigen Weg und der einzig revolutionären Linie wähnenden. Jede dieser rivalisierenden politischen Sekten hat sich ihre eigene Ersatzreligion zurechtgebastelt. Doch eines eint alle diese Organisationen: Sie beziehen sich allesamt positiv auf die Arbeiterbewegung und den Marxismus.

Diese Kritik äußern wir in dem Bewußtsein, daß wir wie bisher von anarchistischer Seite als "Marxisten" und von parteikommunistischer Seite als "Anarchisten" beschimpft werden. Diese Denunzierungen beweisen nichts, außer daß diejenigen, die sie äußern erstens im bewährten alten Lagerdenken verharren und zweitens nicht fähig sind eine eigene materialistische Analyse und Kritik der Traditionen, auf die sie sich berufen, zu liefern. Ihr Weltbild entspringt dem Reich der Ideologie, nicht dem Schatz der vorhandenen historischen und gegenwärtigen Erfahrungen.

Es ist nicht unser Anliegen mit unseren Positionen allen, die von den gescheiterten und alten Ideologien Enttäuschten eine neue Ideologie zu liefern, ihnen fertige Rezepte für eine "revolutionäre" Politik, die "richtige" Linie oder eine künftige Gesellschaft an die Hand zu geben. Unsere Positionen sind das Ergebnis jahrelanger Entwicklung im Spannungsverhältnis zwischen Erfahrung, Analyse, Diskussion und (Selbst-)Kritik. Sie stellen eine theoretische Widerspiegelung der vor unseren Augen ablaufenden Kämpfe dar, sind eine Bilanz von Jahrzehnten. Deshalb möge man uns verzeihen, wenn wir nicht auf jedes Detail, jeden Kampf und jede Wendung eingehen. Wir versuchen zu verallgemeinern.

Für den einen oder anderen Leser werden wir allzu Selbstverständliches hinterfragen, manche heilige Kuh, manches Evangelium und manches gelobte Land entweihen, aber für uns ist es wichtig nicht Autoritäten, "Wahrheiten" oder Traditionen einen Respekt zu zollen, der anderem eher gebührt, nämlich dem Kampf gegen ebendiese und gegen das kapitalistische System. Kern revolutionären Geistes ist die Kritik und der Zweifel. Also kritisieren wir die Zustände und zweifeln an den "ewigen Wahrheiten". Nichts ist gewiß, auch die soziale Revolution und ihr siegreicher Ausgang nicht. Allenfalls, daß es Kämpfe gegen kapitalistische Zustände geben wird solange diese existieren und daß sich diese Kämpfe nicht entwickeln müssen wie es sich manche einbilden. Offenheit und die Bereitschaft und Fähigkeit zur Analyse und (Selbst-)Kritik sind die wichtigsten Eigenschaften in diesen Tagen. Nichts ist in theoretischer Hinsicht widerwärtiger als der Geruch des verfaulenden ideologischen und politischen Kadavers des über alle Zweifel erhabenen Parteikommunismus, der die Versklavung des Proletariats und die Verewigung seines Lohnarbeiterdaseins als "Kommunismus" verklärt.

Für all die Demokraten, die uns verdammen: Nennt uns Utopisten, nennt uns Extremisten, nennt uns totalitäre Spinner. Der Kommunismus ist weniger Utopie als ein Kapitalismus, der allen Menschen ein gutes Leben ermöglicht. Der Kommunismus ist für uns eine mögliche gesellschaftliche Entwicklung, nicht die einzige und bestimmt keine vorherbestimmte. Sie werfen uns vor "Extremisten" zu sein. Was aber ist "extrem" daran, leben zu wollen ohne Hunger, Krieg, Lohnarbeit und Not? Wenn "Extremist" zu sein bedeutet, für den Kommunismus zu sein, so sind wir gerne Extremisten. Diese als Diffamierung gemeinte Benutzung des Wortes "Extremist" ist für uns ein Lob. Unsere Wünsche sind "extrem" für sie, weil sie diese nicht verwirklichen können, weil unsere Wünsche ihre Ordnung sprengen. Sie werfen uns vor "totalitäre Spinner" zu sein. Wir sind "totalitär" für sie. Sie sind es dagegen, die "totalitär" sind, denn sie sind es, die über unsere Leben immer mehr verfügen wollen und sie bis ins kleinste Detail verwerten wollen. Wir wollen leben und das nicht nur am Wochenende. So sind auch wir vielleicht "totalitär", denn wir wollen das ganze Leben und nicht nur seine kapitalistische Hülle, seine zur Karikatur verkommene Kastration: das Überleben. Insofern sind wir utopisch, extremistisch und totalitär, weil wir ein anderes Leben, eine andere Gesellschaft für möglich halten und das ganze Leben wollen.

Wir stehen erst am Anfang unserer Kritik und haben uns dennoch innerhalb kürzester Zeit radikalisiert und mit vielem gebrochen, mit dem wir aufwuchsen. Wir haben vieles hinter uns gelassen, das uns lieb und teuer war. Wir haben mit vielem gebrochen, was uns allzu selbstverständlich zu sein schien und sich im Rahmen unserer Analyse und Kritik als absurd erwies. Wir sehen diese Broschüre als im Prozeß befindlich. Sie entstand unter Zeitdruck und wir haben jede Zeile der Lohnarbeit und dem täglichen Überleben abgerungen. Von daher bedarf sie weiterer Diskussion, (Selbst)Kritik, Präzisierung und Ergänzung. Diese Arbeit wird fortgesetzt. 27.02.2004

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