POLAR-GAZETTE  -  #1 (Januar 2000)
Stell' Dir vor ...

- Du lässt Dich am Wochenende sich vom Wecker aus dem Schlaf reissen, während die Welt vor dem Fenster noch nicht einmal daran denkt, dass es Tag werden könnte.
- Du bekommst die Augen so weit geöffnet, dass Du erkennst, was Du am besten nicht in den Rucksack packen solltest.
- Du verstaust Deine immer noch müden Knochen zusammen mit denen von zwei Menschen im gleichen Zustand und von einem, der den Tag schon etwas besser zu meistern scheint, in einem eisigkalten Auto (immerhin waren in der Nacht davor -13 Grad Celsius) und denkst auch daran, Ski und Rucksack das gleiche Schicksal angedeihen zu lassen.
- Als der Weg nach 2 Stunden wirklich nicht mehr für Autos befahrbar scheint, entscheidest du dich, die Reise per Ski zu bewältigen. Eine Entscheidung, die Dir zusätzliche 7 km Entfernung aufbürdet. Dabei gibt es gleich zu Beginn einen Höhenunterschied von etwa 300 m zu schaffen. (Hätte er gewusst, was ihn erwartet, hätte sich der Skitour-Anfänger der Gruppe bis zur Rückkehr des Restes sicher im Auto verbarrikadiert.)
- Du wirst auf der Hälfte der Strecke von einem Schneepflug überholt. Nachdem Du Dich über den schulterhohen Wall gearbeitet hast, lässt Deine Spur auf den abwärts führenden Strecken an eine Billardkugel o.ä. erinnern: Du bewegst Dich zwischen den Kurven von Bande zu Bande.
- Du entscheidest Dich, den Kampf gegen die Dunkelheit ab ca. 17 Uhr als völlig verloren bezeichnen. Glücklicherweise waren Leute mit, die die Gegend im Herbst ebenfalls schon bei Dunkelheit durchwanderten. Somit bewegst Du Dich trotzdem sehr sicher auf Dein Ziel zu.
- Du stehst an einem Hang und siehst vor Dir eine weite Ebene, wo Du Deinen Weg fortsetzen sollst. Dummerweise musst Du zu diesem Zweck in ein Tal hinab (was zu Ski richtig Spass macht) und dann an der gegenüberliegenden Seite etwa 10 bis 20 m nach oben - senkrecht. Nach etwa einer Viertelstunde oben angekommen stellst Du fest, warum gerade an dieser einen Stelle der Schnee keine 2 m überhing wie üblich: Du hast Dich in einem zugeschneiten Wasserfall nach oben gearbeitet.
- Während Deine Leidensgenossen den gleichen Kampf durchstehen, tust Du Dein Bestes, damit Deine Finger nicht für den späteren Whisky als Eiswürfel Verwendung finden. Die Finger und grossen Zehen eines anderen kommen viel näher an dieses Schicksal heran.
- Als Du Deinen Weg fortsetzt, siehst Du, wie sich der Himmel genau über einer Bergspitze immer mehr rötet. Mit nachlassendem Schneefall erkennst Du, dass Du eben dabei bist, einen unnatürlich wirkenden Mondaufgang zu erleben.
- Kurz danach siehst Du etwas Dunkles aus dem Schnee aufragen: Du bist am Ziel. Dabei stellst Du fest, dass Du für die Entfernung Auto - Ziel genau 6 Stunden benötigt und in dieser Zeit gerade mal 11 km zurückgelegt hast.
- Du greifst zur Schaufel und beginnst, zumindest den Eingang der Koie aus einer 1.5 m hohen Schneeschicht freizulegen (und liest später, dass der letzte Besuch erst vor einer Woche vermutlich das gleiche tat).
- Danach begibst Du Dich mit Ski & Schaufel die 50m Richtung Abtritt, um die Tätigkeit zu wiederholen. Auf halbem Weg stellst Du fest, dass Du die Skistöcke vergessen hast, was den Weg doch etwas abenteuerlich gestaltet.
- Du verbringst den Abend unter anderem damit, zuzusehen, wie diverse Leute versuchen, Bierflaschen bzw. deren Inhalt zu "beruhigen" - Selbstgebrautes scheint sehr anfällig gegenüber unsanften Bewegungen zu sein und mit starker Schaumbildung zu reagieren. Die Substanz in den Trinkgefässen gleicht eher Cappucchino-Creme als Bier.
- Später am Abend gibt es das Erlebnis einer Bier-Explosion, bei der sich die grösste Menge über den Schlafsack des schon schlafenden Teils der Gruppe ergiesst - der Öffnende hatte nicht die Kraft, den Deckel zur rechten Zeit wieder auf der Flasche zu befestigen. An dem Häufchen Schaum auf dem Tisch erkennst Du, dass es zum überwiegendem Teil aus Eiskristallen besteht, auch steigt der Schaum in der Flasche eher schräg auf, was auf weiteres Eis schliessen lässt. Wahrscheinlich war die Stunde Kühlzeit im Schnee zu lang.
- Du erlebst eine absolut klare Vollmondnacht und entsprechende Temperaturen. Was Wunder, wenn die nächste menschliche Siedlung ein Dutzend Kilometer entfernt ist und Du auf etwa 500m Höhe bist.
- Du stehst mit einem Teil der "Expedition" die halbe Nacht durch immer wieder auf dem Dach der Koie und betrachtest unzählige Polarlichter, die teilweise so stark sind, dass sie sogar durch eine dünne Wolkendecke hindurch leuchten.
- Dabei denkst Du darüber nach, wieso Du dies ganz freiwillig tust: in eisiger Kälte einige Stunden durch Schnee kämpfen und sich richtig kaputtmachen dabei, um mitten in der Wildnis eine kleine Holzhütte zu finden, sich dort über Wärme zu freuen, für die man auch erst einmal arbeiten muss, Schnee zu tauen, um Teewasser zu haben, mitgeschleppte einfache Mahlzeiten mit solch riesigem Appetit zu essen als wäre es ein 10-Gänge-Menü im Hilton,morgens mit einigen Handvoll Schnee im Gesicht wachzuwerden, bei Kerzenschein & Paraffinlicht Stories von ebenso verrückten Vorgängern zu lesen, auf Holzpritschen mit einer dünnen Matratzenauflage zu schlafen und sich am nächsten Tag auf den Rückweg zu machen. Wo man doch eigentlich genausogut die moderne Zivilisation geniessen und richtig faul sein könnte. Und vor allem, warum tust Du dies auch noch gern und immer öfter ...
- Du erfreust Dich an einem herrlich warmen Ofen, während andere schnell mal das Ofenrohr zum Rotglühen bringen. Jedesmal, wenn die Tür geöffnet wird, steigt nach aussen eine Dampfwolke auf und der Fussbodenbereich innen ist aus dem gleichen Grund nicht mehr sichtbar.
- Selbst nachdem die Koientür einige Minuten voll offen stand, hast Du noch Probleme, in der Wärme einzuschlafen trotz dass Du sehr leicht bekleidet *auf* dem Schlafsack liegst.
- Das "Frühstück" am nächsten Tag besteht aus viel Reis und noch viel mehr Gemüse, wobei letzteres nach einer gewissen Zeit einfach als gar definiert wurde, denn die Kombination Primuskocher und sehr grosser Topf erwies sich als nicht vorteilhaft, um den Topfinhalt über den Grad "etwas mehr als handwarm" hinaus zu erhitzen. Trotzdem isst Du mit grossem Appetit 3 Teller davon.
- Für den anschliessenden Rückweg benötigst Du ganze 2 1/4 Stunden, wobei Du die letzten 3 km aufgrund der negativen Steigung und des mehr als glatten Untergrundes zu Fuss bewältigst und andere überholst, die das Gleiche zu Ski versuchen.

Dies war die Tour von Andreas, Stephan, Gernot und Adrian zur Lynhøgen-Koie am vergangenen Wochenende. Und sie wird auf Garantie wiederholt (zumindest für meinen Teil)!

Grüsse aus dem Norden von Adrian.


Copyright © Adrian, 2000