Der Schatten schwarzer Schafe Beobachtungen zum Alltag einer Justizvollzugsanstalt
Die Schleuse ist vielleicht zwei Quadratmeter groß. Nichts für klaustrophobische Gemüter. Stahl, Beton, Stahl, Panzerglas. Der Beamte hinter der Panzerglasscheibe verlangt den Personalausweis. Er behält ihn für die Dauer des Besuches ein. Drinnen ist man ohne bürgerliche Identität. Dann geht die Tür auf. Keine Klinke, kein Schlüsselloch. Eine massive, rote Metallwand, die sich in eine Betonwand schiebt. Sie öffnet sich ganz langsam, die Zentimeter lassen sich fast mitzählen. Alle, die in die Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt hinein oder heraus wollen, müssen hier durch. Bedienstete auf dem Weg zur Arbeit, Ehefrauen bei Besuchen, Gefangene bei der Entlassung. An allen anderen Stellen ist die Festung dicht. Schwalmstadt ist ein Gefängnis der höchsten Sicherheitsstufe. Hier sitzen die "schweren Jungs": rechtskräftig verurteilte Betrüger, Drogenhändler, Mörder, Terroristen und Sexualstraftäter. Viele ihrer Geschichten geisterten als Schauermärchen durch die Boulevardpresse. "Möchten Sie vielleicht einen Orangensaft?" Ausgesprochen zuvorkommend fragt der große, breitschultrige Mann mit dunklem Schnauzer, der ein goldenes Kreuz im Ohr und eines an der dicken Goldkette trägt. Er arbeitet in der Lehrküche, wo fünfzehn Häftlinge eine Kochausbildung absolvieren und ist heute zum Service eingeteilt. Eigentlich paßt er besser ans Steuer eines breitbereiften Sportwagens als hinter einen Kochtopf, aber man kann nicht sagen, daß er seine Aufgabe lustlos erfüllt. Auf den Tellern sind die Servietten fein säuberlich zu Sechsecken gefaltet, und am Nebentisch hat er aus gelben und pinkfarbenen ein Karomuster gelegt und darauf die Gläser sorgfältig im Kreis angeordnet. "Wir machen alles mit Herz, ob es ein Banküberfall oder das Kochen ist", sagt er mit einem Augenzwinkern. Wenn der stellvertretende Vollzugsdienstleiter Robert Weppler über die Gefangenen spricht, nennt er sie manchmal "Spitzbuben". Das klingt zunächst verharmlosend, aber sein Job ist es nun mal, mit diesen Menschen zurechtzukommen, die Aggressionen gering zu halten und für einen korrekten Umgang mit den Inhaftierten zu sorgen. Sie ständig als "Verbrecher" zu betrachten, ist dabei wenig hilfreich. Weppler arbeitet seit 33 Jahren in Schwalmstadt. "In dieser Zeit habe ich wahrscheinlich mehr mit Mördern und Vergewaltigern gesprochen als mit meiner Frau." Er setzt auf den Dialog mit den Gefangenen, bietet ihnen an, bei Problemen zu ihm zu kommen. Nach seiner Erfahrung kann dadurch auch bei schwierigen Leuten Gewaltpotential abgebaut werden. Für ihn zählt weniger, was vorher war, sondern wie sich der Gefangene in der Haft verhält. Weppler ist ein besonnener und gründlicher Mensch. Auf seinem Schreibtisch sind die Anliegen akkurat sortiert, und in seinem Taschenkalender trägt er die von Hand geschriebenen Wartelisten mit Verlegungswünschen der Gefangenen bei sich. So kann er sofort Auskunft geben, wenn er bei seinen Rundgängen durch die Stationen angesprochen wird. "Wenn ich etwas sage, muß es stimmen. Sonst verliere ich meine Glaubwürdigkeit." Die Glaubwürdigkeit ist das einzige Kapital, das sowohl von den Gefangenen als auch den Bediensteten anerkannt wird. Im Gefängnis, wo Gerüchte zum täglich Brot gehören und wo das Mißtrauen so schwer in der Luft liegt, wie die Betroffenheit in den Nachmittagstalkshows, kosten leere Versprechen den Ruf. Und auf den Ruf kommt es an. Denn viele haben nichts anderes mehr zu verlieren. In letzter Zeit ist die Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt in die Schlagzeilen geraten. Ein ehemaliger Vollzugsbeamter hat zwischen 1993 und 1996 in mindestens 13 Fällen Haschisch, Heroin und Kokain in das Gefängnis geschleust. Anfang Februar wurde er aufgrund seines Geständnisses zu fünf Jahren Haft verurteilt. Durch diese Vorgänge stehen die Anstaltsleitung und das hessische Justizministerium unter Druck. Nachdem im Januar in der JVA Kassel auch ein Gefangener von einem Mithäftling erstochen wurde, wirft die Opposition dem grünen Justizminister Rupert von Plottnitz Sicherheitsmängel im Strafvollzug vor. Doch verstärkte Zellen- und Mitarbeiterkontrollen werden die Wiederholung solcher Zwischenfälle nicht verhindern können. Der Knast hat seine eigenen Gesetze. Nicht alle werden vom Staat gemacht. Zwar ist kein anderer Lebensraum in der Gesellschaft so durchreglementiert, aber nirgendwo sonst gibt es auch eine größere Bereitschaft, diese Regeln zu umgehen. In der engen Welt hinter Mauern, Gittern und Stacheldraht geraten das Justizsystem und kriminelle Energien 24 Stunden am Tag aneinander. Ausgetragen wird dieser Konflikt von Menschen, deren Voraussetzungen unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Männer und Frauen in den grünen Uniformen, die Sozialarbeiter, Psychologen und Lehrbeauftragten verdienen hier ihren Lebensunterhalt. Den Häftlingen wird die Freiheit entzogen, der Tagesablauf diktiert. Das disponiert sie nicht gerade zur Freundlichkeit. Aber irgendwie muß es gehen. Irgendwie. Der allgemeine Vollzugsdienst ist eine aufreibende Angelegenheit. Nacht- und Wochenendschichten, durchschnittliche Bezahlung, geringe Aufstiegsmöglichkeiten, Personalmangel, viel Bürokratiekram und ein tristes Arbeitsumfeld. Ein "Grüner" muß immer darauf vorbereitet sein, in eine Prügelei zwischen Gefangenen einzugreifen und jemanden, der gerade seine Zelle zertrümmert, notfalls an Händen und Füßen in den Sicherungsraum zu schleppen. Kaum ein Beamter, der noch nicht beschimpft oder bedroht wurde. "Manchmal, wenn irgendwas passiert ist, kommst du nach Hause und kannst es nicht wegschieben. Was da durch deinen Kopf geht, kann sich keiner vorstellen," sagt ein Bediensteter. Er sitzt mit drei Kollegen in einem Dienstzimmer, das die Gemütlichkeit einer Umkleidekabine hat, und in seiner Miene spiegelt sich noch die Bitterkeit der Erfahrung, an die er gerade dachte. Doch im Alltag geht es normalerweise ruhig zu. Im zweiten Stock des A-Flügels unterhalten sich zwei Vollzugsbeamte, geben den Gefangenen Post und Formulare. Die Häftlinge schlurfen über die Gänge, ein paar stehen am Fenster zusammen, andere hocken in ihren Zellen und schauen Fernsehen, wieder andere lesen oder lernen. Überall wird geraucht. Die Justizvollzugsanstalt in Schwalmstadt befindet sich im ehemaligen Jagdschloß des Landgrafen von Hessen, das im 16.Jahrhundert zum Zentrum einer Wasserfestung ausgebaut wurde. Wo man schwer reinkommt, kommt man auch schwer raus, dachten später die Preußen und wandelten das Gebäude 1866 in ein Zuchthaus um. 1987 wurde ein Erweiterungsbau mit 103 Einzel- und sechs Gemeinschaftszellen in Betrieb genommen, so daß momentan rund 300 Haftplätze zur Verfügung stehen. Die Dächer sind mit Elektrodrähten und mehreren Rollen Natodraht gesichert. Die gesamte Anlage wird mit Videokameras und Bewegungsmeldern überwacht. Auf den Türmen sitzen schußbereite Vollzugsbedienstete, und an allen Außentoren sind zusätzlich Panzersperren installiert. Ein Vogel, der über die Anstalt fliegt, ist ein merkwürdiges Ereignis. Der A-Flügel des Altbaus ist die sogenannte Förderstation, auf der alle Gefangenenen untergebracht sind, die an einer Ausbildungsmaßnahme teilnehmen. Neben einem Haupt- und Realschulkurs bietet die Anstalt auch Vorbereitungskurse auf die Gesellenprüfung als Metallbauer, Karosserie- und Fahrzeugbauer, Zimmerer und Koch an. Insgesamt stehen ca. 80 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Die Gefangenen auf der Förderstation genießen bestimmte Privilegien. Sie sind zumeist in Einzelzellen untergebracht, deren Türen von sechs bis 21.30 Uhr geöffnet bleiben, und sie können sich den ganzen Tag auf vier Stockwerken frei bewegen. Während Unbeschäftigte monatlich ein Taschengeld von etwa 80 DM erhalten, bekommen Schüler wie die meisten in den Arbeitsbetrieben tätigen Gefangenen zwischen 220 und 245 DM. Die Plätze auf dieser Station sind natürlich begehrt. Für die Kochmaßnahme zum Beispiel gibt es in der Regel 70 bis 100% mehr Bewerber als Ausbildungsmöglichkeiten. Schwalmstadt gilt als eine liberale Vollzugsanstalt mit guten Haftbedingungen. Zwei Gefangene, die gerade vom Transport kommen, stehen vor einem Tor und warten darauf, daß man sie in die Kammer bringt, wo sie ihre Privatkleidung abgeben und in die blauen Anstaltsklamotten wechseln. Einer von ihnen kennt Schwalmstadt bereits, und bei einer Zigarette unterhalten sie sich über verschiedene Knäste. Der Neuzugang war schon in Gießen und Butzbach. Der andere winkt ab: "Kannste nicht vergleichen. Hier iss besser. Sport, Besuch, Ausbildung, alles. Kannste mit nix vergleichen. Iss vielleicht eine der besten Anstalten in ganz Deutschland." Ein Ostdeutscher, der in der Schlosserei Löcher in eine Metallplatte bohrt, meint: "Ich war vorher in Torgau. Für mich ist das hier wie Urlaub." Aber eigentlich darf man so etwas nicht sagen. Als Gefangener könnte man sich bei den Mithäftlingen den Ruf eines Arschkriechers einhandeln. Wenn anderseits solches Lob von der "falschen" Seite nach draußen gelangt, drohen gleich die Stammtische loszupoltern und "Hotelvollzug" zu schimpfen. Der Anstaltsleiter Dr. Guido Neu muß sich mit beiden Seiten auseinandersetzen. Der für sein Fitneßstudio teuer bezahlende Otto Normalverbraucher versteht nicht, warum es im Knast einen gut ausgestatteten Kraftraum und ein breitgefächertes Sportangebot gibt. Und der Knacki kann nicht akzeptieren, daß er sich keinen Computer in die Zelle stellen darf. "Die einen beklagen, daß es den Strafttätern in unseren Gefängnissen viel zu gut geht, und die anderen kritisieren sie als bloße Verwahranstalten." Im Sommer berichten die Medien vorsichtig sympathisierend über die Wasser-und-Brot-Lager in den Vereinigten Staaten, und kurz vor Weihnachten werden die armen, einsamen Gefangenen zu ihren Gefühlen befragt. Der dreiundfünfzigjährige Jurist würde sich ein nüchterneres Bild vom Strafvollzug in der Öffentlichkeit wünschen, damit auch dessen besondere Problematik deutlich wird. "Hier in Schwalmstadt verbüßen fast alle Gefangenen mehrjährige Haftstrafen. Fünf, zehn oder fünfzehn Jahre sind eine immens lange Zeit. Die Leute müssen die Möglichkeit haben, diese Zeit sinnvoll zu nutzen. Darum gibt es die Ausbildungen und den Sport." Der Gesetzgeber hat den Vollzugsanstalten einen pädagogischen Auftrag erteilt. "Ziel des Strafvollzuges ist es, den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen" (§ 2 Strafvollzugsgesetz). Neben der Arbeit hält Neu bei der Resozialisierung die Besuchsregelung für besonders wichtig. "Die Gefangenen sollten den Kontakt zu ihren Familien aufrecht erhalten können, damit die Integration in der Welt "draußen" nach der Entlassung leichter fällt." Die Besuchszeiten werden deshalb recht großzügig gehandhabt, bei der Einrichtung der Besuchsräume hat man versucht, durch Bilder und Pflanzen etwas Wohnlichkeit zu schaffen, und Ehepartner haben in einem besonderen Zimmer mit Teeküche, Dusche und ausklappbarem Sofa die Gelegenheit, ihr Eheleben auch zu vollziehen. Kommt man den Bedürfnissen der Gefangenen in gewissen Punkten entgegen, verbessert das außerdem die Atmosphäre innerhalb der Anstalt. Neu legt Wert auf ein "vernünftiges Klima", zum Beispiel daß sich man sich gegenseitig grüßt. Respekt erleichtert den Umgang. "Es gibt Bedienstete und Gefangene, die seit zehn oder mehr Jahren beinahe täglich miteinander zu tun haben. Wenn man so will, ist es eine Art Lebensgemeinschaft. Man wird zusammen alt." In der Arbeitstherapie sind diejenigen Gefangenen, die langsam wieder an eine geregelte Tätigkeit herangeführt werden sollen. Sie stellen Holzeisenbahnen und Weihnachtskrippen her und die Aschenbecher aus Ton, die überall in der Anstalt die Tische schmücken. Zwei Gefangene schleichen herum, als würden sie Slalom laufen um jeden Handgriff, der zu tun ist. Der Leiter der Abteilung, Wilfried Schicke beäugt sie kritisch und geht dann weiter. Er holt einen Ordner mit Fotos und Zeitungsausschnitten. Die Bilder zeigen in der Arbeitstherapie entstandene Skulpturen und einen älteren, bereits graumelierten Herrn, der neben dem Schreibtisch seiner schmalen Zelle sitzt und ein bißchen gezwungen in die Kamera schaut. Die Zeitungsberichte schreiben, daß Manfred Schindler* in der Haft zum Künstler wurde und daß er in den siebziger Jahren als "Al Capone aus der Pfalz" zweifelhaften Ruhm erlangte. Bei einem Einbruch in einer Bank wurde er 1980 von der Polizei überrascht. In dem anschließenden Schußwechsel verletzte er einen Polizisten schwer und erschoß einen anderen. "Am Anfang, als er hierherkam, war er total am Boden. Es war nichts mit ihm anzufangen. Wir haben jeden Morgen geredet. Dann hat er begonnen, mit Ton zu arbeiten, und seitdem geht es aufwärts," erzählt Schicke. Schindler schuf düstere Skulpturen, Sensenmänner und von der Last des Kreuzes zu Boden gedrückte Gestalten. Die Zeitungen nannten das Aufarbeitung der Schuld. Der Mann, der nun knapp die Hälfte seines Lebens hinter Gittern sitzt, brachte es zu mehreren Ausstellungen außerhalb des Gefängnisses. Er hat sich ein gewisses Renommee verschafft. Aber mit einer Sache kann er sich nicht abfinden: " Ich bin doch kein Mörder. Der Einbruch in die Bank, ja, das war meine Schuld. Aber ich hab nicht gezielt geschossen. Daß mir in dem Moment, in dem ich abgedrückt hab, zwei Schüsse die Beine zerschmettert haben und ich zusammengesackt bin, steht in keiner Zeitung." Es gibt eigentlich keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Manfred Schindler macht den Eindruck eines aufrichtigen Menschen. Trotzdem bleibt eine gewisse Skepsis. Kann man einem Häftling trauen, der versucht, seinen Kopf aus der moralische Schlinge zu ziehen? Weppler hat gesagt, er könnte sofort zehn Gefangene nennen, die er für absolut zuverlässig hält. Andererseits glauben mindestens 50% der Häftlinge, daß sie unschuldig im Knast sitzen. Über einen bestimmten Gefangenen heißt es: "Wenn der "Guten Tag" sagt, mußt du erst mal durchs Fenster schauen, ob es überhaupt hell ist." Wem kann man glauben, wer macht einem etwas vor? Wer lügt wie gedruckt, und wen trügt die Erinnnerung? Das Gefängnis ist trotz Fernsehen und Radio eine isolierte Welt, in der jeder mit seiner Geschichte allein ist. Er kann seine Tat überdenken, sich nach seinen Fehlern oder seiner Schuld fragen, er kann versuchen einen Beruf zu lernen und neu anzufangen. Oder er kann sich zurechtspinnen, was er für die Wahrheit hält, Belastendes verdrängen bis er wieder mit sich selbst im Reinen ist und von einer Zukunft träumen, die fern aller Möglichkeiten liegt. Oder er kann sich alles am Arsch vorbeigehen lassen. Die Persönlichkeiten der Gefangenen sind so unterschiedlich wie ihre Straftaten. Es gibt den depressiven Familienvater, der seine Frau und die Kinder umgebracht hat, weil sie ihn verlassen wollten und dessen anschließender Selbstmord mißlungen ist. Und es gibt den skrupellosen Vergewaltiger, der mit einem Kumpanen eine Frau über mehrere Tage eingeschlossen und mißhandelt hat und der keinen Funken Reue zeigt. Oder es gibt den armseligen, kolumbianischen Analphabeten, der für ein bißchen Geld kiloweise Kokain nach Deutschland schmuggeln sollte. Und es gibt den politisch motivierten Flugzeugentführer, der kaltblütig einen Passagier exekutierte. Den Bediensteten fällt es nicht immer leicht, keine Unterschiede zu machen zwischen den Gefangenen. Sie lernen ihre Sonntags- und Montagsgesichter kennen, ihre Fähigkeiten, Macken und Probleme. Und manchmal läßt sich Sympathie nicht vermeiden. Erkan Gürel* ist eine Autorität in der Anstalt. Er kann es sich leisten, dem Lehrer im Realschulunterricht Tee anzubieten. Der Türke mit der Figur eines Schwergewichtsboxers sitzt seit zehn Jahren. Und je länger jemand hinter Gittern ist, desto höher steht er in der Hierarchie der Gefangenen. Pfeift Gürel ein Fußballspiel, dann werden die Entscheidungen auch ohne lange Diskussionen akzeptiert. Seinem Wort vertrauen Mithäftlinge und Bedienstete gleichermaßen. Dadurch konnte er zum Beispiel als Vermittler auftreten, als 1996 durch die Anschläge der PKK der Kurdenkonflikt nach Deutschland und damit auch ins Gefängnis überzugreifen drohte. Seine Freundlichkeit wirkt nicht aufgesetzt oder kalkuliert. Wenn er fragt, wie es geht, scheint ihn die Antwort wirklich zu interessieren. Er ist wie der nette Türke von nebenan, dem man während der Urlaubszeit die Schlüssel zum Blumengießen gibt. Gürel hat in der Haft geheiratet und wurde inzwischen sogar zum stolzen Vater. Ab und an kann er seine Familie unter der Aufsicht eines Vollzugsbeamten draußen besuchen. Ein Bediensteter, der diese Aufgabe hatte, zählt die Gastfreundschaft, mit der er aufgenommen wurde, zu den positiven Erfahrungen seiner Arbeit im Gefängnis. "Mit einer Zigarette, die man angeboten bekommt, fängt es an", beschreibt Robert Weppler die Gefahren eines zu vertraulichen Verhältnisses zu den Gefangenen, "dann fragt er, wie es der Familie geht, zu Weihnachten bringt er ein paar Pralinen, und irgendwann bittet er den Bediensteten, einen Brief mit nach draußen zu nehmen. Es sei dringend, die Frau komme am Wochenende und sie brauche vorher noch ein paar Unterlagen. Wenn der Brief erst durch die Zensur müsse, komme er nicht mehr rechtzeitig an. Die Sache kann harmlos sein. Aber sobald sich der Bedienstete darauf eingelassen hat, ist er erpressbar." Alle Beteiligten wissen, daß es im Knast fast alles gibt, was man auch jenseits der Mauern kaufen kann: Alkohol, Drogen oder Handies. Da Besucher normalerweise mit einem Metalldetektor und durch Leibesvisitation durchsucht werden und ihre Taschen entweder öffnen oder an der Pforte lassen müssen, scheint es für sie unmöglich, zum Beispiel eine Flasche Schnaps in die Anstalt zu schmuggeln. Trotzdem wurden schon welche in Zellen gefunden. Deshalb besteht der Verdacht, daß manchmal Bedienstete daran beteiligt sind, verbotene Waren einzuschleusen. "Daß es auch unter Vollzugsbeamten schwarze Schafe gibt, ist bedauerlich", meint der Anstaltsleiter Dr. Neu dazu. "Was ich jedoch nicht akzeptieren kann, ist, daß damit auch alle anderen, korrekt arbeitenden Beamten in den Schmutz gezogen werden." Der Fall des überführten ehemaligen Beamten ist ein unangenehmes Thema in Schwalmstadt. Zusammen mit inzwischen verlegten Häftlingen soll er ein regelrechtes Drogenversorgungssystem aufgebaut haben. Seit er nicht mehr im Dienst ist, heißt es, seien die Rauschgiftpreise drastisch gestiegen. "Natürlich hatten wir einen Verdacht. Stichprobenartig werden auch bei Bediensteten Taschenkontrollen durchgeführt. Aber solange es keine Beweise gibt, kann man nichts machen," sagt Robert Weppler. Wer im Strafvollzug arbeitet, stellt schnell fest, daß man auch ohne anstrengende Ehrlichkeit zu etwas kommen kann. Da liegt einer in seiner Zelle auf dem Bett, schaut Fernsehen, grinst frech und sagt, er habe Kopfschmerzen, als der Beamte ihn fragt, warum er nicht zur Arbeit gehe. Dabei weiß der, daß der Gefangene von draußen regelmäßig Überweisungen auf sein Konto bekommt, während er noch in zwanzig Jahren an dem Kredit für sein Einfamilienhäuschen bezahlen wird. Robert Weppler erzählt, daß die Häftlinge einmal im Monat Gelegenheit haben, in einem kleinen Laden innerhalb der Anstalt Lebensmittel, Tabak und andere Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen. "Manche haben danach den Schrank voll mit Sachen, obwohl sie überhaupt keine Einkaufskarte hatten." Der Junkie, der auch im Knast seinen Stoff braucht, bezahlt dafür eben mit allem, was er hat. Manchmal sogar mit seinem eigenen Körper. Der Alltag in einer Justizvollzugsanstalt ist ein ständiges Katz- und Mausspiel zwischen den an Gesetze und Vorschriften gebundenen Vertretern der Staatsgewalt und der Subkultur der Gefangenen, die auf informellen Absprachen, Faustrecht und vielleicht noch so etwas wie Ganovenehre beruht. Die einen versuchen, illegale Geschäfte zu verhindern, Sicherheit und Ordnung in der Anstalt zu wahren und demjenigen eine Zukunftsperspektive anzubieten, der sie möchte. Die anderen wollen ihre Zeit so gut es geht herumbringen und möglichst schnell raus. Und wer nicht gerade auf das fast aussichtslose Unterfangen Ausbruch setzt, dem bleibt nur "gute Führung". Für jeden Strafgefangenen wird zu Beginn seiner Haftzeit ein Vollzugsplan erstellt, der festlegt, welche Ausbildungs- oder therapeutischen Maßnahmen für ihn angebracht erscheinen. und zu welchem Zeitpunkt sie stattfinden sollten. Wenn er an den Zielen dieses Vollzugsplanes engagiert mitarbeitet, hat er gute Chancen, nur zwei Drittel der vorgesehenen Strafe verbüßen zu müssen und einige Jahre vor diesem Termin Lockerungen zu bekommen. Lockerung bedeutet nichts anderes, als daß man die Anstalt verlassen darf. Zunächst für ein paar Stunden unter Aufsicht von ein oder zwei Vollzugsbeamten, dann eine bestimmte Tageszeit allein, und wenn das alles ohne Probleme verläuft, erhält der Gefangene schließlich Urlaub. Das können bis zu sieben Tage hintereinander sein, jedoch maximal einundzwanzig Tage im Jahr. Ordentliches Benehmen hat also seine Vorteile. Über die Bewilligung von Lockerungen entscheidet der Stationsleiter im Rahmen einer Konferenz. Für den A-Flügel ist der pädagogische Leiter der Anstalt, Wilfried Porada verantwortlich. Die Besprechung findet im Büro des Sozialarbeiters statt. Thorsten Herdejost hat Tee gekocht, Rauchen ist verboten. Verlegungsprobleme und Anträge der Gefangenen stehen auf der Tagesordnung. Porada, Bereichsleiter Weppler, ein Vollzugsbeamter, der Sportlehrer Achim Hänlein diskutieren die einzelnen Fälle. Vor einer Woche waren der Sportlehrer und der Sozialarbeiter mit fünf Gefangenen für drei Tage Wandern im Sauerland. Eine Lockerungsmaßnahme. Hänlein berichtet, daß es keinerlei Probleme gab. Bei den Häftlingen war allerdings die Unsicherheit in der Normalwelt unverkennbar. Seit Jahren das erste Mal ohne Gitter vor dem Fenster übernachten. Da konnte mancher kaum schlafen. Einer der Teilnehmer hat nun einen Antrag auf Ausgang gestellt. Beim Sportprojekt war sein Verhalten eigentlich tadellos. Mit einer kleinen Ausnahme. Obwohl mit ihm ein absolutes Alkoholverbot vereinbart war, fragte er einmal beim Essen, ob er sich auch ein Bier bestellen dürfe. "Es ist ja schön, daß er fragt, aber es ist doch wohl klar, was passiert, wenn er jetzt Ausgang bekommt," kommentiert der Stationsleiter Porada. Alle nicken. "Er wird sich erst einmal einen hinter die Binde kippen. Und da er auch seine Straftat unter Alkoholeinfluß begangen hat, geht das einfach nicht." Antrag abgelehnt. Der Gefangene wird sauer sein. Vielleicht besorgt er sich irgendwo einen "Fiffi", selbstgemachten Schnaps, und spült seinen Ärger runter. Oder er schimpft mit irgendjemandem über den Stationsleiter, den Sozialarbeiter oder den Sportlehrer - je nach dem, wem er die Schuld gibt. Oder er nimmt es hin und hofft, daß ihm doch irgendwann Ausgang genehmigt wird. Irgendwo, irgendjemandem, irgendwann. Was die Gefangenen tatsächlich denken und tun, bleibt im Verborgenen. Trotz der tagtäglichen Nähe hat keiner der Bediensteten wirklich Einblick in die Gefangenenwelt. Ihr Gegenüber bleibt für sie undurchsichtig. Sie müssen mit dem leben, was sie nicht zu hören und zu sehen, besten- oder schlimmstenfalls zu spüren bekommen. Irgendwie. |