Gehorche!
by Tia



Vor mir ist der Abgrund. Ein tiefes Loch, das nur darauf wartet, mich endlich zu verschlingen. Ich habe Angst, aber ich gehe nicht zurück. Niemand wird mich vor diesem Loch retten können.
Die Lichter im Loch bewegen sich langsam, viele Stimmen dringen zu mir hoch. Sie schreien laut, aber ich will ihnen nicht zuhören. Sie sollen still sein, mich in Ruhe lassen. Ich will sie nicht mehr hören.
Jetzt stehen die Lichter still. Sie scheinen mich anzusehen. Die riesigen, leuchtenden, weissen Augen starren mich alle an und beobachten mich. Sie wollen, dass ich endlich zu ihnen komme. Sie wollen mich in ihren Kreis aufnehmen.
Ich will nicht gehen, aber ich muss. Sie haben mich gerufen. Ich muss gehorchen.
Die Stimmen schreien lauter und ich höre Schritte hinter mir, aber ich drehe mich nicht um. Ich spüre, wie sie sich mir nähern, aber sie kommen nicht ganz heran. Sie wollen mich nicht erschrecken.
Ich mache einen kleinen Schritt vorwärts, den Lichtern entgegen. Sofort kommen die Schritte dichter an mich heran. Die Stimmen im Loch schreien laut auf. Immer mehr Lichter bleiben stehen und sehen mich an. Ich will nicht zu ihnen.
Ein Hand packt mich, aber ich schüttle sie wieder ab. Sie soll weggehen und mich in Ruhe lassen! Sie ist doch nicht gerufen worden. Sie darf doch nicht zu den Lichtern, wenn sie nicht gerufen worden ist. Die Hand soll verschwinden!
Ich sehe wieder die Lichter an. Warum wollen sie ausgerechnet mich?
Sie werden heller und immer deutlicher höre ich ihre Stimmen in meinem Kopf, wie sie sagen, dass ich endlich zu ihnen kommen soll. Ich will nicht gehorchen, aber ich muss.
Die Hand packt wieder zu und hält mich fest. Ich kann sie nicht mehr abschütteln. Sie hält mich fest und zieht mich vom Abgrund weg. Die Lichter verschwinden aus meinen Augen. Sie werden mich dafür bestrafen, dass ich ihnen nicht gehorcht habe.
Ich mache wieder einen Schritt vorwärts. Ich will nicht bestraft werden. Sie dürfen nicht glauben, ich gehorche ihnen nicht.
Eine zweite Hand packt mich und eine leise Stimme sagt, dass ich ruhig bleiben soll. Wie kann ich ruhig bleiben, wenn sie mich bestrafen wollen? Ich reisse immer mehr, kratze und beisse. Die Hände sollen mich endlich loslassen. Wissen sie denn nicht, dass ich gehorchen muss? Ich stürzte vorwärts und sehe endlich die Lichter wieder. Sie schreien wieder lauter. Sie freuen sich, dass ich endlich komme.
Ich nähere mich ihnen. Ich sehe nur die hellen Lichter, die mir in den Augen brennen und höre nur noch ihre Stimmen, die mir in den Ohren weh tun. Ich spüre nur noch die grausame Kälte, die meine Finger einfriert, und rieche nur noch den Gestank, der in meiner Nase kitzelt. Ich schmecke nur noch den fauligen Geschmack auf meiner Zunge.
Ich werde von ihnen aufgenommen, werde zu einem weissen Licht. Ich werde den anderen, die nach mir kommen, den Weg weisen. Die Lichter nehmen mich auf.
Ich habe gehorcht.
 
 
 

Copyright (c) 2001
by Tia