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Tiger Louis Royo In
einer Stadt, wo die Nacht zum Tag wurde, wo Gewalt und Verbrechen herrschten, wo
Drogen und Alkohol die Menschen kaputt machten, dort lebte Tiger. Sie war ein hübsches
Mädchen mit goldgelben Augen und rotbraunen Haaren. Eigentlich hiess sie Lisa,
aber sie wurde nur Tiger genannt. Ihr ganzes Wesen hatte etwas von einer
Raubkatze an sich. Die Art wie sie sich bewegte, ihre unbezähmbare Wildheit,
aber auch ihre sanfte Schönheit. Dazu kam die Tätowierung, die ihren oberen Rücken
bedeckte: Zwei Tiger, einer rotbraun, der andere weiss, die aneinandergeschmiegt
am Rande eines Dschungels lagen. Doch
es gab noch einen anderen Grund, weshalb sie Tiger war. Wenn der Vollmond
aufging, verwandelte sie sich. Dann wurde sie zur Königin aller Tiger, zur Rächerin
der Opfer von Gewalt und Drogen. Doch das war ihr Geheimnis. In
der Stadt war sie eine Art lebende Legende. Niemand wusste, woher bei Vollmond
der Tiger kam, der schnell und lautlos die Drogendealer beseitigte und den
sadistischen Gewaltverbrechern einen schmerzvollen Tod bereitete. Sie liess
stets nur Kratzer eines Prankenhiebes über die Wange ihrer Opfer zurück. In
dieser Stadt gab es keine Polizei mehr, der diese Morde hätte Rätsel aufgeben
können. In dieser Stadt herrschten einzig und allein die Bosse der Unterwelt.
Und diese waren über den Vollmondtiger, wie sie auch genannt wurde, nicht
gerade erfreut. Im Gegenteil. Sie setzten alles daran, das Wesen zu finden und
zur Strecke zu bringen, das ihre dunklen Geschäfte so empfindlich störte. Aber
Tiger war nicht zu fassen. Wenn der Vollmond unterging, wurde sie wieder zu dem
hübschen Mädchen, das im Nachtclub an der Bar die Drinks mixte. Es
war wieder einmal einer dieser üblichen Nächte im Club. Auf der kleinen Bühne
tanzte ein Mädchen aufreizend zu den dröhnenden Beats der Musik und zog sich
dabei aus. Im Halbdunkel sassen die Männer, die sich daran aufgeilten um sich
später dann selbst ein Mädchen und billigen Sekt zu leisten. Tiger
passte eigentlich so ganz und gar nicht in dieses Bild. Sie gehörte nicht zu
den drogensüchtigen Freudenmädchen. Dass sie in diesem Loch arbeitete, hatte
einen triftigen Grund. Doch diesen wusste nur sie allein. Eines
der Mädchen setzte sich zu Tiger an die Bar. "Hi Pam. Was darf's
sein?" "Hi Tiger. Einen doppelten Whisky on the Rocks, bitte."
"Kommt sofort. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Du solltest nicht
so viel trinken." Pam zog eine Grimasse. "Kannst Du mir mal verraten,
wie ich diese ganze Scheisse hier sonst aushalten soll?" Tiger sah ihr in
die Augen. "Steig aus, geh fort von hier und fange an einem anderen Ort ein
neues Leben an. Ich weiss, dass du das kannst. Du bist jung. Und ohne den
Alkohol und die Drogen wärst du sogar sehr hübsch." Pam seufzte.
"Ach weisst du, es wäre schön, ein anderes Leben zu führen. Aber du
weisst auch, dass Black mich niemals gehen lässt." Tiger nickte. "Ich
weiss. Aber glaub mir, der Tag ist nicht fern, an dem du frei sein wirst.
Ausserdem: Leben ist nur ein Traum auf dem Weg zum Tod." "Wenn das
stimmt, ist mein Leben ein Alptraum." Plötzlich zuckte Pam zusammen.
"Da kommt Black. Ich muss wieder an die Arbeit." Black
war der absolute Boss dieser Stadt. Er war ein Hüne, eigentlich ganz gut
aussehend, aber mit einem brutalen Zug um den Mund. "Tiger? Mach mir einen
von deinen Drinks. Aber was Starkes, wenn ich bitten darf." "Ärger?
Du bist heute so gereizt." Black spuckte auf den Boden und zündete sich
eine Zigarette an. "Dieses verdammte Vieh, dieser Vollmondtiger! Gestern
hat er wieder zugeschlagen. Und diesmal hat er mich echt empfindlich getroffen.
Er hat das ganze Labor und alle Vorräte vernichtet." Er zuckte mit den
Schultern. "Der Verlust meiner Männer wäre ja noch zu verkraften. Aber
frag mich nicht wie er es gemacht hat, jedenfalls ist die ganze Ware in die Luft
geflogen. Boom! Einfach explodiert!" Er nahm seinen Drink und stand auf.
"Ich hab 'ne Besprechung. Wir sehn uns." Tiger lächelte zufrieden und
flüsterte: "Spätestens beim nächsten Vollmond, du Bastard!" Kaum
war Black weg, setzte sich ein junger Mann an die Bar. Tiger hatte ihn noch nie
zuvor gesehen, aber trotzdem kam er ihr seltsam vertraut vor. Er hatte
hellblondes Haar und dunkelblaue Augen, die eine beinahe hypnotische
Ausstrahlung hatten. "Hi. Ich suche ein Mädchen namens Tiger. Kennst du
sie?" Tiger musterte ihn von oben bis unten. Er war recht muskulös, aber
dennoch irgendwie grazil, so ähnlich wie ein Tänzer. "Wer will das
wissen?" "Verzeihung. Mein Name ist Raoul. Raoul White. Kannst du mich
zu ihr bringen? Es ist wichtig." Ein
goldener und ein silberner Tiger rannten Seite an Seite durch die Strassen der
Stadt. Wo sie hinkamen, verschwanden die Schatten des Bösen. Elend und Leid gab
es nicht mehr, die Schreckensherrschaft der Drogenbarone war gebrochen. Der Tag
hielt Einzug in die Stadt der Nacht und mit ihm Liebe und Hoffnung. Die beiden
Tiger legten sich am Rande des grünen Dschungels nieder. Ihr Werk war
vollbracht... So schnell wie die Vision gekommen war, verschwand sie wieder. Tiger starrte den jungen Mann an. Die Erkenntnis kam schlagartig. "Ich bin Tiger. Und du bist endlich gekommen..." Sie drehte ihm den Rücken zu, so dass er ihre Tätowierung betrachten konnte. "Du bist der weisse, der silberne Tiger." Raoul neigte bejahend den Kopf. Tiger trat hinter der Bar hervor. "Lass uns in meine Wohnung gehen." Tigers
Wohnung war eine leerstehende Lagerhalle. Die karge Einrichtung bestand aus
einer Matratze, einem Tisch mit zwei Stühlen und einer Kommode. Raoul
und Tiger setzten sich an den Tisch. Sie schauten sich nur an, bis Raoul
schliesslich das Wort ergriff. "Du weisst, wer ich bin und warum ich hier
bin. Wir beide werden Black stürzen und dieser Stadt das Leben zurückgeben."
"Ich hatte Visionen, ich sah uns beide... Nach diesen Visionen entstand
auch das Bild auf meinem Rücken." Raoul nickte. "Ich weiss." Er
zog sein Hemd aus und drehte sich um. Er trug exakt die gleiche Tätowierung auf
seinem Rücken. Sie hätte es wissen müssen. Raoul beugte sich zu ihr.
"Wir müssen noch heute Nacht unser Werk vollenden. Denn heute rechnen sie
nicht damit." "Das ist nicht möglich, ich kann nur bei Vollmond meine
Gestalt wechseln." Raoul lächelte. "Nein. Ich werde dir die Macht
geben, dich zu verwandeln, wann immer du willst. Dazu müssen wir uns vereinen.
Bist du dazu bereit?" Tiger nickte. Sie Im
Hauptquartier von Black hatten sich sämtliche Bosse versammelt. Sie fühlten
sich sicher, denn schliesslich war Vollmond vorbei. Doch plötzlich war leises,
bedrohliches Knurren zu hören. Es schien von allen Seiten gleichzeitig zu
kommen, aber es war nichts zu sehen. Pistolen und Messer wurden gezückt, aber
es sollte ihnen nichts mehr nützen. Das Licht erlosch und es brach endgültig
Panik aus. Die Luft war erfüllt von silbergoldenen Blitzen, Schreien und
Fauchen. Keiner entkam den Tigern. Jeder bekam das, was er verdiente. Ein
goldener und ein silberner Tiger rannten durch die Strassen der Stadt dem
Sonnenaufgang entgegen, in ein neues Leben.
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