Das
Osmanische Reich wurde im Ersten Weltkrieg besiegt und hat am 31.10.1918
den Waffenstillstand in Mudros unterschrieben. Entsprechend diesem
Waffenstillstand wurden viele Gebiete der Türkei durch die Alliierten
besetzt. Im November sind Truppen der Alliierten in Istanbul gelandet. Das
Parlament wurde aufgehoben und die Einheits- und Fortschrittspartei hat
sich aufgelöst. Die Prominenten der Partei sind ins Ausland geflüchtet. Die
Partei wurde wegen ihrer deutschlandnahen Politik als verantwortlich für
den Krieg und für die Niederlage betrachtet. In kurzer Zeit hat eine
„Jungtürkenjagd“ in Istanbul begonnen. Außerdem wurden manche jungtürkische
Lehrende am Darülfünun von den Alliierten als „Kriegsverbrecher“ verhaftet
und nach Malta in die Verbannung geschickt.
Damat
Ferit Pascha hat eine neue Regierung gegründet, die den Alliierten,
besonders England, nahestand und eine gemäßigte Politik für die Aufhebung
der Besetzung verfolgt hat.
Die
neue Regierung hat ein neues Reformprogramm für das Darülfünun vorbereitet.
Der Zweck der Reform war, jungtürkische Spuren zu entfernen. Andererseits
wollten manche Lehrenden eine Autonomie und einige Veränderungen für das
Darülfünun. Die Reform wurde durch Kommissionen in jeder Fakultät
durchgeführt und schließlich wurde ein neues Statut geschrieben. Das Statut
ist am 24.10.1919 in Kraft getreten. Der 2. Artikel des Statuts hat die
wissenschaftliche Autonomie des Darülfünuns garantiert. Aber die Autonomie
im Statut war nur eine „wissenschaftliche Autonomie“ und keine
administrative.
Andererseits
wurde Izmir im Mai 1919 durch griechische Truppen, die von England
unterstützt wurden, besetzt. Die Protestaktionen gegen die Besetzung haben
sich sofort im ganzen Land verbreitet. Auch die Studenten und Lehrenden
Darülfünuns haben eine Versammlung abgehalten um gegen die Besetzung Izmirs
zu protestieren. Diese Besetzung hat im Volk eine Reaktion gegen die
„gemäßigte Politik“ der Regierung hervorgerufen.
Im
Westen Anatoliens wurden Widerstandsausschüsse ausgebaut und ein
bewaffneter Widerstand hat sich zu formieren begonnen.
Gleichzeitig
wollte Mustafa Kemal (Atatürk), ein General in der Osmanischen Armee, die
osmanischen Truppen in Anatolien, die noch nicht abgerüstet hatten,
zusammenrufen und den Widerstand um die Armee organisieren. Prominente
Kommandanten und manche Kommunalverwalter sind in diese Bewegung
eingetreten. Diese Bewegung, die politische Unabhängigkeit bezweckt hat,
wurde in vielen Gebieten Anatoliens wirksam.
Die
Regierung in Istanbul hat 1920 entschieden, das Parlament wieder zu öffnen,
aber nach der Wahl haben die Abgeordneten, die Anhänger der
Befreiungsbewegung in Anatolien waren, die Mehrheit im Parlament gestellt.
Sie haben erklärt, dass das Parlament die Grundlage der Befreiungsbewegung
akzeptiert hat. Infolgedessen wurde Istanbul durch englische Truppen
besetzt und das Parlament wurde noch einmal geschlossen. Schließlich hat
die anatolische Bewegung im April 1920 ein neues Parlament, die Grosse
Nationalversammlung der Türkei, in Ankara eröffnet.
Auf
diese Weise wurde die Befreiungsbewegung eine neue Macht, die legislative,
exekutive und judikative Gewalt hatte und außerdem eine Armee kommandierte.
In
Istanbul hat sich die Sympathie für die Befreiungsbewegung allmählich
verbreitet. Zahlreiche Personen sind heimlich nach Anatolien gegangen.
Diese Sympathie war auch unter den Studenten Darülfünuns sehr stark. Im
April 1922 begann ein Streik gegen die Lehrenden der Literarischen
Fakultät, die den Alliierten nahestanden und in Lehrveranstaltungen gegen
den Nationalismus gesprochen haben. Ein Lehrender, Ali Kemal, schrieb in
einer Zeitung, dass „die Türken die Unabhängigkeit nicht verdient haben“.
Ein anderer Lehrender, Rıza Tevfik, der den Vertrag in Sèvres
unterschrieben hatte und deswegen von der Regierung in Ankara als
„Vaterlandsverräter“ betrachtet wurde, sagte in einer Lehrveranstaltung,
dass „die Türken außer ihrem Säbel nichts zu loben haben“. Der Streik wurde
in kurzer Zeit größer und hat sich in anderen Fakultäten verbreitet. Daraufhin
schloss das Ministerium Darülfünun vorübergehend. Am 20. Mai wurde es
wieder eröffnet, aber wegen des Streiks konnten die Lehrveranstaltungen
nicht stattfinden. Ali Kemal und Rıza Tevfik wurden schließlich von
ihrem Dienst suspendiert.1
Der
Krieg in Anatolien hatte sich so entwickelt, wie es die Regierung in Ankara
wollte. Die nationale Armee gewann die Feldschlacht am 30.08.1922 und die
Autorität des „Hauptkommandanten“ Mustafa Kemal im Parlament wurde stärker.
Am 9. September wurde Izmir von der Besetzung der Griechen befreit, und am
11. Oktober der Krieg mit einem Waffenstillstand in Mudanya beendet.
Die
Verwaltung Darülfünuns hat sofort ihre Politik entsprechend der Politik der
Regierung in Ankara festgesetzt. Am 19. September 1922 nahm die
Literarische Fakultät Mustafa Kemal als „Ehrenprofessor“ auf. Das war das
Zeichen der Treue Darülfünuns zur Regierung.
Am
8. November hat İsmet İnönü, der ein prominenter General der
Regierung und Nachfolger Mustafa Kemals war, Darülfünun besucht. Auch er
wurde von der Naturwissenschaftlichen Fakultät zum „Ehrenprofessor“
erhoben.
Die
Regierung in Ankara hat im November 1922 erklärt, dass das Sultanat
abgeschafft sei. Am 29.10.1923 wurde die Republik ausgerufen. Mustafa Kemal
wurde ihr Staatspräsident.
Die
Erziehungspolitik der neuen Regierung wurde entsprechend der allgemeinen
Politik geplant. Die Grundlagen dieser Politik wurden von Mustafa Kemal am
27. Oktober 1922 in Bursa folgendermaßen zusammengefasst:
„Wir werden
unseren Kindern und Jungen grundsätzlich die Notwendigkeit des Kampfes
gegen die Feinde
1.
der Nation
2.
des türkischen Staats
3.
der
Grossen Nationalversammlung der Türkei lehren.“2
Zwischen
dem 15.07.1923 und dem 15.08.1923 wurde auch die Lage Darülfünuns in der
Versammlung der Wissenschaftlichen Kommission diskutiert. In dieser
Versammlung wurde entschieden, dass die Bezüge der Lehrenden erhöht werden
und dass die Lehrenden keinen Nebenjob haben dürfen.
Im
Oktober wurden das Gebäude des alten Kriegsministeriums, das Gebäude des
Gendarmkommandos und zahlreiche handgeschriebene Werke von der Regierung
dem Darülfünun gestiftet.
Die
neue Regierung beabsichtigte, das ganze Erziehungssystem neu zu gestalten.
Die kemalistische Regierung hat die westlichen Staaten als Vorbild genommen
und eine „Verwestlichungspolitik“ durchgeführt. Mustafa Kemal hat davon
gesprochen, die Türkei „das Niveau moderner Zivilisation“ erreichen zu
lassen. Damit hat er die westliche Zivilisation gemeint.
Die
Hilfe ausländischer Experten war für die Durchführung dieser Politik sehr
wichtig. Im Jahr 1924 ist Prof. Dr. John Dewey von der Universität Columbia
in die Türkei gekommen und hat zwei Berichte vorgelegt. Diese Berichte
waren inhaltlich liberal und sie haben private Schulen befürwortet. In den
Berichten wurde empfohlen, Studenten in das Ausland zu schicken, den
Studenten billige Unterrichtsmaterialen zu geben, Bücher in die türkische
Sprache zu übersetzen und durch Wanderbüchereien die Gewohnheit des Lesens
zu fördern.
Dewey
hat in seinem Bericht folgendes geschrieben:
„Die
Erziehungsorganisation der Türkei hat keine Schwierigkeiten bei der
Bestimmung ihres Ziels. Das Ziel ist, dass sich die Türkei unter den
zivilisierten Nationen [...] als eine lebendige, freie, unabhängige und
säkulare Republik entwickeln soll. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die
Schulen erstens der Nation richtige politische Gewohnheiten und Gedanken
geben, zweitens wirtschaftliche und kommerzielle Fähigkeiten fördern,
drittens die Grundprinzipien des gedanklichen und sittlichen Charakters,
der die Frauen und Männer auf die nationale Souveränität, wirtschaftliche
Selbstverwaltung und auf den künstlerischen Fortschritt richtet,
entwickeln. Dieser Charakter wird ihnen die Gewohnheiten der Initiative und
Erschaffung, der freien Beurteilung, des wissenschaftlichen Denkens und der
Arbeitsteilung zum allgemeinen Nutzen geben.“ 3
Deswegen
hat Dewey vorgeschlagen, dass die Schulen nicht nur die Schüler und
Schulerinnen, sondern auch die gesamte Gesellschaft erziehen sollen:
„Das Ziel der
Schule ist zweierlei. Schule ist einerseits ein Zentrum, welches das für
die Nation nützliche Wissen sammelt, und ein Mittel, welches dieses Wissen
veröffentlicht. Andererseits rüstet die Schule die Schüler mit gedanklichen
Fähigkeiten zum Nutzen des Landes aus und sie rettet das Wissen davor,
theoretisch und unnütz zu sein.“4
Dewey
hat vorgeschlagen, zur Modernisierung des Erziehungssystems die Psychologie
ernster zu nehmen. Zudem hat er empfohlen, eine „experimentelle Schule“
innerhalb einer Lehrerbildungsanstalt zu eröffnen. Man könnte in dieser
Schule neue Erziehungsmethoden entwickeln oder psychologische Eigenschaften
der Schülerund Schülerinnen testen. Daher könnte diese Schule in den
Lehrerbildungsanstalten Lehrer und Lehrerinnen für den Psychologie- und
Pädagogikunterricht ausbilden.5
Nach
Dewey ist Prof. Kühne am Ende des Jahres 1925 in die Türkei gekommen, um
Berufsschulen zu beobachten und hat danach einen Bericht vorgelegt.6
Die
Berichte Deweys waren wichtig für die Reorganisation des Erziehungssystems.
Im Jahre 1924 wurden die Medresen aufgelöst und alle Schulen nach
europäischen Prinzipien reorganisiert. In allen Städten wurden neue Schulen
unter dem Namen „Lise“ (Lyzeum)
eröffnet. Am 1. April 1924 ist das „Gesetz für Darülfünun“ (Darülfünun Kanunu) in Kraft
getreten.
Dieses
Gesetz hat eigentlich keine radikalen Veränderungen, sondern nur eine
Reorganisation der Verwaltung gebracht. Am 21. April 1924 wurde eine
Instruktion über die Reorganisation des Darülfünuns veröffentlicht.
Eine
andere Regulierung betraf die „Studierendenbewegung“. Die Bewegung der
Studierenden war von Anfang an ein Problem für die Regierung. Die
Studierenden sind bei der Gründung der jungtürkischen Einheits- und
Fortschrittspartei wirksam gewesen. Nicht nur Studenten, sondern auch die
Studentinnen waren politisch aktiv. Im Jahre 1914 war das „Darülfünun für
Mädchen“ (İnas Darülfünunu)
gegründet worden, aber aus finanziellen Gründen hatte diese Universität in
das Gebäude des Darülfünuns einziehen müssen. Reaktionäre Lehrende hatten
den Gemeinschaftsunterricht als „religionsfeindlich“ empfunden und
versucht, ihn zu verhindern. Aber infolge des Streiks der Studentinnen, der
von manchen Lehrenden und Studenten unterstützt wurde, wurde das getrennte
Studium beendet. Auch der Streik von 1922 hatte alle auf die Studierenden
aufmerksam gemacht. Jede Regierung versuchte die Studierendenbewegung unter
Kontrolle zu bringen. Im Oktober 1924 wurde ein „Disziplinkollegium“ in
Darülfünun gegründet und die Rechte der Studierenden wurden eingeschränkt.
Sie durften sich nicht mehr organisieren, Demonstrationen oder
Versammlungen abhalten, irgendein Plakat an die Wände des Darülfünuns
aufhängen und sogar die Verwaltung der Universität nicht kritisieren.
Die
Bewegung der Verwestlichung hat auch die Modernisierung des Darülfünuns zur
Diskussion gestellt. Aber die Reform des Darülfünuns konnte erst im Jahre
1933 durchgeführt werden. Bis 1933 wurden die Volks- und Mittelschulen
reorganisiert. Es wurde versucht, die Zahl der Analphabeten im Volk zu
vermindern. Im Jahr 1928 wurde die lateinische Schrift statt der arabischen
eingeführt. Die Psychologie hatte jedoch für die Regierung keine andere
Bedeutung, als ein Nebenfach der Philosophie zu sein. Daher haben die
Vorschläge Deweys zur Institutionalisierung der Psychologie auf Seiten der
Regierung keinen Anklang gefunden, zumindest hatte die Errichtung eines
Instituts für Psychologie noch keine vorrangige Bedeutung. Außerdem hatte
das türkische Erziehungssystem einen Mangel an Personal für administrative
Reformen und für die Errichtung von Schulen im gesamten Land. Die Priorität
gehörte nicht der Psychologie, sondern den Reformen im Schulsystem. Es gab
zusätzlich zu wenige Lehrer und Lehrerinnen in den Lehrerbildungsanstalten,
die Psychologieunterricht erteilen konnten. In dieser Periode ist die
Psychologie eigentlich nur eine Lehrveranstaltung in der philosophischen
Abteilung geblieben. Die Institutionalisierung der Psychologie konnte erst
nach der Universitätsreform im Jahr 1933 möglich werden.
Der
erste Versuch der Institutionalisierung der Psychologie an der Universität
blieb mit der Rückkehr von Anschütz nach Deutschland erfolglos. Aber nach
dem Ersten Weltkrieg konnte die Psychologie mit der Berufung Mustafa
Şekip Tunçs an die Universität im Jahr 1919 einen Platz am Darülfünun
finden. Nach dem 7. Artikel des am 24.10.1919 in Kraft getretenen Statuts
Darülfünuns sollte eine Lehrveranstaltung an der Literarischen Fakultät
unter dem Namen „Psychologie“ (Ruhiyat)
abgehalten werden.7 In dieser Periode konnten nur zwei Personen
eine solche Lehrveranstaltung halten: Mustafa Şekip Tunç und Ali
Haydar.
Wir
wissen über Ali Haydar leider sehr wenig. Er hat bis 1924 „experimentelle
Psychologie“ gelehrt und im Jahr 1925 einen Artikel über
Intelligenzforschungen veröffentlicht.
In
dieser Periode war die wichtigste Person für die Psychologie Mustafa
Şekip Tunç. Tunç wurde 1886 in Istanbul geboren. Er hat die
Grundschule in Aleppo und Monaster besucht. Dann hat er eine Zeitlang die
militärische Schule besucht und das Lyzeum Vefa absolviert. In der 3.
Klasse des Lyzeums wurde er durch den Ethik- und Religionsunterricht
beeinflusst.8
Durch die Frage nach der Existenz Gottes ist er schließlich zur Philosophie
gekommen.
Nach
dem Lyzeum studierte er an der Fakultät für Politologie (Mülkiye Mektebi). Während des
Studiums lernte er Französisch. Am Vortag der Revolution von 1908 hat er
sein Studium abgeschlossen. Im September 1908 wurde er als Adjutant nach
Skopje, das damals das Verwaltungszentrum der Provinz Kosovo war, berufen.
Er hat sich dort mit pädagogischen Problemen beschäftigt und an den
Anwendungen neuer Erziehungsmethoden in einer Schule, die vom Klub „Heilige
Heimat“ (Subbani Vatan) gegründet
worden war, teilgenommen.9 Später wurde er als
Landrat nach Firzowik berufen, aber nach einigen Monaten ist er
zurückgetreten, um in der Lehrerbildungsanstalt Skopjes als Lehrer arbeiten
zu können. Er ist dort bis zum Balkankrieg geblieben und hat ab 1911 mit
Sabri Cemal Bey, dem Direktor der Schule eine Zeitschrift unter dem Namen
„Neue Schule“ (Yeni Mektep)
herausgegeben.10 Nach dem Beginn des Balkankriegs ist die
Zeitschrift nach der vierzehnten Ausgabe nicht mehr veröffentlich worden.
Die ersten Artikel Tunçs finden sich in dieser Zeitschrift. In diesen
Artikeln war der starke Einfluss der französischen Autoren deutlich
erkennbar, denn zu dieser Zeit wurden die Bücher der soziologischen Schule
Le Plays ins Türkisch übersetzt und haben Tunç sehr beeinflusst. Er hat
seinen Schülern und Schülerinnen diese Bücher empfohlen.11
In
der Zeitschrift wurden auch die Serien „Gekürzte Psychologielektionen“ von
Sabri Cemal und „Psychologielektionen“ von Tunç veröffentlicht.12 Tunç
hat für seine Serie die Werke A. François’, des Direktors der
Lehrerbildungsanstalt Melon, zum Ausgangspunkt genommen.
Auch
Payot, ein französischer Pädagoge, hat Tunç in dieser Periode beeinflusst.
Für „Neue Schule“ übersetzte Tunç einige Artikel Payots und zitierte ihn in
seinen Artikeln häufig. Payot hat den persönlichen Willen für wichtig
gehalten. Diese Anschauung war in dieser Periode auch in den Artikeln Tunçs
sichtbar. Für Tunç waren die Fähigkeiten der Grundschullehrer als Erzieher
am wichtigsten, diese Fähigkeit sollte daher gestärkt werden. In einer
Serie unter dem Namen „Ihr im Leben“ (Hayatta
Sizler) hat Tunç 1911 behauptet, dass „die Grundschullehrer die Türkei
der Zukunft gründen“ würden.13
Als
die Osmanen am Ende des Balkankriegs den Balkan verloren haben, wurde Tunç
nach Balıkesir als Literaturlehrer berufen. Einige Monate später wurde
er vom Erziehungsministerium nach Lausanne für das Studium der
französischen Literaturgeschichte geschickt, aber er wollte nach Genf gehen
und am Institut Jean Jacques Rousseau Pädagogik und Psychologie studieren.
Dieses Institut war damals in Istanbul wegen des Direktors der
Lehrerbildungsanstalt Istanbul, Satı Bey, sehr berühmt. Das
Ministerium hat dem Wunsch Tunçs entsprochen. Er konnte sein Studium an
diesem Institut abschließen und inzwischen die Psychologievorlesungen an
der Universität Genf besuchen. Während er in Genf war, arbeitete er
außerdem in einem Maleratelier. Nach seinem Studium ist er in die Türkei
zurückgekehrt.
Nach
seiner Rückkehr wurde er an die Çapa Lehrerbildungsanstalt für Mädchen als
Psychologie- und Pädagogiklehrer berufen. Er hat dort zwei Jahren lang
gearbeitet und gleichzeitig für die Zeitschrift „Erziehung“ (Terbiye), die von Naif Atuf Bey
veröffentlicht wurde, einige Artikel geschrieben. Diese Artikel haben im
Studienjahr 1918/19 das Interesse Ziya Gökalps geweckt. Infolgedessen wurde
er als Dozent für Pädagogik an das Darülfünun berufen.14 Er
wurde dann im März 1919 zum Professor für Psychologie, im März 1924 von der
neuen Regierung zum Professor für Allgemeine Psychologie und im Jahr 1934
nach der Universitätsreform zum Ordinariusprofessor ernannt.15
Ex-Erziehungsminister
Hasan Ali Yücel schreibt über die ersten Lehrveranstaltungen Tunçs
folgendes:
„Die Psychologie,
die mit Tunç zum ersten Mal die Gestalt einer Wissenschaft angenommen hat,
wurde bis Tunç wie ein Unterricht in einer Medrese gelehrt, indem ein aus
dem Französischen übersetztes Buch, das eigentlich ein einfaches Handbuch
war, aber während der Übersetzung zum Katechismus verwandelt wurde, Wort
für Wort kommentiert und interpretiert wurde. Früher wollte niemand die
Lehrveranstaltungen über Psychologie besuchen, aber dank ihm haben diese
Lehrveranstaltungen eine Menge Hörer gefunden.“16
Yücel
meint hier vermutlich die Vorträge von Naim Bey nach der Revolution von
1908 und nicht die von Anschütz. Nach Yücel hat Tunç seine Vorträge mit
Ebbinghaus begonnen, später lehrte er Ribot und Bergson.17 Darin
spiegelt sich die theoretische Entwicklung Tunçs wider.
Tunç
hat 1919 die „Lektionen der Psychologie“ (Ruhiyat Dersleri) in Form eines Lehrbuchs geschrieben. Das Buch
wurde als Steindruck veröffentlicht. Im selben Jahr veröffentlichte er noch
eine Übersetzung von Ebbinghaus unter dem Titel „Psychologie“ (Ruhiyat) und 1920 den „Anhang der
Lektionen der Psychologie“ (Ruhiyat
Derslerine Lahika). Leider gibt es heute kein Exemplar dieser Bücher
mehr.
Den
Schwerpunkt seiner Vorträge bildete die Philosophie. Nach
Fındıkoğlu hat er 1921 in seinen Lehrveranstaltungen von
„ästhetischen Leidenschaften“ und „der Struktur des religiösen Übertritts“
gesprochen. Ein anderes Thema seiner Vorlesungen war „das Wesen des
Lachens“.18
Er hat 1921 ein Buch von Bergson bearbeitet und unter dem Titel „Was ist
das Lachen und über wen lachen wir?“ herausgegeben.
Ab
diesem Datum wurde Tunç der wichtigste Vertreter und Verteidiger der
Bergsonschen Philosophie in der Türkei. Aber gleichzeitig hat er die Bücher
von Thédule Ribot, der die Psychologie ziemlich „mechanistisch“ behandelt
hat, übersetzt.
1923
hat er ein Buch von Bergson unter dem Titel „Einige Vorträge über die
spirituelle Energie“ (Manevi Kudrete
Dair Birkaç Konferans) veröffentlicht und für das Buch eine lange
Einleitung geschrieben. Das Buch bestand aus einigen Kapiteln von „Energie Spirituelle“. Die Einleitung
von William James‘ „Pragmatisme“,
die Bergson geschrieben hat, wurde zusätzlich von Tunç in sein Buch
übernommen.
Tunç
erklärt in der „Einleitung“ dieses Buchs die Wichtigkeit Bergsons für sein
persönliches Leben:
„Mein Interesse
für die Werke Bergsons ist in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs
entstanden und die ungerechte Gefangenschaft unserer Nation und die
Tragödie Izmirs haben dieses Interesse zu einer unvermeidbaren Leidenschaft
verwandelt.
[...]
Bevor ich Bergson
entdeckt habe, hat mich kein Philosoph dazu geführt, dass ich meinen Willen
entdecken konnte. Immer wenn ich diese Philosophen gelesen hatte, hatte ich
in ihnen einen Inspektor der Wissenschaft oder einen Architekten eines
Systems gefunden, mich über ihre Denkweise gewundert und sogar gefühlt,
dass sie manchmal meinen Willen und meine Gefühle bewegten. Aber ich hatte
in ihren Werken keine Kraft, die meinen ganzen Willen zu umfassen vermag,
finden können. Die Suggestionen meines seligen Vaters über die Philosophie
der Geschichte und Religion, die ab meiner Schulzeit bis meinem zu 30.
Lebensalter angedauert hatten, hatten mein Interesse für Philosophie
angeregt. Aber der Weg, auf den ich geführt wurde, war immer eine
künstliche Gasse, die mit rationalen und logischen Methoden gebahnt wurde.
Obwohl das Ziel der Philosophie, den wirklichen Charakter und den
natürlichen Willen des Universums, der Seele und des Lebens zu entdecken,
mindestens dies zu suggerieren, ist, hatten alle Philosophen, die ich
gelesen habe, eine den Willen zerstörende Denkweise, die den Verstand zu
einem hohen, aber fiktiven, Niveau bringt und dann das ganze Universum aus
einem einzigen und abstrakten Gesetz ausgehend, wie ein geometrisches
Problem beweisen will. Ich konnte diejenige Philosophie in keiner Weise
annehmen, die mich von meinen Instinkten, Gefühlen, Aufregungen,
Leidenschaften und von meinem Willen entfernt, mich in einer Sternwarte
belässt, deren Teleskope alle nur aus der Vernunft und aus dem Verstand
entstanden sind, und dort vor meinen Augen die Linsen des reinen Denkens
oder der mechanistischen Weltanschauung stellt und einlädt, mich danach zu
beobachten einlädt. Schuldig bin ich nicht, sondern die Philosophie, die
meiner ganzen Seele nicht passt.“19
Auf
diese Weise hat Tunç begonnen, die Psychologen zu lesen und nach „den
Möglichkeiten und Grenzen der positiven Psychologie“ zu suchen:
„Die
Wirklichkeit, die ich entdeckt habe, war es, dass das tiefste Geheimnis des
Lebens und des Geistes in Instinkten und in Gefühlen liegt.“20
Nach
Tunç haben die Philosophen „dieses Geheimnis“ in der Vernunft gesucht. Die
Vernunft wurde sogar als die Quelle der Inspiration und der Kreativität
behandelt. Es gibt laut Tunç eine Ähnlichkeit zwischen dem Dogmatismus des
Mittelalters und dem Rationalismus. Die rationalistische Philosophie könnte
zwar für die physischen Wissenschaften ausreichend sein, aber nicht für die
Seele. Die Philosophen müssten
die Welt nicht nach der Vernunft, sondern in ihrer unabhängigen Existenz
betrachten. Die Hypnose, Mondsüchtigkeit, Telepathie usw., viele
Krankheiten oder „die schöpferischen Kräfte der Seele“ könnten nicht mit
den mechanistischen Methoden erklärt werden, daher wäre es unnütz, das
Gedächtnis nach der Logik zu beurteilen.
Tunç
hat behauptet, dass das Wissen der Mathematik die erste Voraussetzung für
die Metaphysik wäre. Aber sowohl die Mathematik, als auch die modernen
Wissenschaften wären dafür ungenügend. Man brauche gleichzeitig ein Talent
zur Kunst:
„Die Welt, die
der Philosoph zeigt, ist nicht nur die Welt der Wissenschaft oder der
Kunst. Der Philosoph muss die beiden Welten als ein untrennbares Wesen
zeigen.“21
Dieser
Philosoph ist nach Tunç Henri Bergson.
1924
hat Tunç eine Übersetzung von William James unter dem Titel „Dialoge über
Erziehung“ (Terbiye Musahabeleri)
veröffentlicht. Gleichzeitig hat er für die Zeitschrift Dergâh einige Aufsätze von Bergson
übersetzt.
Im
Jahr 1924 hat Fahrettin Kerim Gökay, der in Deutschland studiert hatte,
innerhalb der Psychiatrischen Klinik Toptaşı ein „Laboratorium
experimenteller Psychologie“ gegründet. Er hat in diesem kleinen
Laboratorium einfache psychologische Experimente mit den sogenannten
Patientinnen und Patienten durchgeführt. Gökay hat die „föderative
Zusammenarbeit“ der Psychologie mit der Psychiatrie verteidigt.22 Tunç
hat sich für das Laboratorium interessiert:23
„Mein lieber
Freund, Prof. Mustafa Şekip (Tunç), hat unser Krankenhaus und unser
Laboratorium besucht. Er hat für unsere Arbeiten Interesse gezeigt, seine
positive Meinungen über die Rolle der Psychopathologie in der Entwicklung
der normalen Psychologie ausgedrückt und die Bedeutung der Zusammenarbeit
zwischen den Psychologen und den Psychopathologen betont.“24
Tunç
hat behauptet, dass die psychischen Faktoren bei den Psychosen bedeutsamer
als die physiologischen seien und man durch die Beobachtung der Entwicklung
der „Krankheit“ die psychische Struktur verstehen könne.25
1924
wurde mit dem neuen Statut die Lehrveranstaltung „Experimentelle
Psychologie“ von Ali Haydar aus dem Studienplan gestrichen. Nach diesem
neuen Studienplan war die einzige Lehrveranstaltung die „Psychologie“ von
Tunç aber auch Ali Haydar hat bis 1929 an dieser Lehrveranstaltung als
Lehrender teilgenommen.
In
demselben Jahr wurde „Psychologie“
von Tunç veröffentlicht. Dieses Buch war bis zu seinem Ruhestand sein
Lehrbuch für die Vorlesungen über Allgemeine Psychologie.
Eine
der wichtigsten Übersetzungen von Tunç war „Über Psychoanalyse“ von Freud (Psikanalize Dair Beş Konferans,
1926). Tunç hat eine Einleitung zu den Vorträgen geschrieben. In dieser
Einleitung wollte er Freud, der in der Türkei noch nicht bekannt war, den
türkischen Lesern vorstellen. Nach Tunç war Freud sehr beachtenswert, weil
er eine neue Psychologie, die ganz anders als die mechanistische,
klassische Psychologie war, begründet hat. Aber Tunç kritisierte
gleichzeitig Freud. Nach Tunç gab es zwei philosophische Grundprinzipien
bei Freud: sein „psychischer Determinismus“ und sein „psychischer
Naturalismus“. Das Prinzip des Determinismus war eine vorexperimentelle
„Produktion eines Vorgefühls“. Dieses „Gefühl“ war getrennt von den
philosophischen Systemen, von denen Freud logisch abhängig war. Sein
„philosophisches Vorgefühl“ betraf jedoch einen Teil der Realität.26
Daher vergleicht Tunç Freud mit Pasteur. Pasteur hatte die metaphysische
Anschauung, dass die erste Bewegung aufgrund einer äußeren Ursache
stattfinden muss. Aber Freud versuchte nicht, sein „philosophisches
Vorgefühl“ bis zum Ende zu entwickeln. Wenn er dies gemacht hätte, „sollte
sich Freud auf eine spiritualistische Philosophie richten“.27 Aber
Freud benützte sein „Vorgefühl“ nur im Bereich der Wissenschaft.
Tunç
kritisiert auch den Naturalismus Freuds. Nach ihm ist die Psychologie
Freuds „mehr Natur als Freiheit“:28
„Freud versucht
nicht, die ganze Natur des Menschen zu begreifen. Es gibt eine tierische
Seite im Menschen. Hier hat Freud recht. Aber wir
haben auch eine menschliche Seite und es ist sichtbar, dass Freud weniger
versucht, diese Seite zu kennen und dass er die Vernunft und den Willen des
Menschen verschweigt.“29
Laut
Tunç konnte sich Freud vom Einfluss des biologischen Materialismus, der das
19. Jahrhundert beherrscht hat, nicht befreien.30
Tunç
hat danach auch Ribot, Delacroix und William Stern übersetzt. 1938 hat er
zwei Übersetzungen von Dwelshauvers veröffentlicht.
Diese
Übersetzungen erscheinen, als ob sie „zusammenhanglos“ wären. Ribot und
Bergson sind die Vertreter gegensätzlicher Anschauungen. Wilhelm Peters
schreibt über die Verfasser, deren Werke von Tunç ins Türkisch übersetzt
wurden, folgendes:
„Ribot war vor fast
50-60 Jahren ein prominenter Psychologe in Frankreich. Als Şekip
(Tunç) ihre Werke zu übersetzen angefangen hat, war Ribot aber gedanklich
schon tot. Auch Dwelshauvers hatte in ungefähr derselben Periode wichtige
Untersuchungen im Bereich der experimentellen Psychologie gemacht. Nachher
ist er aber in Frankreich, wo er gewohnt und gearbeitet hat, immer
außerhalb dieses Bereichs geblieben. Was Freud und Bergson betrifft, ist es
dennoch anders. Sie waren Meister der Epoche und sogar sehr modisch in
ihrer Zeit. ... Von denen wollte nur einer Psychologe sein: Ribot. Er
konnte in einer Periode, in der positive Ergebnisse noch wenige waren,
unvollständige Ergebnisse mit Untersuchungen, Einschätzungen und Anekdoten
zusammenbinden und als einfache und interessante allgemeine
Zusammensetzungen anbieten. Er war ein Meister des Zusammensetzens und
Ausdrückens der von den anderen entdeckten Sachen.
Dwelshauvers, der
seriös und dem französischen Geist ganz fremd war, war nicht nur ein
Psychologe. Er wollte als ein treuer Sohn der Kirche die Psychologie mit
den Bedürfnissen der katholischen Metaphysik zusammenbringen.
Freud, der ein
Schüler des großen Charcots und gleichzeitig ein Neurologe war, hat sich
auf ein ganz spekulative und konstruktive Psychologie gerichtet und daher
auf die spekulative Metaphysik. Hier verwischen sich die Grenzen zwischen
Wissenschaften und das Objektive und das Subjektive vereinigen sich in
einem fiktiven Bild der menschlichen Seele.
Was schließlich
Bergson betrifft, ist er zweifellos ein Metaphysiker. Sein Unterschied zu
alten Metaphysikern ist, dass er von der Psychologie ausgehend durch
attraktive gedankliche Zirkulationen wieder zur Psychologie zurückkehrt.
Dennoch erlaubt ihm sein Ziel nicht, in einem begrenzten Bereich zu
bleiben. Die lebendige Welt geometrisch wieder aufzubauen ist das
Hauptthema seines Werks.“31
Servet
zeigt den Zusammenhang zwischen den Übersetzungen Tunçs folgendermaßen:
„Die Prinzipien „elan vital“ und „durée“ Bergsons, das durch das
Hinzukommen von Gefühl und Willen zum Verstand geschaffene Prinzip „Aktion“
von James, die unterbewusste Welt
Freuds... Alle sind auf einen Ausgang gerichtet, wie die der Richtung des
Fadens folgenden Glasperlen einer Gebetskette: die geometrische Vernunft zu
besiegen. ... [D]ieser Ausgang ... war ein verborgener Individualismus.“32
Tunç
war gleichzeitig Maler. Manche Autoren betonen diese Seite seines
Charakters. Zum Beispiel schreibt Ülken:
„Das Arbeiten an
der experimentellen oder theoretischen Psychologie befriedigt ihn niemals.
Seine Liebe zu Bergson und die Sympathie für Freud rühren meiner Meinung
nach mehr von der Befriedigung des künstlerischen Temperaments von Tunç
her, als von seinem Interesse für Metaphysik und klinische Psychologie, da
sowohl Freud als auch Bergson eine künstlerische Seite hatten.“33
Nach
Ülken konnte Tunç deswegen einen Nicht-Deterministen und einen
Deterministen, also Bergson und Freud, in Verbindung bringen.
Gürkan
hat den Einfluss des Bergsonschen Indeterminismus auf Tunç betont. Nach
Gürkan war Tunç immer gegen eine mechanistische Anschauung. Obwohl er die
Türkei mit der experimentellen Psychologie bekannt gemacht hat, hat er
immer wiederholt, dass „die menschliche Seele als Ganze nicht determiniert
ist und sie in der inneren Welt, die als das Unbewusste zeichnet wurde,
autonom und immer im Werden lebt.“34
Nach
Gürkan hat Tunç geholfen, eine europäische Wissenschaftsanschauung in der
Türkei zu verbreiten und zugleich verhindert, dass der Materialismus die
Jugend beeinflussen konnte.“35
Die
Arbeiten Tunçs sind in einer Übergangsperiode der Türkei erschienen. Die
individualistische Anschauung Tunçs ging parallel zu der liberalistischen
Wirtschaftspolitik der ersten Jahren der Republik.
Eigentlich wurde Tunç in dieser Periode nicht als Psychologe, sondern als
Philosoph, der eine Vorlesung über Psychologie hielt, betrachtet. Mit der
Depression von 1929 wurde der Etatismus allmählich durch diese Politik
ersetzt. Die Universitätsreform von 1933 ist nur Ergebnis dieser
Veränderung.
Der
Liberalismus hat die Entwicklung der individualistischen Gedanken
begünstigt, aber die Regierung wollte gesellschaftliche Neugestaltungen und
im besonderen eine Schulreform machen. Aus diesen
praktischen Gründen wurde die Psychologie gebraucht. Dennoch wurde Tunç der
wirkliche Gründer der Psychologie in der Türkei. Peters betont einen
anderen „Erfolg“ Tunçs: Die Einführung einer ersten türkischen Terminologie
der Psychologie.36
Aber
die Abhandlungen Tunçs konnten nach den 50er Jahren nicht verstanden
werden. In den 50er Jahren haben sich die Anschauungen der amerikanischen
funktionalistischen Psychologie in der Türkei sehr schnell verbreitet.
Infolgedessen wurde die Psychologie nur als eine angewandte Wissenschaft
oder als Naturwissenschaft betrachtet. Aufsätze der Psychologen und Psychologinnen
über Tunç waren in dieser Periode meistens negativ. Zum Beispiel hat Mümtaz
Turhan 1958 über den Tod Tunçs so geschrieben:
„Obwohl er diese
Wissenschaft (Psychologie, Anm. d. Verf.) in die
Türkei in einer ganz neuen Form gebracht hat, konnte er nicht verhindern,
dass sie sofort alt geworden ist, weil er der schwindelerregenden
Entwicklung im Ausland nicht folgen konnte und der Held, der Verteidiger
der Neuigkeit von Gestern wurde in kürzer Zeit ein Vertreter des Alten.“ 37
Aber
es ging nicht um „die Entwicklung der Psychologie im Ausland“. Was Tunç für
wichtig gehalten hat, war nicht die Quantität der Experimente der
Psychologie, sondern ihre Qualität. Aber die Einflüsse des Positivismus und
Pragmatismus auf die wissenschaftlichen Paradigmen in der Türkei sind mehr
und mehr erstarkt. Besonders in einer Periode, in der die Kemalisten eine
schnelle wirtschaftliche Aufschwungspolitik durchgeführt haben, wurde eine
angewandte Pädagogik, die sich auf die experimentelle Psychologie gestützt
hat, einer metaphysischen und spirituell-theoretischen Psychologie
vorgezogen. Nach dieser Periode hat der Einfluss der USA auf alle Bereiche
des gesellschaftlichen Lebens begonnen. Im Zuge dieses
Kapitalisierungsprozesses konnte die Anschauung Tunçs nicht mehr nützlich oder
befriedigend für die Bedürfnisse des freien Marktes sein, daher war Tunç
der erste und letzte Vertreter einer philosophischen Psychologie an der
Universität.
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