Die gesamteuropäische Piratenkönigin

Ein irische Insel im Wandel

Es ist eine Reise an den Rand Europas. Weg vom Festland, über den Kanal, über England und Wales, die irische See und dann noch quer durch Irland bis zu dem Städtchen Westport. Dort öffnet sich eine Bucht, die Clew Bay heißt. Und wo Clew Bay in die offene See übergeht, eigentlich schon draußen im Atlantik, gibt es noch Clare Island. Next station is America. Eine Insel im Rücken einer Insel im Rücken einer Insel jenseits des Kontinents. Der Ort scheint weit weg und ist es auch und ist es doch nicht. Zwanzig Minuten dauert die Überfahrt von Roonagh Pier bei ruhiger See. Manchmal tummeln sich Delphine im Kielwasser der Fähre und wecken Kindheitsträume. Bei der Einfahrt in den Hafen springen die Klischees auf die Wirklichkeit über. Bilder der Kategorie "friedliches Eiland": die vor Anker liegenden Boote wippen genüßlich in den Wellen, am Strand spielen ein paar Kinder Fangen, ein Traktor tuckert die Straße entlang und die Abendsonne wirft ein orangefarbenes Licht auf die verstreuten Cottages und die dahinter gestaffelten Hügel. Nicht nur die Sorge, den Bus zu verpassen, kann wegfallen.

Auf Clare Island wohnen nur 150 Menschen, aber sie haben alles, was man vom guten, alten Irland erwartet: eine Kirche, ein Pub, einen Fußballplatz und eine Menge Gelassenheit. Den Rest müssen sie sich per Schiff vom Festland holen. Das Obst, das Bier, die Lehrerin und einmal in der Woche die Krankenschwester. Ein vielleicht Zehnjähriger chauffiert ein ausgedientes Londoner Taxi über die schmale Uferstraße, und dem Rumpf eines betagten Fischkutters wird frische Farbe spendiert. Doch was wie eine Überdosis Abgeschiedenheit wirkt, verschleiert die andere Hälfte der Wahrheit. Die Insel liegt mitten im vereinten Europa. Gerade in einer solch strukturschwachen, landwirtschaftlich geprägten Region ist der Einfluß der Europäischen Union schon heute deutlich spürbar. Brüssels langer Arm verteilt nicht nur Agrarsubventionen und Zuschüsse für Entwicklungsprojekte, sondern setzt auch Wirtschafts- und Umweltnormen, die unmittelbar die Lebensbedingungen der Einheimischen beeinflussen. Nicht alles ist schlecht und nicht alles ist gut, aber in jedem Fall wird eine irritierende Differenz der Dimensionen sichtbar. Das "europäische Haus" überspannt einen halben Kontinent mit einheitlichen Reglementierungen und bleibt dennoch abstrakt.

Die Burg der Gráinne Ni Mháille hockt auf einer kleinen Anhöhe des Hafens von Clare Island und demonstriert trotzdem unmißverständlich Stärke. Der trutzige Steinwürfel ist in den beiden oberen Etagen von winzigen Lichtscharten durchbrochen. Grace 0'Malley, The Granuaile oder einfach Pirate Queen nannten die herrschenden Engländer die Tochter eines gälischen Clanoberhaupts. Sie war die berühmteste Freibeuterin des 16. Jahrhunderts, was damals durchaus als Ehrentitel galt, denn Räuberei wurde auch als probates Mittel staatlicher Finanzpolitik betrachtet. Grace 0'Malley hatte einen solch respektablen Ruf, daß sie im September 1593 sogar eine Audienz bei ihrer Majestät Queen Elizabeth I. erhielt.

Es war eine denkwürdige Begegnung. Zwei Frauen um die 60, die sich in einer Männerwelt durchgesetzt hatten. Die Irin beklagte sich über die Tyrannei des englischen Gouverneurs Sir Richard Bingham. Ihr Gesicht war zerfurcht von den Stürmen des Atlantiks und der Wut über die erlittenen Ungerechtigkeiten. Sie trug einen schlichten brat, den traditonellen gälischen Wollumhang. Die Königin ruhte in der Macht ihres Throns, war mit einem prächtigen Kleid und kostbaren Juwelen geschmückt und versteckte ihr Alter hinter einer Maske aus Wachs, Puder und Farbe. Trotzdem haben sie sich gut verstanden, und die Regentin klopfte ihrem Statthalter Bingham anschließend auf die Finger.

Nicht nur die Fähigkeit, sich auch unter widrigen Umständen zu behaupten, hat Grace O'Malley hinterlassen. Ihre Burg, ihr Grab in der alten Abtei und die Erzählungen um ihre Person wehen einen Hauch von Augenklappen- und Enterhaken-Romantik über die Insel. Darauf sind die islanders stolz (zumal die Hälfte den Namen O'Malley trägt), und das zeigen sie auch. So heißt die Kneipe The Granuaile und die neue Fähre Pirate Queen. Seit Mai letzten Jahres verbindet sie Clare Island direkt mit Westport. Grace O'Malleys Herz würde höher schlagen bei ihrem Anblick. Man sagt, sie liebte die Seefahrt so sehr, daß sie die Schiffe des Nachts an ihrem Bett festbinden ließ. Nun wird die Erinnerung an sie auch durch den Namen eines gesamteuropäischen Bootes ins 21. Jahrhundert gerettet. Mit der Pirate Queen können bis zu 96 Passagiere Rundfahrten durch die angeblich 365 Inseln von Clew Bay unternehmen. Chris O'Grady, dem das einzige Hotel auf der Insel gehört, konnte den Kauf finanzieren, weil die irische Regierung und die Europäische Union ihm unter die Arme griffen. 550000 der umgerechnet 1,25 Millionen Mark stellten die öffentlichen Haushalte zur Verfügung. Eigentlich sind das unvorstellbare Summen für einen Flecken Erde, wo bis vor 30 Jahren die meisten Menschen von der Hand in den Mund lebten.

Clare Island ist nämlich karg. Nichts, was man mit gutem Gewissen als "Baum" bezeichnen könnte. Nur etwas dürres Gestrüpp und ein Streifen kniehohes Heidekraut im Norden. Die kahlen Buckel von Knockmore und Glen Hill dominieren das Erscheinungsbild. Die Insel mißt knapp acht Kilometer in der Länge und vier in der Breite, aber der Gipfel von Knockmore, den die Einheimischen Big Hill nennen, erhebt sich mehr als 450 Meter über den Meeresspiegel. Die breitschultrige Silhouette signalisiert Sicherheit. Das Meer schützt vor allem, was Beine hat und die robusten Sockel der Berge trotzen der gefräßigen See. Es ist ein Rückzugsort. Er verschafft Distanz. Sein Versprechen heißt Ruhe. Eine irische Teenagerin, die von ihren Eltern auf die Insel verschleppt wurde, sieht das allerdings anders. Sie meint: "Man kann es auch 'tot' nennen" und hat damit nicht ganz unrecht. Schließlich ist die früheste menschliche Spur auf Clare Island ein etwa 5000 Jahre altes Steingrab. Jetzt aber zu den Lebenden.

 

Mary und Oliver O'Malley wohnen mit ihren Kindern Marion, Brian und Eoin in einem modernen, rechtwinkligen Bungalow am Westende der Insel, eine Stunde Fußweg vom Hafen entfernt. Sie haben vier Gästezimmer und bieten bed & breakfast an. Olivers Elternhaus steht in Sichtweite, Mary stammt von der Nachbarinsel Inishturk. Sie ist eine resolute Frau mit kurzen, roten Haaren, und wenn sie etwas nicht leiden kann, dann die Frage, wie man es an einem so entlegenen Platz aushält. Sie hat ihre Familie, Freunde, mehr Arbeit als genug und Kriminalität nur im Fernsehen. Sieht sie von ihrem Küchenfenster aus das Fischerboot ihres Bruders, kann sie ihn anrufen, damit er noch ein bißchen näher herankommt. Oliver nickt seitlich mit dem Kopf und lächelt nachsichtig. Nein, niemals möchte er irgendwo anders leben. Hier ist er aufgewachsen und hat Torf gestochen, Zäune repariert und Schafe in den Pferch neben der Straße getrieben, bevor sie geschoren wurden. Er braucht die Luft, den Boden und diese Bühne vor seiner Haustür, auf der das Meer, der Wind und der Himmel vor dem Hintergrund der Berge von Connemara jeden Tag ein neues Stück inszenieren.

Mit seinem alten Van ist er auf dem Weg zum Fußballplatz. Normalerweise kutschiert er darin die Kinder zur Schule und die Gäste ins Pub. Wie oft er die Strecke schon gefahren ist? "Oh, wenn ich jedesmal ein Pfund dafür bekommen hätte, wäre ich jetzt bestimmt Millionär." Am Straßenrand steht ein blauer Transporter, dessen Auspuff aus einem Loch in der Fronthaube ragt und bei dem das bißchen Blech zwischen dem Rost mit Seilen zusammengehalten wird. "Fährt der noch?" "Ja, natürlich." Auf der Insel gibt es keine Polizei und schon gar keinen TÜV. Oliver hat noch ein paar Freunde und seinen Neffen Michael abgeholt. Gaelic Football, eine rauhe Mischung zwischen Fußball und Rugby, ist angesagt. Am nächsten Sonntag spielt die County-Mannschaft zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder im All-Ireland-Final um die höchste Trophäe dieses Sports. Deshalb hängen in ganz Mayo grün-rote Fahnen an den Häusern, und darum hat es auch Zeitungsleute aus Dublin auf Clare Island verschlagen. Im Vorfeld des großen Ereignisses wollen sie über das hiesige All-Island-Final berichten.

Die Idee stammt von Donal O'Shea, der eigentlich die Cliara Development Company leitet, eine vom Staat geförderte Gesellschaft, um die Infrastruktur der Insel und die Lebensverhältnisse ihrer Bewohner zu verbessern. Zum Wohle der Gemeinschaft opfert er sich als Torwart. Selbst der Pfarrer läßt sich nicht lumpen und hält für eine Reihe stattlicher Pokale die Knochen hin. In freudiger Erwartung haben sich die Verwandten der Mitspieler am Spielfeldrand postiert. Margaret paßt nicht so recht dazu. Blonde Locken und eine Hightech-Wetterjacke. Die Australierin ist auf der obligatorischen Weltreise. Sie wollte sich die Insel nur einmal ansehen, aber dann fühlte sie sich so wohl, daß aus einem Tag vier wurden. Morgen will sie außerdem noch die Schiffsverladung einer Schafherde miterleben. Während der Sommermonate kommen oft doppelt so viele Besucher, wie es Einwohner gibt. Die Mehrzahl sind Tagesgäste, die den kurzen Weg vom Hafen zum Hotel marschieren, dort einen Tee trinken oder fish & chips essen, die schöne Aussicht genießen, sich gegenseitig versichern, daß sie trotzdem niemals hier leben möchten und danach zufrieden zum Festland zurückkehren.

Donal O'Shea sähe es lieber, wenn statt der daytrippers mehr Übernachtungsgäste kämen. Im Frühjahr werden sie einen Campingplatz bauen. Der Development Officer erarbeitet zusammen mit den Einheimischen Projekte, um den Lebensstandard dem des Festlands anzugleichen. Das soziale Leben der Bewohner spielt dabei eine wichtige Rolle. Gleich neben dem Campingplatz wird ein Gemeinschaftszentrum entstehen. Im letzten September fand ein Singles Weekend statt. Heiratswillige kamen von weit her und im Lebensmittelladen drehten sich alle Gespräche nur um das eine. 200 Leute füllten am Samstagabend das Festzelt und vergnügten sich bei Musik, Tanz und neckischen Spielchen. Donal O'Shea meint, es war ein voller Erfolg. Dreizehn bis vierzehn Händchen haltende Paare sollen am nächsten Morgen gesehen worden sein. Ein anderes drängendes Anliegen ist die Verbesserung des Zugangs zur Insel. Mary O'Malley mußte die letzten Wochen vor der Geburt ihres Jüngsten im Krankenhaus von Castlebar verbringen, weil das Risiko, daß im Notfall Hilfe nicht schnell genug vor Ort sein kann, zu groß war. Mittlerweile ist der Bau eines Hubschrauberlandeplatzes beschlossene Sache und für den Ausbau der Anlegestelle wurde eine 75000 Mark teure Planungsstudie in Auftrag gegeben.

Die irische Republik hat sich vom unterentwickelten Agrarstaat zur prosperierenden Exportnation gemausert. Die EU-Zugehörigkeit gewährte Irland den freien Zugang zu den europäischen Märkten, Brüssel steckte seit 1973 über 50 Milliarden Mark in Strukturmaßnahmen, die Regierung schuf steuerliche Anreize für ausländische Investoren und die Gewerkschaften akzeptierten moderate Löhne. Man setzte auf High-Tech und Dienstleistungen. Der Anteil von Pharmazie-, Elektronik- und Softwareprodukten an den gesamten Ausfuhren beträgt mittlerweile 50%. Das Bruttosozialprodukt wird 1996 doppelt so stark wachsen wie der EU-Durchschnitt. Auch beim Euro will Irland von Anfang an dabei sein. Und als einer der wenigen Mitgliedsstaaten wird es die Maastricht-Kriterien wahrscheinlich sogar erfüllen. Leider hat die ganze Erfolgsstory einen klitzekleinen Haken: die Arbeitslosenquote liegt noch immer bei über 11%. Der alte irische Dämon - no job, no money - ist trotz aller Wachstumseuphorie nicht besiegt.

Im Süden von Clare Island wölbt sich der Grund in einem gleichmäßigen, wellenförmigen Muster. Von den Hügeln herab sieht es so aus, als ob jemand den Boden in Streifen geschnitten hätte. Der Jemand heißt Hunger und die Streifen sind Narben. Früher pflügten die Bauern die dünne Humusschicht zu schrittbreiten Beeten hoch, damit die Kartoffeln, die dort wachsen sollten, sich tief genug in die Erde eingraben konnten. Jetzt nennen sie diese Felder lazy beds, und Schafe, Rinder und Esel zertrampeln allmählich das Profil. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten in Mayo 90% der Bevölkerung ausschließlich von Kartoffeln. Ein erwachsener Mann vertilgte täglich mehr als sechs Kilo der vitaminreichen Knollen. Doch im Herbst 1845 begann eine Tragödie, die aus Irland ein anderes Land machte. Die Kartoffelfäule vernichtete in diesem und den folgenden Jahren die gesamte Ernte. Bis 1851 verlor Irland durch Hunger, Krankheiten und Emigration 2,5 Millionen Menschen. The Great Famine, die große Hungersnot, verankerte eine Gewißheit im kollektiven Gedächtnis der Iren: wenn du gut leben willst, mußt du woanders leben. Deshalb gibt es kaum eine irische Familie, die keine Verwandten in Kanada, den USA oder Australien besitzt. Irland ist das einzige Land Europas, in dem die aktuelle Einwohnerzahl unter der von vor 150 Jahren liegt.

Damals hatte auch Clare Island 1600 Bewohner. Heutzutage bleibt den zwölfjährigen islanders überhaupt keine andere Wahl als nach der Grundschule auf das Festland zu gehen. In den Unterrichtsräumen, den Schlafsälen und auf dem Hof der Mittelschule in Louisburgh lernen sie, worauf es ankommt im Leben. Nur am Wochenende kehren die Jungen und Mädchen wieder auf die Insel zurück. Marion, Brian und Eoin O'Malley haben den Umzug nach Louisburgh noch vor sich. Gerade im Hinblick auf die Kinder unterstützt ihre Mutter Mary alle Vorhaben, die die Lebensqualität verbessern und Verdienstmöglichkeiten schaffen. Sie hält den Wandel für notwendig: "Es macht die Insel zu einem Ort, an dem man bleiben kann." Wenn die Heranwachsenden zu Hause keine Perspektive sehen, verschwinden sie dorthin, wo es Hamburger, Clubs und einen Bus nach Dublin gibt. "Sobald die Bevölkerungzahl unter einen gewissen Wert sinkt, stirbt eine Insel. Dann lohnt sich kein Postamt, keine öffentliche Stromversorgung und kein Straßenbau mehr", sagt Donal O'Shea.

Deshalb beschäftigt ihn die Suche nach zukünftigen Erwerbsquellen. Neben der Produktion von kunsthandwerklichen Artikeln kann er sich auch Internet-Arbeitsplätze vorstellen. "Die Jugendlichen lernen in der Schule schon viel mit Computern. Es wäre kein so großer Schritt für sie." Damit würden auch die Transportprobleme wegfallen. "Im Internet spielt es keine Rolle, wo du tatsächlich sitzt. Computerprogramme müssen nicht erst aufs Schiff verladen werden." Durch die elektronischen Medien verlieren geographische Entfernungen an Bedeutung. Mit einer Satellitenschüssel kann man auf Clare Island dieselben Programme empfangen wie in Berlin, Mailand oder Kopenhagen. Auch Marion und Brian rennen ganz aufgeregt ins Wohnzimmer, wenn "Baywatch" beginnt. In ganz Europa wächst das gemeinsame Wissen, die Normen und Ansprüche gleichen sich an. Die kids verstehen sich auf MTV, das World Wide Web, die richtigen Turnschuhe und amerikanische Basketballstars. Die Beschaulichkeit der Gezeiten hat nur noch begrenzten Reiz.

In den Wintermonaten gehört die Insel in der Clew Bay dem Wetter und der See. Die Wellen zerschlagen sich an den Felsen, und die meterhoch sprühende Gischt legt einen salzigen Tau über die Felder. Manchmal gibt es tagelang keine Verbindung zum Festland. Dann nagt die Erosion am Gipfel des Big Hill und die Trübsinnigkeit an den Gemütern der Menschen. Die Klippen am zerklüfteten, atlantischen Rücken werden noch schwärzer, und selbst das Fell der allgegenwärtigen Schafe wirkt verwittert. Vor Beetle Head, dort wo die Insel sich gerade noch ein paar Vogelfelsen bewahrt hat, bevor sie von der See geschluckt wird, wo die Grasnarbe schon abgetragen ist und die Steine entweder gespalten oder rundgeschliffen sind, wo losgerissene Bojen, Balken gekenterter Schiffe und ordinärer Plastikmüll angetrieben werden, dort hebt eine einzelne Robbe vorsichtig ihren Kopf aus dem Wasser. Sie bemerkt den Beobachter, schaut herüber, läßt ihn sich annähern, taucht unter und etwas weiter weg wieder auf, scheint still zu stehen und abzuwarten. Dann verschwindet sie immer länger, so als wollte sie sagen: "Das ist mein Platz und ich komme erst wieder, wenn du weg bist."

"Die Fischer mögen die Robben nicht", meint Oliver, "Sie fressen zuviel Fisch." Auf Clare Island selbst existiert die Fischerei eigentlich nicht mehr. Nördlich der Insel schwimmen die Käfige einer Lachsfarm im Wasser, aber ansonsten lohnt sich die Ausfahrt kaum noch. Die kleinen Trawler sind gegenüber den schwimmenden Fischfabriken der Spanier nicht konkurrenzfähig. Als 1588 ein Schiff der zerrütteten spanischen Armada nach der Niederlage gegen die Engländer über Schottland und Irland in die südliche Heimat zurücksegeln wollte, aber dann vor Clare Island strandete, wurden die Iberen von Grace O'Malleys Soldaten ausgeplündert und erschlagen. Heute sind die Fangzonen vor der irischen Küste EU-Gewässer, und die Spanier haben das Recht, dort ihre Netze auszuwerfen.

Die Schafherden sind die Lebensgrundlage vieler Familien auf Clare Island. 30 irische Pfund zahlt der Agrarfonds der EU für jedes weibliche Schaf. Auf dem freien Markt liegt der Preis zur Zeit bei etwa 20 Pfund. Mitte der fünfziger Jahre gab es nur etwa 2300 Schafe auf der Insel, heute sind es aufgrund der Subventionen mehr als doppelt so viel. Das schafft Probleme. Ciara Cullen denkt, daß die Insel überweidet ist. Sie befürchtet irreparable Schäden für die Vegetation. "Die Schafe fressen das Gras so kurz, daß der Boden vollkommen ungeschützt ist. In Connemara sind ganze Landschaften wahrscheinlich auf Dauer zerstört." Mit zwanzig Jahren traf die Amerikanerin auf einer Irlandreise Michael Joe O'Malley, den Dichter, Philosophen, Intellektuellen von Clare Island. Sie entschloß sich mit ihm und auf der Insel zu leben. Als er 1989 starb, erbte sie sein Haus und sein Land. Zusammen mit dem Psychologen Peter Gill hat sie das Centre for Island Studies gegründet. Sie interessieren sich für die Geschichte der Inseln vor der irischen Küste, die Lebensformen ihrer Bewohner und ihre gegenwärtige Situation. Ciara Cullen weiß um den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie. "Normalerweise kann man an einem Ort wie Clare Island nur so viel erwirtschaften, um gerade so durchzukommen." Alles darüber hinaus hat seinen Preis. Entweder wächst die Abhängigkeit von öffentlichen Stellen oder der eigentümliche Charakter der Insel und die Umwelt nehmen Schaden.

Der Bach entspringt an einem sanften, steilen Hang des Big Hill. Eine grüne Wand, hoch und weit. Oben traversieren Schafe. An einigen Stellen ist Erdreich abgerutscht. Im Flacheren teilt sich der Bach und tränkt ein Moorbecken. Drainagen wurden in den schwarzbraunen Grund gestanzt. Der Wind trocknet die brikettförmigen Torfstücke, die hinter einer Reihe zusammengetragener Feldsteine aufgeschichtet sind. Die Rinnsale vereinigen sich wieder und der Bach schabt an seinem Bett durch die Weiden. Auf den freigelegten Steinen liegen vereinzelt Möwenfedern. Die Vögel erlauben sich derweil einen Spaß mit den Aufwinden in den Klippen. Am Ende verschwindet das Wasser in den Spalten der schraffierten Felsblöcke. Eine Woge Salzwasser spült darüber, zerplatzt zu Schaum und kriecht langsam zurück ins Meer.

Es ist vorgesehen, die Insel als besonderes Schutzgebiet, als Special Area of Conservation (SAC) auszuweisen. Die von der Europäischen Union ausgehenden Richtlinien verlangen, daß die Landwirtschaft und Bauvorhaben in solchen Gegenden eingeschränkt werden. Die islanders müßten das Moorland renaturieren. Außerdem sollen sie die Zahl der Schafe reduzieren und Weideland für die Anpflanzung von Schutzwäldern bereitstellen. "Diese Pläne sorgen für viel Unruhe auf der Insel", sagt Donal O'Shea. "Das würde bedeuten, die Leute können ihren eigenen Boden nicht mehr nutzen." Die Befürchtung geht um, daß wenn die Insel zum Naturschutzgebiet erklärt wird, die ökonomischen Fortschritte stoppen. Ciara Cullen meint, die meisten hätten sich nicht klar gemacht, daß mit den Zuwendungen von außen auch Verpflichtungen einhergehen. Sie befürwortet die Öffnung der Insel, aber sieht daneben die Gefahr einer überstürzten Entwicklung. Die Schwierigkeit des Experiments besteht darin, etwas Neues zu schaffen, ohne das Alte zu verschütten. Die Einheimischen wollen ihren Ort bewahren, aber sie möchten auch an dem Aufschwung teilhaben, der immer wieder in den Nachrichten bilanziert wird.

Entlang der Steilküste an der Nordwestseite verläuft ein kleiner Graben und direkt daneben ein niedriger Wall. Das Gras ebnet beides ein. Aber die Vorstellung, dies könnte ein Patrouillenweg von Grace O'Malleys Leuten sein, gibt den Schritten etwas Spektakuläres. Am nördlichsten Punkt von Clare Island, unmittelbar an den Klippen, stößt man auf das alte Lighthouse. Die Mauern um das Gelände und die gedrungenen Gebäude sind so robust, als müßten sie den Fels darunter vor dem Wegbrechen ins Meer bewahren. Vor einigen Jahren kauften Monica und Robert Timmermans den damals halb verfallenen Komplex. Mit einer Beihilfe der EU restaurierte das belgische Ehepaar den ehemaligen Leuchtturm. Jetzt dient das Haus als komfortabler Schlupfwinkel für Gäste, die etwas Weltflucht brauchen. In dem Prospekt, in dem sie das Lighthouse vorstellen, steht ganz oben auf der Liste der möglichen Aktivitäten: Dolce farniente. Die mediterrane Lebensart des süßen Nichtstuns paßt zum easy going der Inselbewohner. Und doch auch nicht.

 

 


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© 1999 Peter Klein