Der Käfer und die Träne

Eine Lebensgeschichte


Der kleine Käfer war müde von der langen Reise und nun an einer Astgabelung angelangt. "Wie weiter?", fragte er den Baum. "Ruhe dich erst einmal aus und warte. Dann wird es still werden. Du wirst ein leises Klopfen hören. 'Was ist das?' wirst du dich fragen. Es ist das Herz. Du wirst ihm aufmachen und den richtigen Weg weitergehen." Der Käfer war etwas verwirrt durch diese Antwort und wollte eigentlich noch viele andere Fragen stellen, die ihm im Laufe seiner langen Reise aufgekommen sind. Doch der Baum verstummte und liess sich auch durch die starken Windböen, die seine Blätter zum Ächzen zwangen, nicht stören.
"Lass mich nicht allein!" fürchtete sich der kleine Käfer und eine kleine Träne lief ihm die Wange herab - er vergass dabei, dass er sich immer noch auf der Astgabelung des Baumes befand, der sich noch keinen Zentimeter weit bewegt hatte, und infolge dessen er gar nicht allein sein konnte. Die kleine Träne tropfte auf das dunkle, starke Holz unter den Füssen des Käfers und rann den Baumstamm hinunter, liess eine sanfte Wasserspur hinter sich und verschwand in den Tiefen der Erde. Während sie so rann und der Käfer sie schon lange vergessen hatte, sackte der kleine Käfer zusammen und fiel auf der festen Astgabelung in einen tiefen, tiefen Schlaf.

Die kleine Träne war ganz überrascht, wie schnell sie hier gelandet war. In einer dunklen Erdhöhle machte sie Halt, ein Haufen weisser Steine neben ihr. Ein Haufen weisser Steine? Nein, es waren die feinen Eier junger Käferbabys, die noch keine Ahnung hatten von kleinen Tränen und anderen Dingen draussen in der weiten Welt. Als sie diese feinen, zarten weissen Eier da so liegen sah, musste die kleine Träne schon fast selber ein Tränchen vergiessen und seufzte dabei. Erst jetzt kam ihr wieder in den Sinn, wie vielen jungen Käferchen und älteren Käfern sie auf ihrer Reise hinab in die Tiefe begegnet war. Grosse und kleine, dicke und dünne, dumme und intelligente, böse und liebevolle, lustige und traurige und auch ein paar anderen Tränen war sie begegnet. "Wohin gehen die alle und woher kommen sie überhaupt?". Die kleine Träne hatte keine Ahnung und da war sie nicht die einzige. Vielleicht wird es die Wasserspur, die sie hinterlassen hatte, eines Tages erfahren, aber wahrscheinlicher war eher, dass jemand auf ihr ausrutschen könnte und ganz von vorne anfangen muss. Dieser Gedanke beunruhigte sie etwas, doch das konnte daran nichts mehr ändern. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Spur möglichst bald austrocknen wird. 'Austrocknen' sie hasste dieses Wort. Der Tod aller Tränen war das Austrocknen und sie fürchtete sich davor. Deshalb hatte die kleine auch nicht vor, noch länger darüber nachzudenken. Wichtig war jetzt nur, dass sie herausfinden musste, warum sie hier war, denn erst dann konnte sie weitergehen.
Sie erinnerte sich, sie trat aus den Augen ihres Käfers. Nebenbei das 'Austreten' war wie das 'Austreten' nie ein angenehmer Gedanke für Tränen. Es war eine schmerzvolle Prozedur. Und wenn es sich die kleine Träne näher überlegte, stellte sie fest, dass auch das Leben zuvor nicht besonders einfach war. Ständig diese Angst vor dem Austreten, über das schreckliche Dinge erzählt wurden, obwohl doch eigentlich gar niemand so wirklich Bescheid wusste. Die einzige Hoffnung war immer, in dem bestimmten Moment eine Freudesträne zu werden und dann nach dem Austreten immer dieses Freudesgefühl zu spüren, das man mitträgt. Denn vor dem Zeitpunkt des Austretens, wenn man schon ganz vorne an der endlosen Tränenschlange steht und vor Aufregung nur so zittert, dass man aufpassen muss, dass nicht noch das ganze Auge vor Zittern herausrutscht, da kommen, wenn es soweit ist, die Gefühlsboten und überreichen einem das für einen bestimmte Gefühl. Das ist immer der aufregendste Moment im Leben einer Träne und entscheidend für den weiteren Lebensweg. Die Boten werden vom Herzen gesandt und es ist stets eine besondere Ehre, sie empfangen zu dürfen, begleitet von einem tiefen Bewunderungsraunen durch die gesamte Tränenmenge. Hat man sie noch nie gesehen, so ist es sehr schwer, sich vorzustellen, wie schön sie sind. Sie sind von einer Schönheit und Pracht wie es sie nirgends sonst zu finden gilt. Ein so helles, von wunderschöner Farbe strahlendes Leuchten, so schimmernd und doch von einem tiefen Dunkelblau begleitet, mit dem alle vorkommenden Farben zusammen in einem einzigen Dunst von Strahlen aufgehen.
Ach, es ist ein so einzigartiger Anblick, mit so viel Wärme und einer glasklaren Stille umgeben, man könnte nie aufhören, davon zu schwärmen und seufzen. Wenn es schon so grosse Schönheit gibt, kann da noch eine wunderbarere existieren? Wir waren allesamt nicht fähig, das zu glauben. Doch es sollte sie geben. Dort, woher diese so unbeschreibbar schönen Gefühlsboten herkamen, dort sollte es sie geben. Mir hat jemand mal erzählt, dass es nicht anders sein dürfte, dass es gut so ist, dass wir von grösserer Schönheit nicht mal träumen könnten, denn sonst würde jede einzelne Träne in sich zusammenschmelzen und beim nächsten Weinen ein einziger Fluss zerschmolzener Tränen zum Austreten kommen. Das habe ich nie so ganz begriffen. Es muss wohl damit zusammen hängen, dass diese andere Schönheit so blendend heiss ist, dass wir Tränen zu schwach wären, um so einem Gefühlsschwall, den das auslösen würde, standhalten zu können. Und diese unvorstellbare Schönheit, sie ist das Herz allein. Das Herz, der Ort, von dem aus die Gefühlsboten geschickt werden, der Ort, in dem die Gefühle ihren Ursprung finden, in dem sie zur Entstehung geformt werden. Es ist das Herz, das alles weiss, das alles kennt, vom hintersten Winkel der Erde bis zum vordersten, das Herz, das so feurig heiss ist, dass die Menschen es lieber verschliessen, um sich nicht die Finger daran zu verbrennen, und wenn es auch so viel einfacher wäre, es nicht zu tun. Und nun sass die kleine Träne dort unten in dieser Erdhöhle, ganz alleine zwischen den weissen Käfereiern und konnte von all diesen unvorstellbaren Schönheiten nur noch träumen. Sie war eine Traurigkeitsträne geworden, keine Freudesträne, die ja auch seltener waren. Das Austreten war gar nicht so schlimm gewesen, auch die lange Reise nach unten nicht. Aber jetzt, da sie so ganz allein war, jetzt war es schlimm. Ihre Tränenkollegen waren weg, die wunderbaren Gefühlsboten werden nie mehr ihre unendliche Wärme und Ruhe auf sie ausstrahlen können. Die kleine Träne wusste nun, dass es dort oben in den Tränenkanälen ihres Käfers ja so viel geniessbarer gewesen war, das Leben, sie wusste es jetzt, wo sie draussen war in der grossen weiten Welt, und dass sie nie mehr so schöne Tage verbringen könne, wie sie es dort oben getan hatte. Und die kleine Träne begann zu weinen. Sie weinte und weinte und bereute, dass sie dieses Leben nicht mehr genossen und alles immer vergeudet hatte mit ihrer Angst vor dem Austreten und der Furcht, eine Traurigkeitsträne zu werden. Es war so sinnlos gewesen, all das, denn es kam sowieso, wie es kommen musste und daran war nie etwas zu ändern gewesen. Warum liess sie ihr Leben nicht einfach nur aus den Gefühlsboten bestehen lassen und der Freude an ihren Tränenkollegen? Sie hatte es vergeudet.
Während sie so weinte und bereute, merkte sie nicht, wie sie immer kleiner wurde. Durch ihr Weinen verlor sie Flüssigkeit, andere Tränen.
Andere Tränen? Wie konnte sie andere Tränen vergiessen, wo sie doch selber eine war? "Aber halt mal!", rief die kleine Träne. "Wenn ich weinen kann und Tränen austreten, werden dann diese Tränen auch von Gefühlsboten besucht und erfreuen sich an ihrem Anblick? Und werden diese Gefühlsboten etwa auch vom Herzen, dem Ort mit der unvorstellbaren Schönheit, gesandt?" - "Ja." Die kleine Träne wurde aus ihren Gedanken gerissen und hörte plötzlich ein ruhiges, warmes 'Ja'. "Ja! Ja, ja, ja!" Und die kleine Träne machte einen Riesenluftsprung in der dunklen Erdhöhle, so dass die feinen Käfereier beinahe zerbrochen wären. Ja! Sie hatte auch ein Herz! Und sie wurde von einer solchen Wärme überströmt, dass ihre Tränentemperatur sie fast zum schmelzen gebracht hätte. Eine Riesenfreude überkam sie und aus einer Traurigkeitsträne wurde eine Freudesträne! Durch ihre hohe Temperatur, mit der sie selber Wärme in die Umgebung ausstrahlte, brachte sie ihre Tränenspur, die noch bis zu ihrem Käfer hinaufragte, zum fliessen. Und alle ihre liegengelassenen Tropfen fanden zu der kleinen Träne zurück. Plötzlich wuchs ihr Körper heran, wurde grösser und grösser. Sie war nun noch grösser als vor dem Weinen. Vor allem war sie wärmer durch ihre Riesenfreude. Diese Riesenfreude übertrug sich anscheinend auch auf die winzigen Käferbabys, die allesamt ihre Köpfchen aus ihren Eierschalen heraushoben und die kleine Träne mit einem Riesenlächeln anstrahlten. Vor lauter Freude tropften ihnen winzige Freudestränchen aus den Augen, wie auch die kleine Träne sich bemühen musste, um nicht wieder loszuheulen. Nun wusste sie es: Wie auch diese jungen Käferchen, hatten selbst Tränen, ja sogar Traurigkeitstränen diese wunderbarste aller Schönheiten in sich, nämlich das Herz, und wurden ständig durch den regen Verkehr der Gefühlsboten mit strahlendem Licht durchströmt.
Mit diesem Wissen setzte die kleine Träne ihren Weg fort.

Am nächsten Morgen hatten die heftigen Windböen die Wolken vertrieben. Der kleine Käfer öffnete seine Augen und blinzelte sogleich in helles, warmes Sonnenlicht. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Es war, als hätte er ein leises Klopfen gehört. Das Klopfen! Jetzt viel es ihm wieder ein. "Herein", antwortete er wie zu sich selber. Während er das sagte, trat ein besonders heller Gefühlsbote von besonders wunderbarer Schönheit in seine Gedanken ein. Doch der kleine Käfer bemerkte es nicht und war schon etwas enttäuscht, als sich nichts tat. Er stand erst einmal auf und räkelte sich. Auf eine bestimmte Art kam ihm der Baum unter seinen Füssen viel fester und stärker vor als je zuvor. Auch eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Käferkörper aus. Das musste die Sonne sein, vermutete er, was unter anderem auch stimmte. Er fühlte sich auf einmal gar nicht mehr so allein. Und plötzlich kam ihm ein wunderbarer Gedanke, der erzählte folgendes: "Du musst keine Angst haben. Nimm den Weg, den du möchtest und wenn du nicht weisst, welchen, oder gar keinen möchtest, dann ruhe dich noch ein bisschen aus. Es kommt alles so, wie es am besten für dich ist und es war alles gut so, wie es bis jetzt kam. Und wenn du dich dann mal traurig fühlst, dann lass deine Tränen wandern, wenn es an der Zeit ist, werden sie kommen, und wenn es an der Zeit ist, wirst du gehen. Ruhe dich aus, wenn du müde bist und gehe weiter, wenn du dich danach fühlst. Du hast die Wahl. Folge deinem Herzen und hab' keine Angst!"
Und der kleine Käfer ging weiter, nahm den rechten Zweig nach oben und bei der nächsten Gabelung den linken und nach langer Zeit war er am Ende eines Astes angelangt. Der kleine Käfer nahm Abschied von seinem Baum und sagte zu ihm ganz ruhig: "Es war gar nichts vergebens! Danke." Er setzte sich auf ein Blatt und segelte mit der nächsten Windböe langsam nach unten.