Tschechien
Die "Revolution" hin zu Demokratie und Westeuropa

Sehr schwierig ist zu beurteilen, was eigentlich nach sieben Jahren der Abkehr vom kommunistischen Gesellschafts System, der Rückkehr zum Westen, auch der Rückkehr nach Europa, etwa noch an Lasten übrig blieb. Es wäre unaufrichtig zu verschweigen, daß es sich dabei hand greiflich und zu allererst um wirtschaft liehe Lasten handelt.

Aber auch um politische: Das kommunistische Gesellschafts System hatte jeden Arbeitsfähigen, jeden Rentner, jeden Schüler und jeden Lehrling auf seine Weise erfaßt. Alle betraf die sattsam bekannte Wende; alle männlichen und weiblichen Einwohner über sechs Jahre, wenn auch auf unterschiedliehe Weise, sind seit dem November 1989 von der Veränderung der gesellschaftlichen Zusammenhänge, von der Neugestaltung ihrer Lebensgrundlage betroffen.

Die Art der Betroffenheit ist ohne Zweifel ganz unterschiedlich und löst die gesamte Gesellschaft auf in die Millionenschicksale aller einzelnen Menschen, ob Schüler oder Professor, Fabrikdirektor oder Hilfsarbeiter, ob Mutter oder Vater, ja selbst noch, ob es sich um die berühmte sozialistische Großmutter handelte, die als Babysitter unentbehrlich in der Familie war, oder um den verdienten Altfunktionär und kommunistischen Widerstandskämpfer.

Die Betroffenheit war dementsprechend verschieden. Wenn die alte, die jetzt über wundene kommunistische Gesellschafts Ordnung ausging von alles umfassenden Zielvorstellungen, selbstverständlich von optimistischen, auf den "Sieg des Sozialismus" gerichteten, so war auch die Abkehr von diesen Idealen bedingt durch die internationale Situation; zudem durch Studentendemonstrationen in der Hauptstadt unter einer Posen Sprecherschaft nicht näher definabler Intellektueller, durch ein "Bürgerforum" nach längerer Untergrundarbeit; schließlich durch die Drohung mit einem Generalstreik.

Im Ganzen durch einen mehr oder minder demokratisch legitimierten und auf der Straße artikulierten Bevölkerungswillen, der mit Gewalt drohte - keineswegs also durch Einflüsse aus der Nachbarschaft, weder aus der unmittelbaren deutschen noch aus der fernen westlichen. Der Zer fall der politischen Ordnung geschah viel mehr durch eine innere, "samtene", oder auch "sanfte" Revolution.

Das ist wichtig in Erinnerung zu bringen. Die europäische Revolutionsgeschichte ist mit Blut geschrieben. Die samtene Revolution in Prag wie in Brünn oder Ostrau gipfelte in erfüllten Rücktrittsforderungen. Sie schuf keine Märtyrer, kein Bürger kriegspotential, sie ließ im schlimmsten Fall Ressentiments zurück, aber keine Gräber.

Man kann die Dinge drehen und wenden wie man will: Unter den Lasten der neuen Tschechoslowakei wirkt die Abwendung vom zuvor doch nominell mindestens für Jahrzehnte alles umfassenden, in seiner Zwangshierarchie fein gegliederten und ausgeklügelten sozialistischen Gesellschaftssystem relativ gering. Die Sieger und Besiegten von 1989 vertragen sich zu mindest oberflächlich recht gut.

Es gibt ein wenig mehr als 10% politischen Pro testpotentials seit den Wahlen von 1990 und 1996, in dem auch die unmittelbare konservative kommunistische Erinnerung eine Rolle spielt, aber auch die nicht ohne innere Veränderungen. Das Bürgerforum von 1989, dieser nur lose Zusammen schluß noch ohne das Format einer politisehen Partei, das die Wende von 1989 er möglichte und trug, weil es eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich vorgab, er hielt zwar in der ersten Wahl vom Juli 1990 nur ein Drittel der Stimmen, aber es blieb danach, wenn auch gespalten, doch einflußreicher als vergleichbare Bewegun gen in der DDR, in Ungarn und selbst in Polen.

Dementsprechend ist auch die politische Landschaft in der tschechischen Republik weit stärker geprägt vom Ringen um eine Wiedergewinnung demokratischer, eigentlich bei aller Unklarheit west licher Lebensformen als eben in Ungarn oder Polen, die ehemalige DDR wegen ihrer internationalen Beziehungen zum westlichen deutschen Staats- und Volksteil einmal ausgeschlossen.

Das war auch ein Grund, warum die Lösung "Zurück nach Europa" nirgendwo im ehemaligen Ostblock so glaubhaft klang wie in den böhmischen Ländern, sowohl nach ihrer jahrhundertelangen Geschichte, als auch nach ihrer Vergangenheit in der Ersten Tschechoslowakischen Republik als auch, wirklich nicht zuletzt, nach den noch im merfort dauernden familiären Traditionen im gesellschaftlichen Informations und Selbstergänzungsprozeß. Die böhmische Großmutter war noch immer erfüllt vom Stolz auf die Erste Republik, und den gab sie weiter.

Und dennoch war die Lösung "Zurück nach Europa", so laut sie in den frühen 90iger Jahren erhoben wurde, einfach eine Fehlkalkulation. Schon deshalb, weil man in der Zeit nie rückwärts gehen kann. Die Lösung hätte vielmehr lauten müssen: "Vorwärts nach Europa!" Und sie hätte dabei eine ganze Menge tiefgreifender ideeller und wirtschaftlicher Lernprozesse einschließen müssen. Jenes "Zurück" zählt zu den Fehlern in der neu gewonnenen Westorientierung unseres tschechischen Nachbarn, dessen Folgen heute deutlich zutage treten, wenn sie auch nach sieben Jahren noch nicht irreparabel erscheinen.