Die Drachengeburt
Soledad Cartwright
Eine Geschichte von den Drachenkriegen
Wilde Rose indes, das einfache Hirtenmädchen, dem Nordwind sein Herz geschenkt hatte, konnte sich damit nicht abfinden, daß ihr Geliebter eine andere heiraten sollte. Sie verließ die östliche Hügellandschaft, wo ihre Sippe gelebt hat, und machte sich auf dem Weg nach Abendroth, zu der südwestlichen Bergkette, die Heimwiese von dem Westlichen Zwergenreich trennte. Die südlichen Ausläufer der Berge reichten bis zur Verdorrten Heide; dort wollte sie hausen, in den Felshöhlen, damit sie ihrem Geliebten wenigstens nahe sein konnte. Denn so groß war die Liebe zwischen ihnen, fürwahr, daß sie gar nicht mehr ohne ihn zu leben vermochte.
Es war ein langer und sehr einsamer Weg, aber als Hirtenmädchen war Wilde Rose an die Einsamkeit und an Entbehrungen gewöhnt. Fast ihr ganzes Leben hatte sie allein auf den hügeligen Wiesen ihrer Heimat verbracht, wo ihr nur die Tiere Gesellschaft leisteten, und oft sprach sie tagelang mit keinem, außer den Erdmännchen und Moosfrauen. Die kleinen Kobolde, kaum ein Fuß in der Größe, waren damals noch zahlreich, aber sehr scheu; doch gelegentlich befreundeten sie sich mit einsamen Menschen. Wilde Rose war Waise, also brauchte sie niemanden um Erlaubnis zu bitten. Sie vertraute ihre Herde einer Nachbarin und brach einfach auf, nahm nichts anderes mit als einen Bündel mit etwas Brot und Schafskäse, einen Kapuzenmantel und einen Wanderstab. Sie wußte sehr wohl, wie man im Wildnis überlebt, konnte sich von Beeren und Pilzen ernähren oder sich Honig aus den Bienenstöcken holen, denn sie war mit allen Lebewesen des Waldes vertraut und hatte selbst vor den wilden Wölfen keine Angst.
Wie es der Zufall wollte - falls es überhaupt einen Zufall gibt -, dauerte ihre Reise fast ein volles Jahr, denn sie hatte unterwegs des Öfteren Halt gemacht, in kleinen versteckten Dörfern, die sonst kaum jemand kannte, um sich die Neuigkeiten anzuhören und mit weisen alten Frauen zu sprechen, die mehr sahen und hörten als die Leute vermutet hätten. So kam sie an, nach fast einem Jahr, zum Einsamen Berg, besser gesagt, zu jenen felsigen Höhlen von Abendroth, von denen man geradewegs auf die Drachenburg sehen konnte.
Ein schmales, flaches Tal lag zwischen dem Einsamen Berg und der Südseite des Grenzgebirges, und die Drachen schienen dieses Tal besonders eifersüchtig zu bewachen. Zu jener Zeit hatten die Großen Drachen die Höhepunkt ihrer Macht erreicht. Schwarzer Sturm war ihr Anführer, der älteste und größte von allen, aber bei weitem nicht der gefährlichste. Der war nämlich noch gar nicht geschlüpft, und die Drachen warteten mit ihrem vernichtenden Angriff gegen Heimwiese bis seiner Geburt, denn in ihrer uralten, bösartigen Weisheit waren sie dessen sehr wohl bewußt, daß Spinnenschwinge das übelste aller Kreaturen sein würde, die sie je ausgebrütet hatten. Das kleine Tal nämlich, das sie so sorgfältig bewachten, war das Nest, in dem ihre Eier lagen.
Heißer Sumpf bedeckte den Boden des Tales, schwefelhatliger Dampf stieg aus dem Morast auf und hielt die hausgroßen, buntgefleckten Eier warm. Wie kleine, pastellfarben gemusterte Hügel sahen diese aus und waren - nach siebenhundert Jahren Brutzeit - kurz davor, aufzubrechen, und eine neue Generation des Schreckens auf die Sieben Welten loszulassen. Das wußte Wilde Rose auch, und sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Stunde der Drachengeburt abzuwarten, um ihr Volk vor der neuen Schreckenswelle zu warnen. In völliger Einsamkeit harrte sie auf ihrem einsamen Wachposten aus, aß wenig, schlief noch weniger, wendete die Augen vond dem unheilvollen, schwachen glühen, das die Eier umhüllte, so gut wie nie ab. Staub bedeckte ihr Haar und ihr Gesicht, die Kleider haben sich ihr langsam vom Leibe gewetzt, und sie hat die menschliche Sprache beinahe verlernt. Eulen und Raben waren ihre einzige Gesellschaft; Eulen wachten mit ihr über Nacht und Raben gesellten sich zu ihr überm Tage, denn diese waren die weisesten Vögel jener Zeit, und wußten, vielleicht besser sogar als die Menschen, was bevorstand.
E s war ein kühler Frühlingsmorgen, Wilde Rose saß auf einem kleinen Hügel, unweit vom Drachennest, nunmehr bloß in ihr langes, glänzendes Haar gekleidet, als der neue Schrecken über die Sieben Welten hereinbrach. Als das Mädchen die Eier beobachtete, so wie sie's immer tat, bemerkte sie, wie langsam dunkle Risse auf den sanft regenbogenfarbenen Eierschalen entstanden, und sie wußte, daß die unheilvolle Drachengeburt unmittelbar bevorstand. Also schickte sie ihre Freunde, die Raben, mit der Schreckensbotschaft in alle Himmelsrichtungen aus, damit sie weise Menschen finden, die ihre Sprache verstehen und das Volk vor der drohenden Gefahr warnen. Sie selbst jedoch harrte auf ihrem einsamen Wachposten aus, wissend, daß ihre Augen bald etwas sehen werden, was noch kein Sterblicher vor ihr hatte sehen können.
Als sich wenig später die Sonne golden-rötlich über den Horizont hob, ihr leuchtendes Antlitz neunfach von den glatten Flächen des Kristallberges zurückspiegelnd (weshalb jene Gegend auch Neun Sonnen genannt wurde), brach endlich die Spitze des größten Eis ab. Zuerst schlug ein sieben Ellen langer, hellroter Feuerstrahl gen Himmel, als hätte der neugeborene Drache seiner Wut, die er wegen der siebenhundertjährigen Gefangenschaft verspürte, freien Lauf lassen wollen; danach kam ein heißer, trockener Wind auf, und auf den Schwingen des Windes stieg ein goldgrüner Drache in die Luft.
Trotz der langen Brutzeit war er noch nicht sehr groß, kaum größer als ein ausgewachsenes Schlachtroß, seine Schuppen glänzten noch feucht von dem Inneren des Eis, das sieben Jahrhunderte lang nicht nur seine Behausung, sondern auch seine Nahrungsquelle gewesen, und er hatte riesige, regenbogenfarbene, halb durchsichtige Flügel, wie eine schaurig-schöne Libelle: zwei Flügel, die nahe seine Körpers noch zweigeteilt waren, alle vier in den sanften Tönen eines pastellfarbenen Regenbogens. So unglaublich schön war er im rotgoldenen Licht der Morgenröte, daß Wilde Rose in Tränen ausbrach vor Glückseligkeit und Verwunderung. Sie hat es noch nicht gewußt, daß die wunderbaren Libellenflügel in sechs Wochen trocknen und sich zu mächtigen, ledrigen Drachenflügeln verhärten würden; und nachdem die Flügel erst mal ausgewachsen und stark genug sind, wird der Drache mit dem Werk der Zerstörung beginnen.
So entstieg Spinnenschwinge, die gestaltgewordene Bosheit selbst, dem Großen Ei, in einem Augenblick tadelloser Schönheit; und dies war der einzige Augenblick der Schönheit und der Unschuld in seinem langen unheilvollen Leben. Denn obwohl er in den fast zweitausend Jahren, die er in irgendeiner Form unter der Sonne verweilte, nur zehn Jahre lang wach war, verbreitete er mehr Schrecken und brachte mehr Tod und Verwüstung auf die Sieben Welten als alle anderen Drachen zusammen.
Und als er so feucht schimmernd in die Lüfte stieg, der Sonne entgegen, damit diese mit ihren jungen Strahlen seinen Körper trockente und aufwärmte, blickte er kurz nach unten, als ob er die Gegenwart des Mädchens gespürt hätte. Seine Augen waren abgrundtief dunkel, und der Blick seiner schrägen, gelben Pupillen schlug durch das Herz des Mädchens wie ein schwarzer Blitz, und sie floh von ihrem Wachposten wie ein aufgeschrecktes Reh und vergaß wer sie war, warum sie so lange auf diesem trostlosen Ort verharrte... ja, sie vergaß nicht nur ihren eigenen Namen, sie vergaß sogar die menschliche Sprache. Denn sie kam unter den Bann der Bosheit, die allen Drachen innewohnte, ganz besonders aber Spinnenschwinge, dem schrecklichsten und letzten von ihnen.
Ende
Bemerkung: Diese Geschichte wurde von Boris Vallejo's wunderbare Bild ''Invictus'' inspiriert.
Fortsetzung folgt.