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Kindesmißbrauch: Neue Sensibilität oder Panik?

von Christine Horn

Die Diskussion über Kindesmißbrauch hat seit dem Fall Dutroux in Belgien und der Ermordung der siebenjährigen Nathalie Astner in Bayern eine enorme Dynamik entwickelt. Täglich werden neue Fälle von Mißbrauch gemeldet. Sogar das Abendprogramm im Fernsehen befaßt sich mittlerweile intensiv mit dem Thema. Im Sinne besserer Einschaltquoten laufen fast jeden Abend Filme und Serien, in denen Mißbrauch zur Sprache kommt. Leider akzeptieren viele Menschen die Prämisse, daß Mißbrauch alltäglich geworden ist und denken, sie müßten sich über Möglichkeiten der Prävention informieren. Wer es wagt, dies als unbegründet zu betrachten oder gar darauf hinweist, daß es sich hier um eine Panik handelt, dem wird schnell gefährliche Gutgläubigkeit, Kinderfeindlichkeit oder sogar Täterlobbyismus unterstellt.

Mit Recht sprechen einige Kommentatoren angesichts dieser Entwicklung von einer Hysterie. Allerdings wird oft weder der Hinterrund der Panik, noch ihre eigentliche Bedeutung vollständig erfaßt. Denn das Problem sind heute nicht etwa die Medien oder ein ausgeprägter Voyeurismus der Menschen. Viel entscheidender ist, daß sich ein breiter Konsens entwickelt hat, nach dem die Gefahr des Kindesmißbrauch viel intensiver diskutiert werden mußte.

Diese Entwicklung wirft große Probleme auf, denn der Konsens besteht, obwohl in den letzten Jahren nicht mehr Mißbrauchsfälle verzeichnet worden sind. In Fachkreisen herrscht Einigkeit: Die Zahl ist in den letzten Jahren konstant geblieben. Laut polizeilicher Kriminalstatistik hat es in den vergangenen Jahren zwischen 15000 und 16000 Fälle von Mißbrauch gegeben. Der Berliner Psychiater Wilfried Rasch hob dies in einem Interview mit der taz hervor. Nicht die Zahlen, so meinte er, seinen gestiegen, sondern die Sensibilität (taz, 24.9.1996). Auch die Protagonisten der neuen Sensibilität widersprechen dem nicht. Sabine Kirchhoff erklärte in ihrem Buch "Sexueller Mißbrauch vor Gericht", die BKA-Kriminalstatistiken des letzten Jahrzehnts zeigten, daß die Zahl der angezeigten Sexualdelikte relativ konstant geblieben sei (Sabine Kirchhoff: Sexueller Mißbrauch vor Gericht. Band 1. Beobachtung und Analyse, Opladen 1994, S. 28).

Zweifelhafte Dunkelzifferrecherchen

Die neue Sensibilität für Mißbrauch wird positiv bewertet. Es heißt, früher habe man dem Thema zu wenig Bedeutung beigemessen und die Dunkelziffer unterschätzt. Die Annahme, Kindesmißbrauch existiere in einem viel größerem Ausmaß als bislang angenommen, basiert allerdings nicht auf dem vorliegenden Zahlenmaterial, sondern auf Dunkelzifferrecherchen.

Katharina Rutschky hat in ihren Ausführungen darauf hingewiesen, daß es sich bei der Zahl von 300.000 Mißbrauchsfällen, die immer wieder genannt wird, um eine Spekulation handelt. Selbst Sabine Kirchhoff erklärte, daß die Zahl 300.000 nicht belegt sei. Ursprünglich wurde sie aus einer Studie von Michael C. Baurmann aus dem Jahre 1983 entnommen. Baurmann selbst hatte jedoch bewußt darauf verzichtet, aus seiner Untersuchung Hochrechnungen abzuleiten (ebd.).

Dunkelzifferrecherchen beruhen auf der Befragung Erwachsener. Sie sollen Aussagen liefern, wie viele von ihnen als Kind mißbraucht wurden. Die Erhebungen basieren in der Regel allein auf der subjektiven Erinnerungsarbeit von Erwachsenen. Reinhart Wolff erklärte in seinem Artikel "Einbruch der Sexmoral", die Recherchen seien in der Regel Prävalenz-Studien, d.h., "Erhebungen des Vorkommens von im nachhinein als Mißhandlung definierten Ergebnissen". Sie basieren häufig allein auf subjektiven Erinnerungen an Erfahrungen (vgl. Reinhart Wolff: "Der Einbruch der Sexmoral", in. Katharina Rutschky/Reinhart Wolff (Hg.) Handbuch sexueller Mißbrauch, Hamburg 1994, S. 84). Nun mögen die Erinnerungen Erwachsener an ihre Kindheit interessant sein. Diese aber als verläßliche Aussagen über die Häufigkeit von Mißbrauch zu werten, ist vermessen. Erinnerungen sind immer geprägt von Einflüssen, die auf die betreffende Person gewirkt haben. Was in der Kindheit als problematisch empfunden wurde, kann später an Bedeutung verlieren und umgekehrt. Menschen ändern ihre Meinung aufgrund ihrer Erfahrungen häufig, und sie werden von ihnen ebenso beeinflußt, wie von der Veränderung ihres Umfelds. Viele Erwachsene würden sich beispielsweise heute, im nachhinein, aufgrund der neuen Definition von Mißbrauch als Opfer sehen. Aus diesen Gründen ist es nicht möglich, verläßliche Daten aus Erinnerungen zu entnehmen. Durch die Bevorzugung individueller Erinnerung vor existierendem Zahlenmaterial werden subjektive Kriterien in der Mißbrauchsforschung aufgewertet. Die persönliche Erinnerung und Interpretation eines Erwachsenen erscheint glaubwürdiger als das statistische Material.

Auch die subjektive Vorstellung des Experten ist maßgeblich für das Ergebnis einer solchen Studie. Dunkelzifferrecherchen liegen deshalb im Ergebnis nicht nur weit über den offiziellen Zahlen, sondern sie weichen auch sehr stark voneinander ab. Je nach Definition von Mißbrauch, bewegen sich die Zahlen bei Mädchen zwischen 8-62%, bei Jungen zwischen 3-22% (vgl. Ursula Enders (Hg.): Zart war ich, bitter war's Handbuch gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen, Köln 1995, S. 329). Die Dunkelziffer ist im Grunde eine wissenschaftlich wertlose Kategorie, die mehr über die Befindlichkeit der beteiligten Person aussagt als über die gesellschaftliche Wirklichkeit.

Auch daß keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von Mißbrauch gemacht wird, ist Ausdruck dieser bedenklichen Methode. Der Begriff Mißbrauch wird unterdessen so undifferenziert gebraucht, daß sich Zahlen ergeben, die nichts mehr über das tatsächliche des sexuellen Mißbrauchs aussagen. So erklärte Michael C. Baurmann. "Bei solchen Zahlenoperationen wird dann meist auch nicht mehr zwischen angezeigten und verurteilten und auch nicht mehr zwischen gewaltlosen, gewaltfernen und gewalttätigen Tätern differenziert" (in: Handbuch sexueller Mißbrauch, a.a.O., S. 85). Das bedeutet, daß die Mißbrauchszahlen zum einen ansteigen, weil keine differenzierte Betrachtung mehr stattfindet. Zum anderen, weil die Definition von Mißbrauch einfach verändert wurde.

Dirk Bange beispielsweise befragte 861 Studenten in Mönchengladbach und stellte fest, daß jedes vierte Mädchen und jeder zwölfte Junge sexuell mißbraucht worden sei (Dirk Banke: Die dunkle Seite der Kindheit. Sexueller Mißbrauch an Mädchen und Jungen. Ausmaß - Hintergründe - Folgen, Volksblatt-Verlag, Köln 1992 S. 86). Schaut man sich seine Definition von Mißbrauch an, so wundert es, wenn überhaupt, daß Bange nicht noch höhere Zahlen ermittelte. Bange nennt vier Kategorien von Mißbrauch, von denen die letzten beiden wie folgt lauten. "c) weniger intensiver sexueller Mißbrauch (Täter versuchte, die Genitalien des Opfer anzufassen, Täter faßte Brust des Opfers an, sexualisierte Küsse, Zungenküsse, sexualisiertes Anfassen) und d) sexueller Mißbrauch ohne Körperkontakt (Exhibitionismus, Opfer mußte sich Pornos anschauen, Täter beobachtete Opfer beim Baden, Anziehen) (ebd., S. 29)

Am Ende kommt man daher zu Zahlenmaterial, das so stark von persönlichen Maßstäben abhängt, daß die Realität gar nicht mehr erfaßt werden kann. Das Problem wird nur noch durch die Brille subjektiver Befindlichkeiten gesehen.

Die Tatsache, daß es unterdessen eine ganze Reihe solcher Dunkelfeldforschungen gibt, wirft große Probleme für die Forschung auf. Wissenschaftliches Arbeiten bleibt auf dem Niveau von subjektiver Wahrnehmung stehen. Wenn Definitionen einfach verändert werden, ohne daß dies wissenschaftlich begründet werden muß, steht Wissenschaft selbst auf dem Spiel. Denn der Aufgabe, sachliche und fundierte Recherchen zu präsentieren, entziehen sich solche Dunkelfeld-Experten in der Regel. Letztlich werden rationale Kriterien durch subjektive ersetzt.

Statt aufzuklären, wird mystifiziert. "Wissenschaft" trägt so nicht mehr zum besseren Verständnis bei, sondern fördert irrationale Ängste und die Verunsicherung der Menschen. Wie bedenklich dieser Trend ist, erklärte Michael C. Baurmann. Im Bereich der Dunkelfeldschätzungen seien viele Angaben überholt oder einfach falsch. Aber selbst die Klarstellung darüber sei bei "manchen Expertinnen und Experten unerwünscht", weil "sie anscheinend der Meinung sind, ein wichtiges soziales Problem - was sexuelle Gewalt zweifellos ist - könne erst dann richtig angegangen werden, wenn die statistischen Angaben möglichst atemberaubend" seien (Sexueller Mißbrauch vor Gericht a.a.O., S. 85).

Die Auflösung eines Begriffs

Durch die Erweiterung der Definition von Mißbrauch wird letztlich der Begriff selbst aufgelöst, neu konstruiert und damit zu einer nichtssagenden Kategorie.

Zum einem wird nicht mehr zwischen verschiedenen Schweregraden von Mißbrauch unterschieden. Auf die Folgen der undifferenzierten Betrachtung hat unter anderem Reinhart Wolff hingewiesen. Er betonte, daß "immer wieder Erfahrungen einmaliger drohender oder tatsächlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen von geringem Schweregrad (überwiegend sog. "no-contact-Fälle) zu lebensbedrohlichen, gewaltsamen Mißbhandlungsfällen aufgeblasen" würden (Reinhard Wolff: "Der Einbruch der Sexmoral", a.a.O., S. 84).

Zum anderen werden die Beurteilungskriterien von Mißbrauch derart undeutlich, daß immer mehr Dinge als Mißbrauch erscheinen. Vieles, was mit Sexualität zu tun hat, wird unterdessen mit Mißbrauch in Verbindung gebracht. Die Grenzen zwischen der Entwicklung von Sexualität und Mißbrauch werden dabei zusehends aufgelöst. Auf einer Tagung in Schleswig-Holstein beispielsweise kamen Pädagogen aus 15 europäischen Ländern überein, daß auch plumpes Anmachen von Mädchen und Jungen zur sexuell motivierten Gewalt gehöre und forderten ein europäisches Netzwerk gegen sexuelle Gewalt in Schulen.

Immer häufiger werden sogar Dinge mit Mißbrauch in Verbindung gebracht, die nichts mit Sexualität zu tun haben. Sogar der unwillkommene Kuß der Oma oder die Umarmung der unsympathischen Tante werden problematisiert. Auch ist von psychischem oder seelischen Mißbrauch von Kindern die Rede. Neil Gilbert wies auf dieses Problem hin: "Zur Zeit laufen Bestrebungen zur Neubestimmung der Kategorie "Belästigung"; Opfer von Handgreiflichkeiten und Schulhofkämpfen solle mit Opfern sexuellem Kindesmißbrauchs kombiniert werden" (Neil Gilbert: "Kinderschutz in den VereinigtenStaaten. Probleme der Praxis und Stand der Forschung", in Handbuch sexueller Mißbrauch, a.a.O., S. 65)

Der Begriff Mißbrauch wird nicht nur ausgeweitet. Indem schlimme Beispiele von Vergehen an Kindern mit einer vollkommen subjektiven und konstruierten Vorstellung von Mißbrauch gleichgesetzt werden, werden diese sozusagen sogar normalisiert und erscheinen alltäglich. In der Literatur zum Thema wird man seitenweise über sehr abstoßende Dinge informiert. "Der Zahnarzt B. greift während der Behandlung der 13jährigen E. in die Hose"; "Frau K. drückt auf dem Hodensack ihres dreijährigen Sohnes eine Zigarette aus", "Der 16jährige F. penetriert seine drei Monate alte Stiefschwester mit dem Finger", "Ein Therapeut befriedigt sich vor der fünfjährigen M. und dem siebenjährigen G."; "Ein Sozialarbeiter einer Jugendschutzstelle zwingt die Jugendlichen, sich gegenseitig sexuelle Gewalt zuzufügen, und macht davon Videoaufnahmen", "Eine Erzieherin schmiert ihre Vagina mit Marmelade ein und läßt diese von der Kindergruppe ablecken". (Zart war ich, bitter war's, a.a.O. S. 22) Auch über den ritualisierten Mißbrauch wird berichtet, so als gäbe es nichts "Normaleres" auf der Welt, als sich an Kindern zu vergehen. Genannt werden Gebärrituale als Aufnahme in Sekten, bei denen das Opfer in einem aufgerissenen Tierkadaver hineingelegt wird oder auch Fälle, bei denen Kinder Tiere und Babys als Blutopfer töten mußten.

Mystifizierung und Verunsicherung

Die Folgen dieser Entwicklung sind nicht zu unterschätzen. Die Wirklichkeit wird vollkommen verzerrt. Gleichzeitig wird ein gesellschaftliches Problem konstruiert: "Mißbrauch", der so gar nicht existiert. Die Konsequenzen sind Angst und Verunsicherung, statt Aufklärung. Der ganze Erziehungsbereich wird mittlerweile unter dem Prisma der Vorbeugung von Mißbrauch gesehen. Im Rahmen von Programmen zur Vorbeugen von Mißbrauch wird in den USA beispielsweise kleinen Kindern vermittelt, daß sie ihren Intimbereich schützen sollen: "... sie (die sogenannten "private parts") bleiben bedeckt, es sei denn, du gehst in die Badewanne, steigst in den Schlafanzug oder gehst zum Arzt" (Neil Gilbert, a.a.O., S. 66). Welche Verunsicherung dadurch bei Eltern entstehen kann, brachte eine Frau auf einem Kinderschutzbund-Beratungsabend in Frankfurt am Main zum Ausdruck. Sie äußerte sich erleichtert darüber, auch weiterhin mit ihrem Kind nackt duschen zu dürfen, ohne ihm dadurch zu schaden.

Diese Verunsicherung hat folgen für das soziale Klima. Dies zeigte sich an anderen Reaktionen auf diesem Beratungsabend. Eine Mutter fragte zum Beispiel, sie ob sich gegen einen Mann wehren könne, der ihr Kind auf der Straße anfaßt. Eine andere Mutter vertrat den Standpunkt, daß sie es sowieso nicht akzeptiere, wenn Kinder von Fremden einfach angefaßt würden. Einem Erzieher, der in einer Krabbelstunde eine Ausbildung begann, wurde von Anfang an untersagt, die Kinder zu wickeln oder mit ihnen zu schmusen. Möglichst wenig Körperkontakt erscheint unterdessen manchem "Experten" offenbar als der beste Schutz vor körperlichen Mißbrauch. Will man seelischen Mißbrauch und all den anderen Formen, die unter die gängige Definition fallen, vorbeugen, so läßt man sein Kind am besten gar nicht mehr unter andere Menschen. Es wird ständig davor gewarnt, daß Täter sich dem Kind über eine Freundschaft mit den Eltern nähern könnten. Sollten wir also in Zukunft jedem mißtrauen und hinter jedem Menschen das Schlimmste vermuten?

Viele Ratschläge derjenigen, die die Panik mitschüren, können im Kontext der üblicherweise von ihnen verbreiteten Mißtrauenskultur nur als zynisch bezeichnet werden: "Althergebrachte Prävention macht Angst, und Angst lähmt. Fehlinformationen und Panikmache verunsichern Mädchen und Jungen, schränken sie in ihrer Bewegungsfreiheit ein, schwächen ihr Selbstbewußtsein" (Zart war ich, bitter war's, a.a.O. S. 266).

Bedenkliche Bewußtseinsveränderung

Die neue Sensibilität ist nicht nur problematisch, weil sie mystifiziert und Menschen verunsichert. Sie ist auch problematisch, weil sich hinter ihr ein sehr negatives Menschenbild verbirgt. Die Skepsis gegenüber dem Menschen, gewaltfrei, friedlich und harmonisch leben zu können, ist sehr groß. Je negativer die Welt der Erwachsenen gesehen wird und je mehr gesellschaftliche Probleme durch individuelle Verhaltensweisen verklärt werden, desto offener wird die Gesellschaft gegenüber Schreckensmeldungen. Daß die hohen Dunkelziffern mehr Menschen überzeugen als die offiziellen Zahlen, ist daher nicht überraschend. In diesem Klima überzeugt oft nicht mehr derjenige, der die sorgfältigsten Nachforschungen angestellt hat, sondern wer das Schlimmste zu berichten weiß. um so leichter wird akzeptiert, daß rationale Kriterien für die Beurteilung von Mißbrauch ignoriert werden dürfen. Auch die Popularität von Kinderschutzkampagnen hat mit dieser Stimmung zu tun. Sie sind unter anderem deshalb so beliebt geworden, weil Kinder als die einzigen Wesen erscheinen, die unschuldig sind und Schutz für sich in Anspruch nehmen dürfen. Je negativer die Welt der Erwachsenen gesehen wird, desto mehr Schutz will man zwangsläufig denjenigen gewähren, die ihnen hilflos ausgeliefert sind.

Auch die Bereitschaft, ständig neue Tätergruppen zu identifizieren, hängt mit diesem Trend zusammen: "Die Täter (Täterinnen) sind nicht, wie meist irrtümlich angenommen, fremde Männern, sondern gehören fast immer zum Familien- oder Bekanntenkreis des Opfers: Väter, Stiefväter, Brüder, Lehrer, Pfarrer, Mütter, Onkel, Babysitter, Freunde der Eltern, Großväter, Tanten, Erzieherinnen, Therapeuten, Nachbarn, Ärzte - sprich: Unauffällige und anständige Bürger mißbrauchen Kinder und Jugendliche" (Zart war ich, bitter war's a.a.O., S. 14). Unter dem Kapitel "Sichere Orte Nirgendwo?" wird in diesem Buch außerdem über sexuelle Gewalt in Institutionen berichtet, zum Beispiel beim Therapeuten, Hochschulprofessor, Lehrer und Rektor.

Wie negativ das Menschenbild ist, demonstriert folgender Erfahrungsbericht, der in Büchern zum Mißbrauch oft zitiert wird: "Sie [die Täter, Am,. C.H.] erinnerten mich an die Männer, die ich aus meinem Leben kannte: Bob hatte dieselbe Art, Späße zu machen, wie mein Pfadfinderführer, Peter hörte sich genauso getragen und autoritätsbewußt an wie mein Pfarrer.

George war Bankkaufmann, ein Presbyterianer, nachsichtig wie mein Vater. Und am schlimmsten war es, daß Dave, den ich auf Anhieb mochte, mich plötzlich an mich selber erinnerte" (Richard Snowdon, in: Zart war ich, bitter war's, a.a.O., S. 40). Das Zitat endet damit, daß der Autor erhebliche Selbstzweifel einräumt, ob er nicht selbst auch einmal zum Täter werden könnte. Eine Feststellung, die deutlich macht, daß sich das menschenfeindliche Bewußtsein sogar gegen ihn selbst richtet: "Ich wollte, daß diese Männer Monster wären. Ich wollte, daß sie sich von mir unterscheiden, so verschieden wie möglich. Doch wen ich höre, wie sie von ihrer Kindheit sprachen oder von ihrer Zeit als Teenager, konnte ich immer weniger leugnen, daß wir viel gemeinsam hatten" (ebd.)

Selbst kritische Autoren, die erkennen daß die Diskussion um Mißbrauch eine Panik ist, teilen dieses negative Menschenbild. So erklärt die Hamburger Kinder- und Jugendpsychologin Gabriele Tekkentrup, die Ursachen der Hysterie seien jede Menge Voyeurismus und tabuisierte Lustgefühle. "Die Lust, die beim Lesen geweckt wird, wird schnell in moralische Entrüstung umgemünzt, weil ich sonst über mich erschrecken würde (taz, 24.9.1996).

Diese Erklärung der Mißbrauchspanik läßt Zweifel an der Fähigkeit der Autorin aufkommen, sich von den antihumanistischen Prämissen unserer Zeit frei zu machen. Die Dunkelziffer ist, wie Katharina Rutschky betonte, "längst zur Metapher für das unsagbare Grauen geworden, das hinter der Fassade des normalen Alltags versteckt ist" (Katharina Rutschky: Erregte Aufklärung - Kindesmißbrauch: Fakten und Fiktionen, Hamburg 1992, S. 73).

Zeit der Wende

Die Diskussionen über Kindesmißbrauch müssen unbedingt hinterfragt werden. Sie helfen am wenigsten Kindern und sie haben schlimme Konsequenzen für Erwachsene.

Erstens werden Menschen verunsichert. Sie vertrauen immer weniger sich selbst und anderen, dafür aber immer mehr fremden Institutionen. Die Skepsis gegenüber solchen Institutionen und ihrer Willkür ist der vor anderen Menschen gewichen.

Wir verwandeln uns in passive Opfer, die von Experten geschützt werden müssen. Wir problematisch das ist, zeigt sich daran, daß mittlerweile sogar die Privatsphäre offen in Frage gestellt wird, weil man dort das Schlimmste vermutet.

Zweitens verlagert sich der Schwerpunkt der Diskussion über gesellschaftliche Probleme immer mehr in den Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen. Der öffentliche Bereich wird keiner systematischen Kritik mehr unterworfen. Nicht die Inkompetenz von Politik und Gesellschaftsordnung steht mehr im Rampenlicht, sondern die vermeintliche Verantwortungslosigkeit, Brutalität und Krankheit einzelner Individuen.

Drittens entsteht durch den Zynismus gegenüber dem Menschen ein neuer Moralkodex, den sich Politiker und neue "Experten" unterdessen zunutze machen. Die Gesellschaft wird aufgeteilt in verantwortlichem, gute Bürger, die sich weder Kindesmißbrauch, noch Steuerwidrigkeiten oder sonstige Vergehen zu Schulden kommen lassen und den Rest der Gesellschaft, der moralisch verwerflich ist und den der Staat maßregeln muß. Das geht einher mit der Aushöhlung ihrer Rechte, im Grunde aber der Rechte von uns allen.

Bleibt nur noch anzumerken, daß eine Panik noch niemanden geholfen hat. Es wird Zeit, daß wir uns selbst und anderen etwas mehr zutrauen und damit beginnen, die Prämissen der aktuellen Mißbrauchsdiskussion in Frage zu stellen.


"Es herrscht eine passive Haltung zur Problemlösung. Man kümmert sich gar nicht mehr darum, was man vielleicht selbst machen könnte"

Christine Horn im Gespräch mit der Publizistin Katharina Rutschky

Warum denken Sie, daß die Diskussion über den Mißbrauch eine Panik ist?

Wir haben es hier mit einer klassischen Moralpanik zu tun, weil der Auslöser und das Fundament dieser erregten Debatte über Kindesmißbrauch keine dramatische Verschlechterung der Situation ist. Das heißt, sie ist nicht in der Realität substantiiert. Auch gab es keine spektakulären Enthüllungen. Die Zahlen haben sich bis heute, trotz der Agitation, nicht verändert. Mann kann im Gegenteil, wie einige Historiker es erläutert haben, davon ausgehen, daß Übergriffe sexueller Art generell abnehmen. Die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen sind einfach andere geworden. Auch Kinder werden mehr respektiert als früher.

Sie sprechen vom sexuellen Mißbrauch als Metapher. Was meinen Sie damit?

Ich glaube, das Thema steht für etwas anderes. Es steht für die Sorge darüber, was mit der liberalisierten Sexualität geschehen ist. Die Leute sind damit sozusagen nicht glücklicher geworden. Wir haben in den 60er und 70er Jahren geglaubt, die sexuelle Repression hört auf, und damit nehmen die Neurosen ab. Das ist alles nicht eingetreten. Metaphorisch steht die Debatte über Mißbrauch für vieles andere. So wurden alle möglichen Untergruppen wie Homosexuelle befreit. Heute soll Sexualität zum erfüllten Leben beitragen. In dieser Situation kann die Sexualität nicht mehr in ihrer Bedrohlichkeit, die sie immer hat, sei es zum Glück oder Unglück, thematisiert werden. Sie kann nur noch in einem Bereich thematisiert werden, und der hat mit Gewalt zu tun. Wenn es um Sexualität mit Kindern geht, kann man das Böse thematisieren. Es kann gesellschaftlich plausibel gemacht werden, daß Sexualität böse und gefährlich ist.

Was sind Ihrer Meinung nach die Schäden der Aufdeckungsarbeit, die sie auch sekundäre Schädigung genannt haben?

Wenn man die Protokolle von Beratungsstellen wie Wildwasser liest, sieht man, wie Kinder ausgeforscht werden. Sie werden nicht direkt, sondern indirekt befragt - entsprechend dem Schweigegebot. Weil die Therapeuten den Mißbrauch im Auge haben, verleiten sie die Kinder zum sexuellen Phantasieren. Um es kraß zu sagen: Ein Kind wird zum sexuellen Phantasieren verleitet und die Konsequenz ist, daß es - ein acht- oder neunjähriges Mädchen - aus der Familie genommen wird. Natürlich ist dies ein Extremfall. Wichtig ist, daß eine Verdächtigung der ganzen Beziehungen und der Sexualität des Kindes im engeren Sinn erfolgt - Empfindungen und Wünsche, all das fällt darunter.

Die ganze Kampagne geht gegen vernünftige sexuelle Aufklärung. Sie greift in das Privatleben der Kinder ein, die keine Gelegenheit haben, Aufklärung für sich selbst zu reklamieren. Dafür sind wirklich die verantwortlichen Erwachsenen zuständig. Statt dessen werden unzählige Jugendliche, so muß man leider sagen, im Grunde auf Mißbrauch getrimmt. Dann werden sie zum Beispiel innerhalb der normalen Psychiatrie nicht mehr richtig behandelt.

Im "Handbuch sexueller Mißbrauch", das sie gemeinsam mit Reinhart Wolff herausgegeben haben, zeigen sie auf, daß Kinder letztlich immer die Leidtragenden diese Panik sind? Wie begründen Sie dies?

So viel Kinderhaß und Menschenhaß, wie er mir bei Leuten begegnet ist, die sich mit Mißbrauch beschäftigen, ist mir bisher nicht untergekommen. Auf der einen Seite gibt es die Lobbyisten, die auf einen Job aus sind und nicht arbeitslos sein wollen. Der andere Typ ist vom Typus Tante Elfriede. Die hassen einfach Kinder. Sonst könnten sie so einen Blödsinn nicht machen. Sie übersehen die gesamte Beziehungsproblematik. Da geht es nicht ums Wohl der Kinder, da wird tatsächlich etwas anderes exekutiert.

Ich bin in diesem Sinne wirklich aktiver Kinderschützer. Denn diese Mißbrauchsideologie verhindert, daß Kindern, die Unterstützung brauchen, geholfen wird. Ich habe jetzt die Wirkung von Präventionsmaßnahmen bei einem Jungen aus der Nachbarschaft untersucht. Das Kind bekam eine Angstsymptomatik mit Alpträumen. Er konnte nur noch in der Mitte des Bürgersteigs gehen aus Angst, er könne von einem Fremden ins Auto gezogen und entführt werden.

Das schwierigste Geschäft bei der Pädagogik ist übrigens, daß man nichts tut. Und Aktionismus ist eine der Hauptkrankheiten einer schlechten Pädagogik. Es wird nicht hingenommen, was Kinder von sich aus tun. Es wird nicht gewartet, bis sich herausstellt, was eigentlich los ist. Statt dessen werden Kinder unter Druck gesetzt. Ich denke, ich weiß, was für Kinder besser wäre. Meine Empfehlung wäre zu mehr Ruhe und Passivität und grundsätzlich zu mehr Wegschauen. Eltern und Kinder dürfen sich nicht so sehr von Einzelphänomenen hysterisieren lassen.

Warum sind gerade die von Ihnen sogenannten "reformorientierten progressiven Gruppen" Protagonisten in dieser Debatte?

Mißbrauch ist modern geworden, weil die ganze Gewaltdiskussion mit Frauen nicht funktioniert hat. Die Frauenbewegung wäre längst weg vom Fenster, wenn sie nicht in den siebziger Jahren die Vergewaltigung entdeckt hätten. Aber die gesamte Gesellschaft ist durch den Kindesmißbrauch zu motivieren. Denn die Frauen spielten bei der Vergewaltigungsdiskussion nicht richtig mit, während bei der Sorge um die Kinder sogar die Männer mitspielen. Kinder sind ein kostbares Gut und genießen Schutz. Sie können nicht für sich selbst sprechen und sind auf Stellvertreter angewiesen. So ist es möglich, daß sich die ganze Gesellschaft über die Dunkelziffer aufregt.

Wieso glauben Sie, greifen Politiker dieses Thema so bereitwillig auf?

Die Politiker haben eigentlich sehr wenig zu sagen. Die bewegen immer nur Millimeter. In der Regel sind sie schlecht informiert über das Thema. Sie müssen immer auf das reagieren, was ihnen zugetragen wird und können einer solchen Volksstimmung nichts entgegensetzen. Die Politiker bekommen das Thema serviert und lassen es sich nicht entgehen. Man tut eben etwas für Kinderschutz. Das hört sich immer gut an.

Sie haben unter dem Begriff "Hilfe als Herrschaftsfalle" auf die Gefahren der "öffentlichen Intimität" hingewiesen. Was verstehen Sie darunter?

Die Vorspiegelung, daß die Hilfe einer bestimmten Art in Bürokratien zu haben ist, in Sozialbürokratien. In den Unter- und Mittelschichten wird diese Hoffnung genährt. Da gibt es für alles eine Stelle, die für sie zuständig ist. Nur sie selbst sind nicht für sich zuständig. Es herrscht eine passive Einstellung zur Problemlösung. Man kümmert sich gar nicht mehr darum, was man vielleicht selbst machen könnte. In vielen dieser Mißbrauchsfälle war es so, daß Leute ahnungslos mit irgendwelchen Problemen zu einer Beratungsstelle gegangen sind. Dann ging es plötzlich los, und sie waren ihr Kind los. Das ist das Problem des Wohlfahrtsstaates. Hilfe wird nie gewährt, ohne daß gleichzeitig die Macht und Kontrolle über Individuen erweitert wird. Es ist sozusagen nichts umsonst. Zu denken, dies sei eine verläßlichere, karitativere Arbeit, ist ein Irrtum.

Erstveröffentlichung: NOVO 11/12 1996


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